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Über Liberalismus und Nation

Halt in einer entgrenzten Welt

Edzard Schmidt-Jortzig03.06.2011

Mitunter spricht man auch heute noch von „Nationalliberalen“ und meint damit hierzulande offenbar Parteigänger der Freien Demokratischen Partei (FDP), die irgendwie bürgerlicher, fortschrittsskeptischer, „realohafter“ sind. Aber so richtig passen will die Bezeichnung nicht. Denn einen signifikanten und konsistenten Bezug auf das Nationale weist heute eigentlich keine politische Strömung in Deutschland mehr auf, nicht einmal bei den Konservativen. Man würde sich damit ja in der Publizistik auch rasch den Vorwurf des (Rechts)Populismus einhandeln, und das will keiner (obwohl man es doch in einer Demokratie eigentlich nicht zu fürchten brauchte). Ausdrücklich „Nationalliberale“ hat es freilich durchaus gegeben. Aber das ist lange her und spielte sich bekanntlich in den Anfängen des deutschen Parlamentarismus ab, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Norddeutschen Parlament hatte sich die „Nationalliberale Partei“ gegründet und wurde dann im neuen Reichstag ab 1871 zur stärksten politischen Kraft. Ihr Führer, Rudolf von Bennigsen, war lange Jahre die beherrschende Figur neben Bismarck, stellte aber eher den persönlichen Gegenentwurf zu ihm dar, konzilianter und versöhnlicher, als dass er politisch immer kontroverse Ziele und Vorstellungen vertrat. Die Partei verstand sich als Vertretung des Besitz- und Bildungsbürgertums, heute würde man sagen „des Mittelstandes“, litt zunehmend an der inneren Kontroverse zwischen – wie es Kommentatoren auf den Begriff brachten – „nationalstaatlicher Machstaatsidee und liberalem Rechtsstaatsdenken“ und zerfiel gegen Ende des Kaiserreichs immer mehr. 1918 löste sie sich auf. Andere liberale Parteien mit neuen Schwerpunkten traten an ihre Stelle. Und die kurzzeitig existierende „Nationalliberale Reichspartei“ war nur noch ein schwacher Erneuerungsversuch. Die großen liberalen Politiker der Weimarer Zeit, Friedrich Naumann und Gustav Stresemann, Walther Rathenau, Erich Koch-Weser oder Gertrud Bäumer, waren jedenfalls nicht mehr „nationalliberal“ im alten Sinne.

Bereitschaft zur Bindung

Gleichwohl lohnt es sich auch heute noch, der Beziehung oder auch Spannung zwischen Liberalismus und Nation einmal nachzugehen. Vielleicht sogar besonders, wo die Liberalen (wieder einmal) verstärkt nach ihrer Linie gefragt werden und ein Blick auf die tieferen Zusammenhänge ebenso wie eine Vergewisserung über die Wurzeln womöglich helfen kann. Dass für die Liberalen die Erringung und Verteidigung von Freiheit im Mittelpunkt ihrer politischen Ziele steht, und zwar gegenüber dem Staat ebenso wie im bürgerlichen Leben, ist eine Binsenweisheit. Schließlich verdanken sie diesem Anliegen ja ihren kategoriebildenden Namen. Freiheit bedeutet aber immer auch die Bereitschaft zum Eingehen selbstgewollter Bindungen und die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Entscheidungen. Deshalb war und ist sie politisch nie mit Libertinage, Egoismus oder Laisser-faire gleichzusetzen. Dass Manches an gefälliger Pflichtenauflösung rasch als „liberal“ oder „Liberalisierung“ bezeichnet wird, bedeutet für Liberale daher oft ein Ärgernis. Freiheit ist ein viel zu ernsthaftes und kompliziertes Geschäft. Beim Aufkommen des deutschen Liberalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts war nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und unter napoleonischer Besetzung das Streben naturgemäß zunächst auf den (Wieder)Gewinn der nationalen Freiheit gerichtet, dann auf die Bewahrung dieser Freiheit in einem Nationalstaat, und Hand in Hand damit ging es um die Zurückdrängung des Absolutismus obrigkeitlicher Herrschaft. Schon aufgrund der historischen Gegebenheiten waren also nationale Anliegen die ersten Bewährungsproben für den deutschen Liberalismus. Nachdem schließlich die nationale Einheit – wenn auch nur im sogenannten „kleindeutschen“ Zuschnitt – erreicht war, musste die vaterländische Strömung bei den Liberalen zunehmend verblassen. Man ließ sich zwar weiterhin in seinem Patriotismus ungern überbieten, aber die Konkurrenz darin mit den Konservativen verengte sich auf unterschiedliche Vorstellungen vom Gemeinwohl. Und die beruhte letztlich auf dem andersartigen Staatsverständnis. Für die Liberalen waren Nation und Staat nie Werte an sich, sondern immer nur wichtige Realisationen bzw. Mittel für die Wohlfahrt der Bevölkerung. Die Frage nach dem Verhältnis von Liberalismus und Nation stellt sich heute mithin ohne historische Vorüberzeugungen sowie ganz grundsätzlich. Und dafür müssen die Menschen mit ihren Interessen, Anlagen und Gefühlen den Maßstab abgeben, denn um ihr Wohlergehen hat sich ja richtigerweise alle politische Programmatik und Bemühung zu drehen. Augenscheinlich nun brauchen die Menschen für ihre emotionale Anlehnung, für das Sich-geborgen-Fühlen und Sich-für-etwas-einsetzen-Können immer auch mentale Identifikationsmöglichkeiten. Dies individuelle korporative Einbindungsbedürfnis widerspricht zudem keineswegs der liberalen Freiheitsbetonung gegenüber dritten, äußeren Inanspruchnahmen. Im Gegenteil: Seit Rudolf Smend weiß man in der Staatswissenschaft, dass für die wesensmäßige Integration der Menschen in einen überindividuellen Zusammenhang zu sorgen sogar eine elementare, unerlässliche Aufgabe des jeweiligen Gemeinwesens ist. Gerade auch freiheitlich motivierte Menschen haben deshalb zu allen Zeiten für ein solch übergeordnetes Ganzes gestritten, in das man sich emotional eingliedern und einbringen kann, mit dem man sich ideell gleichsetzt und in dem man sich zugehörig fühlt. Das gilt heute für liberale Politik genauso. Neuerdings bezeichnet man das im typisch überheblichen Journalistenduktus als „Wohlfühlliberalismus“. Der Verband wiederum, der – im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – jenseits von Familie, Verein und Gemeinde dieses Sozialisierungsbedürfnis als nächstes erfüllt, war überkommenermaßen und ist für viele auch heute noch die Nation. Damit kennzeichnet sich jene Menschengesamtheit, die durch Sprache, Kultur, Abstammung, gemeinsame Umweltbedingungen und geschichtliche Erfahrung miteinander verbunden ist. Die Bedeutung dieser Sozialität für Orientierung und Selbstverständnis der Menschen wird auch von Liberalen überhaupt nicht verkannt. Aber es ist für sie die Frage, ob jene Einordnung sich nicht verändert hat, womöglich transformiert oder sublimiert, und inwieweit sie von anderen, aktuelleren Ausrichtungen überwogen wird.

Wandel der Lebensbedingungen

Immerhin haben sich die Lebensbedingungen, welche bisher die Zuordnung der Menschen zu ihren Gemeinwesen bestimmten, grundlegend verändert. Auf unserem Kontinent verheißt die Europäische Union eine neue, supranationale Identifizierung. In ökonomischer Hinsicht bestimmt zunehmend Globalisierung unsere Verhältnisse. Statt nur in seiner Nation scheint der moderne mobile Mensch in der ganzen Welt zu Hause zu sein. Aber in all dieser Dimensionserweiterung verändern sich die gefühlsmäßigen Bedürfnisse des Menschen offenbar kaum. Vielleicht braucht er den emotionalen Halt in einer entgrenzten Welt sogar besonders. Nation hat also keineswegs ausgespielt, selbst wenn man diesen Bezugspunkt vielleicht nicht mehr so offen betonen mag. Aber für Liberale – ebenso wie für alle Realisten – haben sich doch die Prioritäten relativiert. Die nationalen deutschen Belange sind in vielfältige Rahmenbedingungen eingebettet, die ihrerseits politische Berücksichtigung fordern. Außerdem müssen Gegenaspekte und mögliche Drittauswirkungen bedacht werden. Die Lebensumstände der Deutschen hängen eben auch vom Weltfrieden, der Prosperität der Weltwirtschaft, den Folgerungen für das Weltklima ab. Überall kommt es also für die nationalen Wünsche und Perspektiven auf eine Abwägung mit Anderem an. So dominant und plakativ wie früher kann man daher nationales Denken heute wohl kaum mehr vertreten. Soll national orientierte Politik nicht nur Theorie und Propaganda bleiben, sondern Perspektive haben und wirklich Erfolg versprechen können, verlangt sie mehr denn je nach Rationalität.

Edzard Schmidt-Jortzig
Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, RC Kiel, hatte bis 2007 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Kiel inne (vorher in Göttingen und Münster), war von 1994 bis 2002 Mitglied des Bundestages und von 1995 bis 1998 Bundesminister der Justiz. Seither ist er unter anderem Vorsitzender des Deutschen Ethikrats und der Reformkommission Abgeordnetenrecht.

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