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Armut in Deutschland

Im Kampf gegen die Armut

Armut in Deutschland - Im Kampf gegen die Armut
Der Statistik zufolge gelten 15,4 Prozent der Menschen in Deutschland als arm. © Fotos: Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images, Ulrich Baumgarten/Getty Images

Armut ist ein drängendes Problem – auch im reichen Deutschland. Eine Skandalisierung hilft allerdings nicht
weiter. Notwendig sind andere Aktionen.

Georg Cremer01.12.2016

In einem reichen Land wie Deutschland ist es richtig, Armut und Armuts­risiko in Relation zum Lebensniveau der brei­ten Mitte zu erfassen. Der Vergleich mit der Dritten Welt führt in die Irre. Arm ist jeder, so die Definition des Europäischen Rates, der über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügt, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die in dem Land, in dem er lebt, als Minimum annehmbar ist.

Dies wird versucht, mit der Armuts­risi­koquote statistisch zu erfassen. 15,4 Prozent der Menschen in Deutschland sind arm, sagt die Statistik. Gemeint ist die rela­tive Einkommensarmut; die Statistik erfasst alle, deren Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Ein Alleinstehender ist in diesem Sinne arm, wenn er nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben weniger als 917 Euro pro Monat hat, eine Familie mit zwei Kin­dern unter 14 Jahren, wenn sie über weniger als 1925 Euro verfügt.

Die Unterscheidung zwischen Armut und Armutsrisiko ist wichtig. So werden auch Studierende und Auszubildende erfasst, die in der eigenen Wohnung leben und weniger als 917 Euro haben. Daher ist der Anteil der so berechneten Armen unter den 18- bis 24-­Jährigen am höchsten. Kein Wunder, viele junge Erwachsene sind noch in der Ausbildung. Sie haben vorübergehend we­nig Geld, aber nicht wirklich ein Problem.

Kindergeld differenzieren
Wer aber über viele Jahre mit einem ­Einkommen unterhalb der 60-Prozent-­Schwel­le auskommen muss, kann an vie­lem nicht teilhaben, was in unserer Gesellschaft normal ist. Besonders hoch ist die Armutsrisikoquote bei kinderreichen Familien. Dagegen könnte ein stärker nach Kinderzahl differenziertes Kindergeld helfen. Ein hohes Risiko haben zudem Arbeitslose, Alleinerziehende und gering Qualifizierte. Wer keinen Berufsabschluss hat, der hat ein sehr hohes Risiko, arbeitslos zu sein. Wer arbeitslos ist, lebt häufig im Armutsrisiko. Wer immer wieder in sei­nem Berufsleben arbeitslos ist, wird auch im Alter arm sein. Das zeigt, wo wir handeln müssen. Bildung für alle und Arbeit sind die beste Armuts­prävention. Das gilt auch für die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind.

Die Armutsrisikoquote ist ein Maß der Verteilung mit dem Fokus auf die unteren Einkommensgruppen. Es zeigt, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland zwischen 1998 und 2005 deutlich zugenommen hat.

Wichtigster Grund hierfür ist ein deutlicher Anstieg der Spreizung der Einkommen aus Arbeit. Die Wiedervereinigung war Teil einer historischen Zäsur; durch die plötzliche Öffnung der Volkswirtschaften Osteuropas wurden die Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland unter einen starken Wettbewerbsdruck gesetzt. In dieser Zäsur akzeptierten Gewerkschaften und Betriebsräte Zugeständnisse, um Arbeitsplätze zu sichern. Dies verbesserte deutlich die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und schaffte damit die Grundlage für die beschäftigungspolitischen Erfolge der Hartz-Reformen. Erkauft wurde dies durch sinkende Löhne am unteren Ende der Lohn­verteilung. Nach 2005 ist die Situation wie­der vergleichsweise stabil. Entgegen einer weit verbreiteten Wahrnehmung geht die Schere nicht immer weiter auseinander. Nur: Weil etwas nicht schlimmer wird, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht handeln müssen.

Hartz IV erhöhen
Die Grundsicherung soll Armut bekämpfen. Um hierbei wirksam zu sein, muss die Sicherung fair berechnet sein. Das hierbei angewandte Verfahren ist grundsätzlich geeignet, es sollten aber Inkonsistenzen und einige politisch motivierte Eingriffe in die Berechnung korrigiert werden. Der Regelbedarf eines Alleinstehenden würde dann laut Caritas um etwa 60 Euro steigen. Das führte nicht zu einem völlig anderen Sicherungsniveau, würde aber Grundsicherungsempfängern mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung geben.

Was wäre aber, wenn die Politik dem Vorschlag der Caritas und anderer Wohlfahrtsverbände folgte und Hartz IV und die Grundsicherung im Alter deutlich erhöhte? Zwangsläufig nähme dann die Zahl der Empfänger zu. Denn mehr Beschäftigte mit niedrigen Löhnen erhielten ergänzendes Arbeitslosengeld II, mehr Bezieher niedriger Renten bekämen eine ergänzende Grundsicherung.

Die Zahl stiege nicht, weil die sozialen Verhältnisse schlechter würden, sondern weil unser Hilfesystem besser würde. Dennoch wäre eine erneute Empörungswelle zu erwarten: „Noch mehr Menschen abhän­gig von Hartz IV, noch mehr Altersarmut!“ Wer aber die Hilfen des Sozialstaats in dieser Weise diskreditiert, hilft den Armen nicht.

So wichtig ein leistungsfähiges Grundsicherungssystem ist, Armutsbekämpfung darf sich darin nicht erschöpfen.

Das Bildungssystem könnte deutlich mehr leisten, damit Armut nicht vererbt wird. Regio­nal große Unterschiede bei der Leistungs­fähig­keit des Schulsystems zeigen, dass hier Handlungsoptionen für die Verantwortli­chen vor Ort bestehen. Warum scheitert in manchen Kreisen jedes zehnte Kind in der Schule, in anderen nur jedes fünfzigste? Wie die Erfahrungen nach dem PISA-­Schock zeigen, sind deutliche Qualitätsverbesserungen erreichbar. Wir müssen uns nicht damit abfinden, dass ein Fünftel der Jugend­lichen die Schule mit nur sehr geringer Lesekompetenz verlässt. Dies ist ein Treibsatz für Armut und sozialen Ausschluss.

Erfolgreiche Armutsbekämpfung erfor­dert einen präventiv ausgerichteten Sozial­staat. Aber das an sich gut ausgebaute Hilfenetz des Sozialstaats ist ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen und die Befähigung der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet. Gegenüber Menschen aus prekären Milieus verhindern aufgesplitterte Zuständigkeiten die Hilfe aus einer Hand. Hemmend wirken auch Konflikte um die Kostenverteilung zwischen den po­li­tischen Ebenen. Sie können neue An­sätze der Hilfe auch dann verhindern, wenn alle von ihrer Wirksamkeit überzeugt und ihre direkten Mehrkosten gering sind (sie mittelfristig sogar zu Einsparungen führten könnten). Hier Hemmnisse abzubauen, sollte auf der Agenda für die nächste Legis­laturperiode des Bundestages stehen.

Engagement der Zivilgesellschaft
Nicht nur die Politik ist gefordert. Ob eine befähigende Sozialpolitik gelingt, hängt wesentlich davon ab, wie wirksam Menschen dabei unterstützt werden, ihre Po­tenziale zu entfalten. Viele Bürgerinnen und Bürger engagieren sich in Patenschafts­projekten. Sie schenken Zeit, stiften vertrauensvolle Beziehungen, eröffnen infor­melle Lernchancen und helfen Kindern und Jugendlichen aus prekären Milieus.

Es gibt bereits fundierte Forschungen zu den Wirkungen dieses Engagements, die zeigen, dass eine achtsame Zivilgesellschaft helfen kann, dass der Zufall der Geburt auf die Lebenschancen nicht so prägend wirkt wie heute. Auch das ist Teil einer Politik gegen die Armut.

Georg Cremer
Prof. Dr. Georg Cremer ist seit 2000 Generalsekretär der deutschen Caritas. Diskussionen löste der Volkswirt mit seinem ­jüngsten Buch aus, das im Verlag C. H. Beck erschienen ist: „Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?“ caritas.de