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Lob der Weltoffenheit

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Blick auf die Ostsee auf Rügen (Gemälde von Carl Gustav Carus, Öl auf Leinwand 1819) © bpk/staatliche kunstsammlungen dresden/elke estel

Die Beziehung von Europa und den Europäern zum Meer zeigt, dass es unserem Kontinent immer dann gut ging, wenn er der Welt zugewandt war

01.07.2018

Auf der Suche nach alternativen Zugangsmöglichkeiten zur europäischen Geschichte bietet sich das Meer als ein bis dahin von den Geschichtswissenschaften geradezu sträflich vernachlässigter Raum an. Schließlich sind etwa 70 Prozent der Erde von Wasser bedeckt, 80 Prozent der Weltbevölkerung lebt an oder in der Nähe von Meeren (bei steigender Tendenz), und zirka 90 Prozent des Welthandels wird über See transportiert.

Bezogen auf das Verhältnis von über 110.000 Kilometern Küstenlänge zu einer Grundfläche von rund 10,5 Millionen Quadratkilometern ist Europa der maritimste aller Kontinente. Europa wurde in der Antike vom Meer her erschlossen, als Seefahrer und Kaufleute vom Mittelmeer durch die Säulen des Herakles in den Atlantik fuhren und von dort aus weiter in Richtung Norden segelten.

Das Meer trennt Europa vom Rest der Welt und verbindet es zugleich mit ihm. Es nimmt gewissermaßen die Rolle eines Bindeglieds zwischen Europa und der Welt ein, denn von Europa aus wurde die Welt von See her erschlossen, zum anderen wurden die in Übersee gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen über See nach Europa transportiert, um hier wiederum wirksam zu werden und die „alte Welt“ und ihre Bewohner selber zu verändern.

Häfen als globale Knotenpunkte
Das Meer als Tertium comparationis zwischen Europa und der Welt ermöglicht es, neue Perspektiven aufzuzeigen und daraus neue Fragestellungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf die Bedeutung von Hafenstädten und Häfen verwiesen, und zwar wiederum im europäischen Vergleich. Hafenstädte waren und sind die Knotenpunkte in einem Netzwerk, das Europa und die Welt miteinander verbindet.

Sie waren und sind nicht nur Umschlagplätze von Menschen und Gütern, sondern auch Zentren maritimen Wissens. Hafenstädte sind die Orte, in denen Informationen aus dem Hinterland gesammelt wurden, wo man sie diskutierte, gegebenenfalls modifizierte oder sogar transformierte, bevor diese dann in alle Teile der Welt weiterverbreitet wurden. Umgekehrt trafen Informationen aus Übersee zunächst in den europäischen Hafenstädten ein, wo sie ausgewertet werden konnten, bevor sie ins Hinterland weitergeleitet wurden. Sie konnten daher insbesondere in Hafenstädten ihre erste Wirkung entfalten.

Und auch wenn deren Bedeutung als Schnittpunkte globaler Kommunikationslinien durch die Einführung moderner Kommunikationstechniken zurückgegangen ist, treffen Import- und Exportgüter weiterhin in Hafenstädten direkt aufeinander. Die typisch hafenstädtische Infra- und Sozialstruktur, die sich im Zuge der Entwicklung der europäischen Moderne herausgebildet hatte, bietet nach wie vor den am besten geeigneten Rahmen für den Umschlag dieser Güter und profitiert so weiterhin erheblich von dieser Rolle.

Schon von ihrer Funktion her müssen Hafenstädte weltoffen angelegt sein. Diese Weltoffenheit spiegelt sich auch im Verhalten der hafenstädtischen Bevölkerung. Deren Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und dieses in vorhandene Strukturen, Denk- und Verhaltensmuster zu integrieren, ist in der Regel ausgeprägter als im Hinterland. Nicht von ungefähr haben sich zuvörderst Hafenstädte in der Geschichte immer wieder als Keimzellen intellektueller und kultureller Avantgarden erwiesen.

Hafenstädte sind Orte des Handels, der Kommunikation, des Wissenstransfers, des Kulturaustauschs, aber auch der politischen und ökonomischen Macht. An ihrem Beispiel lassen sich so kurz-, mittel- und langfristige Entwicklungsprozesse und räumliche wie sachliche Zusammenhänge herausarbeiten, die zugleich der Bedeutung des Maritimen angemessen Rechnung tragen.

Importe, die Europa veränderten
Hafenstädte sind die Orte, wo Importe aus Übersee erstmals in Europa eintrafen. Hier begann der Siegeszug der außereuropäischen Dinge, die Europa so nachhaltig verändern sollten. So sorgte der Import von Nutzpflanzen in Europa nicht nur für neue Ernährungs- und Konsumgewohnheiten, sondern auch für eine nachhaltig veränderte europäische Kulturlandschaft insgesamt.

Ich denke hier zum Beispiel an die verschiedenen Formen des Orientalismus als Modeerscheinung, an die Entwicklung der europäischen Tee- oder Kaffeehauskultur oder an die mit dem Tabakkonsum verbundenen kulturgeschichtlichen Folgen, von der Einführung entsprechender Salons über die Erfindung der „Zigarettenlänge“ als neuer Zeiteinheit bis hin zur Verbannung aus dem öffentlichen Raum. Fremdes wurde so nachdrücklich in Eigenes umgewandelt, dass wir heute manchmal gar nicht mehr um die außereuropäische Herkunft wissen.

Wer denkt bei dem Anblick von Tomaten schon an Amerika? Hafenstädte verbinden das Meer und die Küste mit dem Hinterland. Von hier aus gelangten Waren aus Außereuropa tief hinein in die „alte Welt“, wo sie teilweise verblüffende Wirkung erzielten. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Knopfindustrie in Thüringen, die sich darauf spezialisierte, Perlmutt aus Ozeanien zu Knöpfen zu verarbeiten. Oder an die Schmieden in Solingen, wo ein Großteil der Macheten gefertigt wurde, mit denen Sklaven in der „neuen“ Welt Zuckerrohr schnitten.

Das Meer verbindet Europa mit der Welt. In seiner großen Erzählung schildert Jürgen Elvert, wie im ständigen Austausch mit anderen Kontinenten die heutige europäische Zivilisation entstand.
Jürgen Elvert Europa, das Meer und die Welt 590 Seiten, DVA, 45,- Euro

Es waren die Menschen, die Akteure, die mit den intendierten und nicht-intendierten Folgen ihres Handelns den Verlauf der europäischen und globalen Geschichte bestimmt haben. Die Menschen und ihr  Handeln formten die europäische Zivilisation, wie wir sie heute kennen. Ebenso nachhaltig beeinflussten sie den Verlauf der Weltgeschichte, jedoch nicht im Sinne einer „Europäisierung“ der Welt, sondern als Akteure in einem jahrhundertelangen, zumeist über das Meer geführten Austauschprozess. Dieser erscheint als eine Art Dialog zwischen Europa und der Welt, welcher die Gestalt der Welt dabei ebenso formte und prägte wie die Europas, und dergestalt Europa und die Welt in ein neues Verhältnis zueinander stellte, einander näherbrachte.

Das Meer diente dabei als das verbindende Element, welches die ehemals räumlich weitgehend voneinander getrennten Erdteile vernetzte und das Schicksal der auf ihnen lebenden Menschen miteinander verknüpfte. Dieser Globalisierungsprozess lässt nicht nur die europäische Zivilisation, sondern alle daran beteiligten Zivilisationen auf der Erde als maritime Zivilisationen erscheinen. Heute scheint diese Erkenntnis anderswo auf der Welt deutlicher präsent zu sein als in Europa selbst.

Die Faszination des Meeres
Thomas Mann hat das Meer einmal als eine Erfahrung der Ewigkeit bezeichnet. Hier liegt wohl ein Schlüssel für die Faszination, die das Meer auf so viele Menschen gerade in Europa insbesondere seit der Romantik ausgeübt hat und immer noch ausübt. Hinzu kommt das Spannungsfeld aus dem Wissen um das Meer und der Mischung von Gefühlen, das bei der Betrachtung des Meeres ganz unterschiedliche Reaktionen auslöst, immer aber anziehend wirkt. Dabei dürfte auch der Aspekt der Grenzerfahrung eine wichtige Rolle spielen.

Dieser kann in vielerlei Gestalt daherkommen – als Empfindung einer vermeintlichen Grenzenlosigkeit des Meeres oder angesichts seiner unzähmbaren Urgewalt, die vom Menschen niemals völlig gebändigt werden kann. Wieder andere sehen das Meer als Brücke zu weit entfernten Ufern, wo es sich viel besser und freier leben lässt als in der Enge europäischer Normen und Konventionen. Diese und andere Gründe haben Millionen von Menschen bewogen, Schiffe zu besteigen und von Europa aus über das Meer zu fremden Küsten zu streben. Sofern sie die Seefahrt überlebten, trugen sie europäische Werte und Konventionen, Wissen und Lebensweisen in alle Welt.

Wer zurückkehrte, tat dies mit Erkenntnissen und Erfahrungen, die er in der Fremde gesammelt hatte, und trug dazu bei, Wissen und Wohlstand in Europa zu mehren. Er hatte aber auch gelernt, Europa von außen, mit den Augen der anderen zu sehen, was den Europäern allmählich zu einem besseren Verständnis von sich selbst und den anderen verhalf. Europa entdeckte die Welt über das Meer und lernte sich zugleich selber kennen.

Lehren für die Gegenwart
In Zeiten wie diesen, in denen politische Bauernfänger am rechten oder linken Rand des politischen Spektrums „alternative Wahrheiten“ verkünden, die von erstaunlich vielen zustimmend zur Kenntnis genommen werden, erinnert der Blick auf Europa und das Meer daran, dass die Geschichte längst den Beweis dafür erbracht hat, dass internationale und globale Probleme nur gemeinschaftlich gelöst werden können. Die Einführung von Schutzzöllen hat in keinem bekannten Fall zur Lösung ökonomischer Probleme beigetragen, sondern diese in der Regel noch verschärft.

Ebenso wenig konnte der Bau von Zäunen oder Mauern bislang zur langfristigen Lösung von Flüchtlingskrisen beitragen, sondern nur für neue Flüchtlingsrouten beziehungsweise die Verlagerung der damit verbundenen Probleme auf andere Staaten sorgen. Die europäische Erfolgsgeschichte der Neuzeit ist eine Geschichte der Offenheit und Aufgeschlossenheit für Neues, ebenso eine Geschichte der Mobilität, des interkulturellen Dialogs und des Austausches von Wissen und Erfahrung. Natürlich hat es dabei im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Opfer gegeben, doch zeigt die Geschichte ebenfalls, dass Europäerinnen und Europäer in den zurückliegenden Jahrhunderten das keinesfalls gleichgültig hinnahmen, sondern daraus Lehren zogen und versuchten, Dinge zu verbessern.

So lässt sich unser heutiges Menschenrechtsverständnis auf die im 16. Jahrhundert strittige Frage zurückführen, ob es sich bei den indigenen Völkern Amerikas um Menschen oder um menschenähnliche Wesen handele. Auch ist es richtig, dass ein Großteil des europäischen Wohlstandes von Sklaven in der neuen Welt erwirtschaftet wurde. Andererseits hatten nachdenklichere europäische Zeitgenossen Sklavenhaltung und -handel stets kritisiert und damit eine Diskussion ausgelöst, die schließlich zunächst zu einem Verbot des Sklavenhandels, dann auch der Sklavenhaltung führte. Solche und ähnliche Entwicklungen geben, denke ich, Anlass zur Hoffnung in Zeiten wie den unseren.