Corona-Diskussion
"Lieber Freund..."
An manchen Themen entzünden sich hitzige Diskussionen — in diesen Tagen häufig an aktuellen Ereignissen. Ein Ulmer Rotarier nutzte die Gelegenheit, einen offenen Brief zu schreiben. Sein Thema: die Corona-Spaziergänge
Lieber Freund,
Ich schreibe dir hier, weil du mir als Freund und als Mensch wichtig bist und ich dich sehr schätze. Doch bei unserem letzten Treffen hast du mich regelrecht geschockt, als du mir sagtest, dass du jetzt auch zu den “Spaziergängern” gehörst. Dazu hast du kurz eine Faust gemacht und mir mit dieser Geste gezeigt, dass du dich im Recht fühlst und für eine gerechte Sache stehst. Ich wusste ja vorher schon, dass du gegen einige Corona-Maßnahmen unserer Regierung sehr kritisch eingestellt bist, aber das ist jetzt schon eine neue Stufe, die für mich auch nicht nachvollziehbar oder gar akzeptabel ist. Du sprachst von willkürlichen Maßnahmen ohne Grund und Recht. Genau das Gegenteil ist der Fall — aus meiner Sicht. Wir haben eine repräsentative Demokratie. Dazu wählen wir politisch engagierte Menschen aus, die uns Bürgerinnen und Bürger in demokratischen Gremien vertreten und das ist in erster Linie die jeweils gewählte Regierung. Diese Regierung kann jedoch nicht willkürlich handeln, sondern muss sich an die Gewaltenteilung halten und sich auch vor Kontrollgremien rechtfertigen.
Dennoch muss diese Regierung viele Regeln festlegen und die Menschen — nach bestem Wissen und Gewissen — schützen. Um bestes Wissen zu erlangen, beraten die besten Experten aus Medizin, Wissenschaft und Recht diese Regierung, gerade bei einem so komplexen und sehr gefährlichen bis tödlichen Fall wie dem Corona-Virus. Natürlich müssen alle diese Menschen nicht Recht haben, aber wir haben uns als Demokraten zu diesem Vorgehen entschlossen. Du sprachst bei der nun diskutierten Impfpflicht für alle Erwachsenen von reiner Willkür mit dem Argument, dass trotz zweifacher Impfung und anschließendem Booster die Menschen an dem Corona-Virus erkranken können. Ja, das ist sicher richtig, die Impfung schützt den Einzelnen nicht absolut. Aber es geht um den Schutz der Gemeinschaft. Und da sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehrheitlich einig, dass mit einer Impfung viel weniger Menschen erkranken und die Krankheitsverläufe viel seltener schwerwiegend oder tödlich enden. Auch sind die noch völlig unerforschten negativen Langzeitfolgen unter dem Stichwort Long-Covid viel seltener. Natürlich gibt es auch schwerwiegende Impfschäden bei sehr wenigen einzelnen Personen. Aber gerade bei der Corona-Impfung, die Milliarden Menschen inzwischen erhalten haben, ist belegt, dass diese Einzelfälle in keiner Relation stehen, zum Nutzen für die gesamte Gemeinschaft. Auch der angelegte Sicherheitsgurt im Auto kann im Einzelfall eine größere Verletzung verursachen, als wenn jemand ohne angelegten Gurt verunglückt. Aber dennoch käme niemand auf die Idee, den Sicherheitsgurt wegzulassen. Gleiches gilt für den Fahrrad- oder Motorradhelm oder viele andere Beispiele. Mir persönlich genügen diese Beispiele, die Statistik und die Mehrheitsmeinung der Wissenschaft. Ich glaube auch, dass diese Argumente von den Impfgegnern prinzipiell akzeptiert werden können. Dennoch akzeptiere ich auch deren Argument, dass dieses Restrisiko für den Einzelnen bleibt und es letztlich ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ist.
Jetzt gilt es zu klären, ob der Staat bei dieser Lage dermaßen in die Rechte Einzelner eingreifen darf, um die Mehrheit zu schützen und und vor allem die Personengruppen, die besonders gefährdet sind für tödliche Verläufe und Long-Covid. Das sind natürlich die Älteren und die Menschen mit Vorerkrankungen, die oftmals ihnen selbst noch gar nicht bekannt sind. Das heißt, jeder könnte betroffen sein. Für mich sind die Maßnahmen auch nicht immer inhaltlich völlig konsequent und schlüssig, aber das kann ich von einer Demokratie auch nicht erwarten. Es ist immer ein Ringen um Kompromisse und es müssen immer auch alle Meinungen irgendwie einfließen. Dabei können wir jedoch keinesfalls von Willkür wie in einem autoritär regierten Staat sprechen. Das Tempo 30 in Wohngebieten soll die Menschen schützen. Das ist gut, aber warum Tempo 30 und nicht 25 oder 33 oder jede andere Geschwindigkeit, die als langsam wahrgenommen wird. Ist das Willkür? Sicher nicht, sondern eben ein vernünftiger Kompromiss, der den aktuellen Stand der Verkehrsforschung und der Unfallstatistik mit berücksichtigt.
In jedem Fall bin ich für eine durchgängige Impfpflicht und hoffe, dass sich ein politischer Kompromiss dazu schnell findet. Diese Impfpflicht hilft, damit weniger Menschen krank werden. Somit werden die Krankenhäuser nicht dauernd besetzt sein mit Covid-Patienten. Jede und jeder von uns kennt doch inzwischen Menschen, die nach einem Unfall, Herzinfarkt oder Schlaganfall nicht die richtige und schnelle Behandlung bekommen haben. Beispielsweise hatten beide Eltern einer Kollegin dieses Schicksal erlitten und sind letztlich daran gestorben. Zudem hilft eine Impfpflicht, weitere Lockdowns in der Wirtschaft zu vermeiden. Denn diese Lockdowns dienen ja auch nur dazu, die Zahl der erkrankten Menschen zu reduzieren. Aber Hallo: Wirtschaft sind wir alle! Wir schädigen uns enorm selbst, schwächen unsere Unternehmen, müssen Menschen in die Kurzarbeit oder die Arbeitslosigkeit senden und nehmen unseren Kindern die Bildungschancen durch Schulschließungen. Allein die Chance, diese Maßnahmen durch eine generelle Impfung aller Erwachsenen zu reduzieren, rechtfertigt für mich eine Impfpflicht. Aber nochmals, ich drücke meine Meinung durch eine Wahl von Repräsentantinnen und Repräsentanten aus, die dann die Pflicht und das Recht haben, nach bestem Wissen und Gewissen, diese Entscheidungen zu treffen, die ich in einer Demokratie dann auch zu akzeptieren habe, genauso wie das Tempo 30 in Wohngebieten.
Ich kann meine Meinung auch ausdrücken in Demonstrationen, die aber als solche angemeldet sind — als Teil einer demokratischen Meinungsbildung. Massenspaziergänge im Dunkeln, am besten noch mit Fackeln, erinnern mich an die Bilder aus den Geschichtsbüchern meiner Schulzeit. Das macht mir Angst und das ist nicht Teil einer Demokratie.
Daher meine Bitte an Dich lieber Freund: Bitte, bitte bringe deine sachkundige Meinung in den demokratischen Entscheidungsprozess ein, engagiere dich und kämpfe für deine Meinung. Aber bitte innerhalb unserer demokratischen Regeln! Bitte lass Deutschland nicht zu einem Land werden, in dem die Macht eines Einzelnen alles bestimmt. Es gibt leider genügend Länder in der Welt, die genau auf diesem Weg sind. Ich möchte nicht, dass Deutschland dazu gehört.
Dein Freund
Ralph Beranek
RC Ulm