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Tichys Denkanstoß

Flucht mit dem Smartphone

30.09.2015

Wenn wir von Flüchtlingen reden, dann haben wir häufig die Bilder der Flüchtlingstrecks am Ende des Zweiten Weltkriegs im Kopf oder die deutscher Juden vor Palästina. Aber das Pressefoto des Jahres 2014 (siehe links) zeigt eine neue Wirklichkeit: Flüchtlinge an der Südküste des Mittelmeers halten ihr Handy für besseren Empfang hoch. Heute brauchen Flüchtlinge Nahrung, Wasser – und eine Sim-Card im Smartphone.


Schlepperdienste per Twitter
Das Smartphone wird zur Fluchtursache, zum Fluchthelfer, zum Wegweiser, es dient der Familienzusammenführung. Per Smartphone machen sich die Menschen in Afrika, in Pakistan und Bangladesh ihr Bild von der Welt; hier erfahren sie von den Erfolgsgeschichten derjenigen, die es geschafft haben. Längst bieten Schlepper ihre Dienste per Facebook und Twitter an. Die Bilder lügen oft genug. Doch diese virtuelle Welt entzieht sich dem Zugriff der Polizei – die mag kriminelle Lastwagenfahrer schnappen, die die Flüchtlinge die letzten Kilometer über die Grenze transportieren. Die Hintermänner aber sind unfassbar im eigentlichen Wortsinn. „Medien­plattformen wie Facebook und Twitter werden genutzt, um Informationen zu verbreiten, wie man illegal in die EU einreisen kann und welche Zugänge gerade offen sind“, stellt die europäische Grenzkontrollbehörde Frontex fest.


Und mit diesen Plattformen reagieren die Flüchtenden schnell auf Veränderungen. Dass Dänemark seine Sozialleistungen für Flüchtlinge im Sommer halbiert hat, teilt sich in Minuten mit. Dass das „Taschen­geld“ für Flüchtlinge in Ungarn Null Euro beträgt, in Österreich 50 Euro und in Deutschland 153 – diese Information ist für Flüchtlinge bei der Wahl ihres Fluchtziels entscheidend. Die Bereitschaft der Bundes-regierung, Flüchtlinge mit offenen Armen zu empfangen, hat zu dem großen Ansturm auf Ungarn und dann weiter via Österreich nach Deutschland geführt. Die Not vieler Flüchtlinge hat sich nicht geändert; aber auch nicht ihr Wille, sich und ihren Angehörigen ein besseres Leben zu verschaffen.


„Gebt mir eure Müden, eure Armen, Eure geknechteten Massen, die frei zu
atmen begehren ...“ Diese Zeilen stehen am Fuß der New Yorker Freiheitsstatue, deren Fackel die Einwanderer in den USA als erstes Zeichen wahrnehmen konnten. Geändert hat sich nicht die Not, aber die technischen Mittel, mit der sie überwunden werden soll. Naiv sind eher deutsche Politiker, die nicht begriffen haben, wie virtuelle Medien funktionieren: Innenpolitisch gedachte Erklärungen verbreiten sich in Minuten zu den Flüchtenden, verändert deren Reiserouten und Ziel.


Immer schon gab es Kettenwanderungen – Wagemutige reisten voraus; zogen später ihre Familie und Bekannten nach. Die Suche nach Nähe und Vertrautem in der Fremde hat sich nicht verändert – nur beschleunigt. Der WLAN-Hotspot gehört zur Ausrüstung eines Aufnahmelagers.


Werner Sombart, der große deutsche Ökonom, sprach schon um 1900 davon, dass Flüchtlinge oft genug die Tüchtigsten, die Wagemutigsten, die Energischsten, auch die Berechnendsten seien. Daran hat sich nichts geändert. Allerdings hat das Smartphone die Geschwindigkeit ungeheuer beschleunigt, mit der sich Entscheidungsfindung und Reiseplanung vollziehen. Und Europa? Reagiert oft mit Zäunen statt zu erkennen, dass die Gedanken nicht nur frei, sondern in der virtuellen Welt auch sofort und überall verfügbar sind.