Titelthema
„Ich bete, dass sie zurückkehrt“
Doch manche Gebete bleiben ungehört. Denn inzwischen ist klar: Auch sie kommt nicht zurück – Inbar Haiman (27), enführt von der Hamas, direkt beim Musikfestival, das am 7. Oktober nahe des Gazastreifen stattfand. Wie die junge Frau in Erinnerung bleibt
Die großen dunklen Augen voller Trauer, sitzt Noam Alon auf einer gelben Ledercouch. Er trägt ein pinkfarbenes T-Shirt, auf dem steht: „Free Pink“. Pink ist der Künstlername seiner Freundin Inbar Haiman. „Inbar ist eine extrem begabte Künstlerin“, sagt der 24-Jährige. „Sie hat Graffiti gesprüht – tolle Graffiti, die ihr ganzes Talent zeigen.“
Mit dem T-Shirt will Noam auf das Schicksal seiner Freundin aufmerksam machen. Haiman hatte das Supernova-Musikfestival besucht, ein Friedensfestival von „Freunden, Liebe und unendlicher Freiheit“ in der Nähe des Kibbuz Reim, rund fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Es ist zehn Uhr morgens am Samstag, dem 7. Oktober, als ein Freund aus Tel Aviv Alon aus dem Schlaf reißt.
Fans von Maccabi Haifa
Während es in Haifa, wo das Paar lebt, ruhig ist, gibt es in Tel Aviv seit Stunden Raketenalarm. „Irgendetwas ist auf dem Festival passiert“, sagt der Freund. Panisch greift Alon zum Telefon und versucht seine Freundin anzurufen, schickt ihr Textnachrichten. Tags zuvor hatten sie sich noch geschrieben. „Ich vermisse dich“, schrieb er. Und sie: „Ich liebe dich.“ Doch jetzt: nichts.
Die Familie veröffentlicht auf sozialen Medien einen Hilferuf mit einem Foto, das Inbar einer Freundin geschickt hatte, kurz bevor sie zum Festival fuhr. Am Sonntag erhält die Familie von mehreren Leuten ein kurzes Video. Das 38 Sekunden lange Horrorvideo zeigt, wie vier Hamas-Kämpfer die 27-Jährige über den Boden schleifen, sie auf ein Motorrad setzen und davonfahren. „Es ist brutal. Sie blutet im Gesicht. Immerhin wissen wir jetzt, dass sie am Leben ist.“ Seitdem hofft Noam verzweifelt auf ein weiteres Lebenszeichen seiner Freundin. „Ich vermisse sie so sehr.“
Kennengerlernt haben sich Noam und Inbar an der Universität von Haifa, an der sie beide Kommunikationsdesign studieren. Es war vor zwei Jahren, gegen Ende der Coronapandemie. „Ich hatte kein Smartphone, und Inbar half mir mit den vielen Whatsapp-Gruppen, die es jetzt gab“, sagt Noam. „Das ist einer ihrer Charakterzüge: Sie ist so unglaublich hilfsbereit. Sie denkt immer zuerst an andere. Sie ist ein fantastisches Mädchen.“
Die beiden werden gute Freunde, nach ein paar Monaten ein Paar und ziehen zusammen. Von da an sind sie unzertrennlich. Beide sind große Fans des Fußballclubs Maccabi Haifa. Die Ultras des Erstligisten verbindet eine enge Freundschaft mit den Ultras von Werder Bremen. Dass die Fans des Bundesligisten in Stadien und auf sozialen Medien auf das Schicksal von Inbar aufmerksam machen, freut Noam ungemein. Für einen kurzen Augenblick huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Aber seinen Schmerz lindert es nicht. „Ich frage mich die ganze Zeit, wie es ihr jetzt wohl geht. Ob sie zu essen hat. Wie sie behandelt wird, wie es ihr psychisch geht. Ich hoffe und bete, dass sie am Leben ist.“
Gemeinsame Pläne
Nicht zu wissen, wie es seiner Freundin geht, macht Noam schier wahnsinnig. „Wir haben alles zusammen gemacht: gemeinsam studiert, Abenteuer unternommen, Graffiti gesprüht, gemeinsam gechillt, Reisen unternommen.“ Erst am Mittwoch, zwei Tage vor dem Festival, kamen die beiden von einem Campingurlaub zurück. „Am Sonntag wollten wir gemeinsam für eine Woche auf den Sinai in Ägypten reisen.“
Stattdessen redet er jetzt mit Journalisten, in der Hoffnung, dass öffentlicher Druck hilft, Inbar freizubekommen. „Inbar ist die Liebe meines Lebens. Die letzten eineinhalb Jahre mit ihr waren die beste Zeit in meinem Leben. Wir haben noch so viele Pläne für die Zukunft. Wir wollen eine Familie gründen, gemeinsam durch die Welt reisen. Ich bete jeden Tag dafür, dass sie wieder heil zu mir zurückkehrt.“
Inga Rogg