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Titelthema

Ähnlich und doch ziemlich anders

Titelthema - Ähnlich und doch ziemlich anders
© Thomas Kuhlenbeck

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Deutschland und Österreich unterschiedlich entwickelt. 1955 trat Deutschland der Nato bei, Österreich erlangte seine volle Souveränität – vor genau 70 Jahren.

Franz Schausberger01.05.2025

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Österreich in einer schwierigen Lage. Schwer von den Kriegszerstörungen betroffen, stand Österreich unter alliierter Besatzung und war in vier Besatzungszonen aufgeteilt: die amerikanische, die sowjetische, die britische und die französische. Schon in der Moskauer Deklaration von 1943 erklärten die Außenminister der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA, dass Österreich das erste freie Land gewesen sei, das der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen war. Ebenso erklärte man, dass die Besetzung durch Hitlerdeutschland am 15. März 1938 als null und nichtig anzusehen sei. Österreich trage aber auch für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitlerdeutschlands eine Verantwortung.

Während die Bundesrepublik Deutschland 1955 der Nato beitrat und sich damit gegen eine Neutralität aussprach, wurden die Verhandlungen über die volle Souveränität Österreichs in Moskau im April 1955 unter der Verhandlungsleitung von Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) fortgesetzt und führten zum Erfolg, der auch als Geburtsstunde der österreichischen Neutralität gilt. Diese Neutralität Österreichs wurde vor allem von den Sowjets gefordert und wurde schließlich so umgesetzt, dass das Neutralitätsgesetz vom freien und souveränen Staat Österreich „freiwillig“ beschlossen wurde. Die politische und militärische Neutralität des Landes ist bis heute und trotz des späteren EU-Beitritts ein zentrales Element der österreichischen Außenpolitik. Im Abschlussdokument, dem Moskauer Memorandum, wurde festgehalten, dass Österreich ein neutraler Staat sein würde und die vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des Staatsgebietes garantieren würden. Obwohl die Neutralität immer wieder Anlass für Diskussionen ist, stehen die vier Parteien ÖVP, SPÖ, Grüne und FPÖ klar zur Neutralität, und auch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung vertritt diese Position.

Am Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages gelang es Außenminister Figl noch, die Nennung der Mitschuld Österreichs am Zweiten Weltkrieg aus der Präambel des Vertrages zu streichen. Am 15. Mai 1955, also vor 70 Jahren, wurde der Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs im Marmorsaal des Schlosses Belvedere in Wien unterzeichnet. Österreich blieb damit – im Gegensatz zu Deutschland – eine Zweiteilung in eine Ost- und eine Westzone erspart. Die Neutralität ist ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Identität Österreichs geworden.

Die österreichische Regierung unter der Führung von Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Leopold Figl setzte sich – nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen als Verfolgte des NS-Regimes – dafür ein, Österreich als Opfer darzustellen. So gelang es, sich als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“ darzustellen, begründet im „Anschluss“ 1938 durch das Dritte Reich. Diese Darstellung trug dazu bei, dass Österreich keine aktive Mitschuld am Zweiten Weltkrieg trug, sondern eher Opfer des Nazi-Regimes war.

Die westlichen Alliierten hatten ein Interesse daran, Österreich von der NS-Vergangenheit zu entlasten, um es als neutralen und stabilen Staat in Europa nach dem Krieg zu etablieren und diesen aus dem Einflussbereich der Sowjetunion zu halten. Ähnlich akzeptierte auch die Sowjetunion die Opferrolle Österreichs in dem Sinne, dass sie die österreichische Unabhängigkeit anerkannte und die Entnazifizierung sowie die Neutralität des Landes unterstützte.

Nach der Erlangung der Unabhängigkeit des neutralen Österreich übernahm das Land – weder Teil des Warschauer Pakts noch der Nato – zunehmend die Rolle des Brückenbauers und Vermittlers zwischen Ost und West, insbesondere in der Zeit des Kalten Krieges. Es gewann das Vertrauen von beiden Blöcken und bot sich als Ort für zahlreiche internationale Verhandlungen und Organisationen an.

Föderalismis hier und dort

Österreich und Deutschland zählen zu den ganz wenigen wirklich föderalistischen Ländern Europas. Trotzdem weist die föderalistische Struktur beider Staaten erhebliche Unterschiede auf, die sich in Geschichte, Kompetenzverteilung und institutionellen Arrangements manifestieren.

Was die historische Entwicklung in Österreich betrifft, so wurde die österreichische Bundesverfassung von 1920 beziehungsweise 1925 im Jahr 1945 wieder in Kraft gesetzt und etablierte Österreich als föderalen Staat, allerdings nur mit begrenzten Kompetenzen der Länder, insbesondere in finanziellen Angelegenheiten, die weitgehend beim Bund verblieben. Im Gegensatz dazu zog man in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Konsequenzen aus den Fehlern der Weimarer Republik. Das Grundgesetz von 1949 schuf einen föderalen Staat mit klarer Gewaltentrennung und stärkte die Rolle der Länder.

Im österreichischen Föderalismus sind Bund und Länder in der Gesetzgebung und Vollziehung eng miteinander verflochten. Dies führt zu einer geringeren Autonomie der Länder vor allem in legislativen und finanziellen Fragen. In Deutschland besitzen die Bundesländer erhebliche Kompetenzen, insbesondere in Bereichen wie Bildung und Polizei, und können eigene Steuern erheben, was ihnen eine größere finanzielle Autonomie verleiht. In Österreich werden Mitglieder der Länderkammer, des Bundesrates, von den Landesparlamenten entsendet. Der Bundesrat hat hauptsächlich eine beratende Funktion, sein Veto kann vom Nationalrat überstimmt werden. In Deutschland besteht der Bundesrat aus Vertretern der Landesregierungen, die ein imperatives Mandat haben, die Länder sind daher direkt in den Bundesgesetzgebungsprozess eingebunden. Insgesamt ist also die föderale Struktur Deutschlands eine stärkere als die Österreichs.

Die Phase der Konsolidierung

In den Jahrzehnten nach dem Staatsvertrag erlebte Österreich – nicht zuletzt durch den Marshallplan – einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, geprägt durch stabile Regierungen der großen Koalition zwischen der christdemokratischen ÖVP (Österreichische Volkspartei) und der sozialdemokratischen SPÖ und schließlich unter Alleinregierungen unter Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) und anschließend unter Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ). Diese Stabilität trug zur Schaffung eines funktionierenden Wohlfahrtsstaates bei. Die dritte politische Kraft, die rechte Freiheitliche Partei (FPÖ) mit engen Verbindungen zur NS-Vergangenheit, wurde von Kreisky gepflegt und schließlich von der SPÖ in eine Regierungskoalition aufgenommen. Unter deren Obmann Jörg Haider driftete sie schließlich immer mehr in den Rechtspopulismus ab.

Der Weg in die EU vor 30 Jahren 

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde Österreichs Rolle in Europa zunehmend bedeutender, und das Land entschied sich, eine Mitgliedschaft in der EU anzustreben. 1995, also vor 30 Jahren, trat Österreich – trotz seiner Neutralität – der Europäischen Union bei. Nicht zuletzt wegen der historischen Verbindungen spielt Österreich durchgehend eine wichtige Verbindungsund Vermittlungsfunktion vor allem mit den EUKandidatenländern des Westbalkans.

Politische Veränderungen

In den letzten Jahrzehnten hat sich die politische Landschaft auch in Österreich zunehmend verändert. Besonders auffällig war der Aufstieg der rechtspopulistischen FPÖ, die mit populistischen und teils euroskeptischen Positionen an Stärke gewann. 2000 war die FPÖ wieder Teil der Regierung, was in der internationalen Gemeinschaft für Aufsehen und Sanktionen sorgte.

Die Migrationskrise von 2015, die Österreich – so wie auch Deutschland – eine kaum verkraftbare Zuwanderung brachte, polarisierte politisch und gesellschaftlich stark. Obwohl die Regierung unter Sebastian Kurz (ÖVP) zunehmend restriktiv vorging, profitierte die FPÖ. Zusätzlich nutzte diese die Covid-Pandemie zu einer maßlosen Kritik an den Maßnahmen der Regierung. Die politische Landschaft wurde außerdem durch den zunehmenden Einfluss der seit 1986 im Parlament vertretenen Grünen verändert, die 2020 mit der ÖVP erstmals in eine Regierung eintraten.

Die letzten Jahre zeigten einen zunehmenden Trend zu einem sehr stark polarisierten politischen Klima zwischen Regierung und Opposition, vor allem durch eine extreme (rhetorische) Radikalisierung der FPÖ. Nachdem die FPÖ bei der Nationalratswahl im September 2024 erstmals in der Geschichte knapp stärkste Partei wurde, scheiterte vorerst eine Regierungsbildung aus ÖVP, SPÖ und der 2012 gegründeten liberalen Partei Neos. An der Unfähigkeit der FPÖ zu einem Kompromiss und dem Festhalten an der Besetzung der wichtigsten Regierungsfunktionen scheiterte auch die Koalitionsbildung zwischen FPÖ und ÖVP, sodass schließlich doch ÖVP, SPÖ und Neos eine Koalition bildeten. Damit wird Österreich auch weiterhin sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht eine wichtige, stabile und verlässliche Rolle in der EU spielen.

Franz Schausberger

Franz Schausberger ist Universitätsprofessor für Neuere Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist ehemaliger Landeshauptmann des Bundeslandes Salzburg, Präsident des Instituts der Regionen Europas (IRE) und Autor zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Beiträge über die österreichische und europäische Geschichte.

© Franz Neumayr