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Leider zu spät

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Gipfeltreffen in Maastricht zur Schaffung einer europäischen Währungsunion am 9. und 10. Dezember 1991: Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher repräsentierten Deutschland. © Ullstein Bild / dpa

BVerfG versus EuGH: Was bedeutet der aufgebrochene Konflikt für die Europäische Union?

Edzard Schmidt-Jortzig01.08.2020

Das „EZB-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), mit dem es einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die Gefolgschaft verweigerte, hat viele Menschen in Europa aufgeschreckt. Und je abstrakter die Rezensenten ansetzen, umso mehr kamen auch Emotionen ins Spiel. Die Kommentare reichen von „das war wirklich mal fällig“ bis „damit wird die Axt an den Bestand der EU gelegt“. Die EU-Kommissionspräsidentin drohte sogar schon mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.

Zwickmühle Zuständigkeit

Argumentativ ist die Intervention des BVerfG im Grunde durchaus schlüssig und konsequent. Aber ihr haftet eben zugleich ein tragischer Zug an. Denn der Vorstoß verliert von vornherein an Überzeugungskraft, weil er erst jetzt so direkt adressiert wird. Man hatte bisher aber doch damit nur gezögert, weil Verständigung möglich schien und man einen offenen Konflikt vermeiden wollte. Und dies rächt sich nun. Das Aufbegehren, für das man ja viel Sympathie haben kann, kommt einfach zu spät und wird deshalb wenig Wirkung haben.

Richtig ist auf jeden Fall, dass selbst als vor dreißig Jahren die Europäische Gemeinschaft mit dem Vertrag von Maastricht zur „Europäischen Union“ wurde, die gemeinsame europäische Handlungseinheit immer nur ein Produkt vertraglicher Vereinbarung war. Für die Bemessung ihrer Zuständigkeiten bleibt deshalb das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ unverrückbare Grundlage: Die Union darf nur das tun, was ihr die Mitgliedsstaaten zugewiesen haben. 

Und dass diese nun durch ihre Verfassungsgerichte penibel auf die Einhaltung der Rechtsübertragungen achten, ist deshalb selbstverständlich. Das BVerfG steht daher mit seiner Inanspruchnahme dieser Prüfungsaufgabe auch keineswegs allein; die Mehrzahl der nationalen Verfassungsgerichte verfährt genauso.

Allerdings hat Karlsruhe, um sich mit dem Europäischen Gerichtshof nicht ins Gehege zu kommen, von Anfang an betont, dass man sich bei der entsprechenden Prüfung über eine bereits ergangene Rechtmäßigkeitsentscheidung des EuGH nur dann hinwegsetzen werde, wenn dessen „Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“ sein sollte. Das war quasi ein Friedensangebot, denn ein solcher Fall schien eigentlich unvorstellbar. Der EuGH aber fuhr unbeeindruckt fort, den EU-Organen bei der Ausschöpfung ihrer Zuständigkeiten Beurteilungsspielräume zuzugestehen und den eigenen Prüfungsmaßstab zurückzunehmen. Selbst wenn man also den wachsenden Unmut des BVerfG verstehen kann und jetzt beim EuGH-Urteil über das Anleihekaufprogramm der EZB auch die ausdrückliche Nachfrage nach einer Verhältnismäßigkeitsbeachtung glatt ignoriert wurde, war der Vorwurf von Nichtnachvollziehbarkeit und Willkür doch „starker Tobak“. Denn eine solche Schärfe ist gegenüber den Luxemburger Kollegen nicht nur unfreundlich und deshalb auch wohl kontraproduktiv. Sie wirkt vielmehr angesichts des bloßen Vorwurfs einer unterlassenen Verhältnismäßigkeitsprüfung auch irgendwie selbst unverhältnismäßig.

Unbemerkte Ausweitung

Aber ist denn – und darin liegt der Haupteinwand gegen den Standpunkt des BVerfG – die „Selbstentfaltung“ der EU und ihrer Organe nicht tatsächlich schon in den Verträgen angelegt? Der Vertrag über die Europäische Union ruft immerhin die Partner auf, „den Prozess einer immer engeren Union der Völker Europas ... weiterzuführen“, und wenig später heißt es, dass der „institutionelle Rahmen“ der EU, wozu eben auch EZB und EuGH gehören, verpflichtet sei, „ihren Werten Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen (und) ihren Interessen ... zu dienen“. Außerdem kennt das EU-Verfahrensreglement mittlerweile sogar eine ausdrückliche „Kompetenzergänzungsklausel“, wonach der Europäische Rat, wenn die zur Verwirklichung der Vertragsziele notwendig erscheinenden Befugnisse (noch) nicht vorgesehen sind, auf Vorschlag der Kommission die geeigneten Vorschriften nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erlassen kann (worauf die nationalen Parlamente dann nur noch „aufmerksam“ gemacht werden müssen). Das alles hat Deutschland mitentworfen und ratifiziert.

Man kann dieses Angelegtsein als „Konstruktionsfalle einer indirekten Staatswerdung“ bezeichnen (Udo Di Fabio). Aber die kontinuierliche, quasi „subkutane“ Fortentwicklung der Zuständigkeiten und also die latente, prozesshafte Ausweitung der europäischen Staatlichkeit war eben – wenn auch kaum offen geäußert – politisch so gewollt. Derart geräuschlos und pragmatisch gelingt doch eine Weiterentfaltung der Union viel besser, als wenn immer erst eine Vertragsergänzung nötig ist. Veritable Vertragsänderungen werden immer schwieriger, und der Elan dazu scheint mehr und mehr zu erlöschen.

Auch der letzte Schutzwall, den das BVerfG gegen die selbsttätige Ausweitung der europäischen Zuständigkeiten errichtet, kann indessen heute kaum noch halten. Allem, was die EU nämlich an Kompetenzen jenseits ausdrücklicher staatsgesetzlicher Zuweisung von sich aus veranstalte, mangele es – so die gerichtliche Argumentation – an der vom Grundgesetz geforderten demokratischen Legitimation. Zuständigkeiten ohne ausdrücklichen Parlamentsbeschluss abfließen zu lassen, bleibe also strikt verwehrt, weil die demokratische Unterfangung aller Hoheitsgewalt qua „Ewigkeitsklausel“ nun einmal zum unverfügbaren Fundament der deutschen Verfassung gehöre.

Dass jedoch die Kompetenzwahrnehmung der EU noch immer nicht grundgesetzadäquat legitimiert sei, kann weder einer genauen Ermittlung der geforderten demokratischen Substanz noch einem unvoreingenommenen Systemvergleich standhalten. Demokratische Legitimation bemisst sich eben nicht nur nach der lückenlosen Herleitung aus einem Bürgerwahlakt, sondern fußt auch empirisch auf weiteren Faktoren, seien es „Output-Effekte“, institutionelle Gewähr bürgerschaftlicher Teilhabe oder Ähnliches.

Retten, was zu retten ist

Karlsruhe hat jetzt den bisher nur schwelenden Verfassungskonflikt offengelegt, und die Notwendigkeit einer Beilegung lässt sich kaum bestreiten. Eine oberflächliche Befriedung ließe sich bereits erreichen, wenn die EZB – zwingen kann man sie ja nicht – einfach von sich aus ihre Verhältnismäßigkeitserwägungen bezüglich der Anleihekaufentscheidung darlegt (und sei es, dass dies, um das Gesicht zu wahren, über ihr Mitglied, die Bundeszentralbank, liefe). Schon nachhaltiger würden dagegen Korrekturen an der Organstruktur wirken, etwa eine Funktionsbegrenzung des EuGH auf strikte Rechtmäßigkeitskontrolle oder die Installation eines aus den nationalen Verfassungsgerichten zu besetzenden Europäischen Kompetenzgerichtshofs. Aber einen grundsätzlichen, Basis sanierenden Rückbau der EU auf ein bloß einzeln bestalltes Handlungsinstrument der Mitgliedstaaten wird es sicherlich nicht geben. Dafür ist die Entwicklung dann doch zu weit fortgeschritten.

Edzard Schmidt-Jortzig
Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, RC Kiel, hatte bis 2007 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Kiel inne (vorher in Göttingen und Münster), war von 1994 bis 2002 Mitglied des Bundestages und von 1995 bis 1998 Bundesminister der Justiz. Seither ist er unter anderem Vorsitzender des Deutschen Ethikrats und der Reformkommission Abgeordnetenrecht.