Leopold Kohrs menschliches Mass und das "Autobahnnebel"-Syndrom
Klein ist wundervoll
Wer die 2008 ausgebrochene Finanzkrise als Soll-Bruchstelle der Globalisierung deutet und nicht an ein „too big to fail“ glauben kann, der wird Leopold Kohr gern als seinen Guru anerkennen. Tatsächlich hat der 1909 im Salzburgischen geborene Philosoph, der 1983 für die Begründung der „Small is beautiful“-Bewegung den Alternativen Nobelpreis erhielt, ein Weltbild entwickelt, das auch drei Generationen später volle Geltung beanspruchen kann.
Drei einfache Wahrheiten
Stets glasklar und mit fröhlichem Humor argumentierend, dreht sich bei diesem Wiederentdecker des „menschlichen Maßes“ alles um drei einfache Wahrheiten:
1. „Jeder einzelne Mensch ist jederzeit für Überraschungen gut.“
2. „Wenn etwas größer wird, wird es gleichzeitig um ein Vielfaches komplizierter.“
3. „Wenn etwas zu kompliziert geworden ist, werden die Überraschungen böse sein.“
Die Überraschungsfähigkeit des Menschen ist für Kohr der Urgrund seiner Individualität und Würde, aber auch Sicherung gegen Manipulationen und Grundlage der Demokratie. Das ist ein optimistisches Menschenbild, doch stimmt es nur unter strengen Voraussetzungen: sei es, dass man gut beraten ist, seine hohe Fehler-Anfälligkeit im freien Meinungsaustausch mit Freunden einzudämmen (am besten in den von Kohr so geliebten „akademischen Wirtshäusern“); oder dass man Rahmenbedingungen für ein kleines und überschaubares Umfeld schafft, das dem Menschen ein längeres Verstecken in bequemer Anonymität verwehrt. Denn nur dort ist dieses Verstecken möglich – der Einzelne muss aber gefordert werden.
Umgekehrt „schenkt“ der Massenstaat dem Einzelnen zwar berauschende Emotionen und ein (kurzes) Gefühl der Geborgenheit; die fehlenden Kontrollmöglichkeiten führen aber langfristig zu hohen Kosten und schließlich zum Untergang. So sieht Kohr ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Extremen: Anzustreben, aber unerreichbar, ist das Ideal eines „romantischen Anarchismus“, der den Einzelnen frei von Gewalt und Hierarchien lässt. Das andere Extrem ist der absolute Tiefpunkt totaler Fremdbestimmung, wo der anonyme Mensch voll berechenbar geworden ist.
Kohrs Warnung vor überkomplizierter Größe ist Kern seiner Gesellschaftstheorie. Sie folgt der Naturbeobachtung, wonach Größenwachstum zwar grundsätzlich von Vorteil ist, jedoch die im Vergleich zum Größenwachstum stark überproportional steigenden Koordinierungskosten ab einem kritischen Punkt insgesamt zur Belastung werden, was dann – wie bei der Zelle – spontan zur Teilung und Bildung neuer Organismen führt. Kohr fordert daher auch von der Politik, zu groß gewordene Staaten und sonstige soziale Einheiten in mehrere Einheiten subkritischer Größe aufzuteilen. Wo dieser kritische Punkt liegt, hängt hauptsächlich vom Zweck der Gemeinschaft ab, dann auch von der Qualität ihrer Organisation, der Siedlungsdichte sowie der wirtschaftlichen Umlaufgeschwindigkeit (ähnlich der Inflationstheorie wirkt Geschwindigkeit wie zusätzliche Masse).
Das politische Ideal
Die „bösen Überraschungen“ bei „zu groß“, „zu kompliziert“ und letztlich unüberschaubar gewordenen Einheiten schließen den Kreis um Kohrs Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft. Sie sind „böse“, weil die Folgen überzogener Größe meist an unerwarteter Stelle auftreten und nicht bei bewusst kalkulierten Risiken. Dies trifft auch dort zu, wo man komplexe Dinge mit der Hilfe von Abstraktionen auf „das Wesentliche“ reduziert und diese Abstraktionen dann auf andere, meist größere Umfelder projiziert – typischerweise mit Hilfe von Ideologien oder den Werten „großer Ideen“. Kohr meinte dazu, dass das Paracelsus-Wort „Jede Arznei ist Gift – entscheidend ist nur die Dosis“ auch für diese „großen Ideen“ gelte; so haben etwa die aus Nation oder Klasse, Markt oder Natur abgeleiteten Werte zunächst hohe Erklärungskraft, würden aber bei „maßloser“ Anwendung gleichfalls für böse Überraschungen sorgen.
Kohrs politischem Ideal am nächsten kam der Kosmos von Stadtstaaten, wie er im antiken Griechenland, im mittelalterlichen Oberitalien oder in der deutschen Kleinstaaterei des Heiligen Römischen Reichs bestand. Dort blühten Kultur und Bürgersinn, weil alles überschaubar war und man weniger Geld in militärische Machterhaltung stecken musste (weil fehlende Macht auch weniger Misstrauen erzeugt, ein Kohr besonders am Herzen liegender Aspekt). So lobte er immer wieder Liechtenstein und die Schweizer Kantonalverfassung. Für die Zukunft suchte er im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip eine deutliche Stärkung der historischen (kleinen) Regionen Europas und die zumindest faktische Entmachtung der großen Nationalstaaten.
Aus dem gleichen Grund stand Kohr der europäischen Integration skeptisch gegenüber, fürchtete er doch neben überbordendem Bürokratismus einen ständigen Kampf der Großen auf dem Rücken der Kleinen. Vermutlich hätte er seine Meinung geändert, hätte er gesehen, wie die erfolgreiche Verbindung von Erweiterung und Vertiefung diesem Kampf die Spitze genommen und überdies zu einer Dynamik des offenen Prozesses geführt hat, in dem praktisch nicht mehr gelogen werden kann. Die Folge ist ein Maß an Ethik in den europäischen Beschlüssen, wie es die Welt noch nie gesehen hat.
Wie auch immer, im Rückblick auf die letzten Jahre sehen wir, wie die „große Gier“ des globalisierten Neo-Liberalismus gegen alles verstoßen hat, was Kohr mit menschlichem Maß gemeint hatte. Im Zuge der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise wurde auch klar, wie zum einen alles mit allem zusammenhängt, zum anderen aber die notwendige Überschaubarkeit abhandengekommen ist, mit der Zusammenhänge erkannt und einigermaßen beherrscht werden sollten.
Kohr heute
Einen Schlüssel zum Verständnis des globalisierten Zeitgeistes könnte da mein „Autobahnnebel-Syndrom“ bieten: Wer auf der Autobahn rascher in die Nebelwand fährt, als es der Hausverstand und die Polizei erlauben, tut dies in der Annahme, dass die für unbedenklich gehaltenen Verhältnisse der überschaubaren Fahrbahn auch hinter der Nebelwand gelten. Auch die 2008 ausgebrochene Finanzkrise ist aus diesem Syndrom entstanden: Jeder einzelne Schritt des Umgangs mit US-Hypotheken war für sich vernünftig, insgesamt blieb jedoch das ganzheitliche Umfeld unberücksichtigt. Vernunft braucht ganzheitlichen Flankenschutz, um vernünftig zu bleiben!
Ganz allgemein liegen also Gefahren dort, wo „vernünftige Planung“ nicht die Risiken erkennen kann, die außerhalb bewusster Aufmerksamkeit liegen. Solche Risiken können wir aus Gründen unserer biologischen Evolution nur mit „unvernünftiger“ Hilfe erkennen: und zwar zunächst mit Mitteln instinktmäßiger Informationsauswertung, die uns spontan „alles Bemerkenswerte“ meldet, später dann auch aus „irrationalen“ Quellen wie Religion, Harmoniestreben und beständige Tradition. Diese Hilfsmittel vernünftiger Erkenntnis abgebaut zu haben, ist heute nicht nur der ganze Stolz einer angeblich aufgeklärten Welt, es bringt uns auch in eine böse Scherenentwicklung: Neigen wir doch durch Globalisierung und neue Technik zu immer größeren, gewichtigeren und „rein vernunftmäßigen“ Projektionen rund um den Erdball.
Nun gelingt wie bei Fahrten im Nebel ja auch in der Globalisierung so manches – sei es der grenzenlose Informationsaustausch, die universelle Geltung der Menschenrechte oder das neue Bewusstsein globaler Wirkungszusammenhänge, wie wir es etwa für die Klimapolitik benötigen. Aber weil die Globalisierung sowohl ein Vernunft-Projekt als auch eine „große Idee“ ist, lauern überall Kohrs „böse Überraschungen“; Nassim Nicholas Teleb zeigt in seinem Buch „Der schwarze Schwan“ besonders plastisch, wie oft gerade solche Risiken schlagend werden, die wir für extrem unwahrscheinlich halten und beiseite schieben. Daher sollten wir uns außerhalb des überschaubaren Umfelds nur sehr, sehr vorsichtig bewegen und genau prüfen, wem die Beweislast für Unbedenklichkeit weiterer „Nebelfahrten“ zukommt. Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels ist heute mit Händen zu greifen. Auf den verschiedensten Sachgebieten – von der Religion über Sicherheitspolitik, Energiefragen und Demokratie-Krise bis hin zur Geldwirtschaft – weisen einige Trends tatsächlich auf einen Paradigmenwechsel „in Richtung Kohr“ hin, insbesondere in Richtung Überschaubarkeit. Keiner dieser Trends hat sich heute bereits voll durchgesetzt, doch sind sie bisher unabhängig voneinander entstanden und gelaufen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis diese Trends politisch verknüpft werden und eine neue Dynamik des Regionalismus entfalten. Besondere Hoffnungen setze ich dabei in das Internet mit seinen sozialen Medien wie Facebook u.ä. Hier werden neue Vernetzungen geschaffen, die eine ähnlich ganzheitliche Qualität besitzen wie die von Kohr so gerühmten Dorfkulturen und Kleinstaaten. Die Tragweite dieser Entwicklung ist heute noch völlig offen, doch scheint sie neben der untergehenden Welt großer (und zusehends impotenter) Nationalstaaten sowie der Utopie eines Kosmos von Kleinstaaten auch andere Modelle im Talon zu haben, die dem Erfordernis der Überschaubarkeit besser entsprechen.
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