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Der XXL-Bundestag und das Wahlrecht
Bleibt der Bundestag über 2021 hinaus zu groß und das Wahlrecht undurchsichtig, drohen Verfassungsklagen. Denn Überhang-Wähler können nicht wissen, wem sie mit ihrer Stimme in den Bundestag verhelfen.
Der Bundestag hat derzeit 709 Mitglieder, 111 mehr als im Wahlgesetz vorgesehen. Er ist damit größer als alle anderen Parlamente westlicher Demokratien. Das Repräsentantenhaus der USA etwa hat 435 Mitglieder, die eine Bevölkerung von 328 Millionen repräsentieren.
Die erforderliche Wahlrechtsreform ist deshalb so schwierig, weil sie eine Entscheidung des Bundestags in eigener Sache darstellt. Denn die Abgeordneten und ihre Parteien wollen den Ast, auf dem sie sitzen, nur ungern ansägen: Viele Mitglieder des Bundestags profitieren nun einmal von einem Wahlrecht, das ihre Wahlchancen erhöht. Die Parteien profitieren, weil auch die zusätzlichen Abgeordneten ihre Repräsentanten sind und tagein, tagaus Arbeit machen, die ihnen zugute kommt. Zudem erhalten sie einen Teil der Diäten als sogenannte Parteisteuer. So müssen zum Beispiel die Abgeordneten der Grünen 15 Prozent ihrer Diäten an die Partei abführen.
Das Wahlsystem
Das derzeitige Wahlgesetz kombiniert die Mehrheitswahl mit der Verhältniswahl: Die Hälfte der Abgeordneten wird in 299 Ein-Personen-Wahlkreisen mit der Erststimme gewählt. Die andere Hälfte kommt auf starren, vom Wähler nicht zu verändernden, Parteilisten ins Parlament, die mit der Zweitstimme gewählt werden. Diejenigen Abgeordneten, die in den Wahlkreisen gewonnen haben, werden nun von der Zahl der Abgeordneten, die den Parteien nach ihrer jeweiligen Liste zusteht, abgezogen. Gewinnt eine Partei mit den Erststimmen mehr Wahlkreismandate als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, so können die überzähligen Mandate nicht mehr abgezogen werden. Es entstehen sogenannte Überhangmandate. Diese kann die Partei behalten. Überhangmandate werden also nicht nur umso wahrscheinlicher, je mehr Direktmandate eine Partei bekommt. Sie werden auch umso wahrscheinlicher, je weniger Zweitstimmen diese Partei erhält.
Der Bundestag wächst
Viele Jahrzehnte lang kamen Überhangmandate nur in geringem Umfang vor, weil nur wenige Parteien im Bundestag waren: die CDU/CSU, die SPD und die FDP. Doch das hat sich inzwischen grundlegend geändert: Die Grünen sind 1983 in den Bundestag eingezogen, die frühere PDS und heutige Linke ist seit der Wiedervereinigung 1990 hinzugetreten und 2017 ist die AfD erstmals in den Bundestag gewählt worden.
Die drei zusätzlichen Parteien nehmen den beiden größeren Parteien nun Zweitstimmen weg. Vor allem die Union ist aber immer noch groß genug, um die meisten Wahlkreise zu gewinnen, wenn auch oft nur mit 30 Prozent der Erststimmen oder weniger, sodass sie als relativ stärkste Partei in den meisten Wahlkreisen vorn liegt und immer mehr Überhangmandate gewinnt: 2017 waren es 46.
Das hätte für die Union ein gewaltiges Übergewicht geschaffen. Deshalb gleicht das Wahlgesetz von 2013 nun sämtliche Überhangmandate durch sogenannte Ausgleichsmandate aus, die die Parteilisten der anderen Parteien entsprechend auffüllen. Das Ergebnis ist der übergroße Bundestag von 709 Mitgliedern, wobei alle 111 Zusatzmandate Listenmandate sind. Das derzeitige Wahlsystem ist also durch den Wandel der realen Verhältnisse überholt und wird der bestehenden Parteienlandschaft nicht mehr gerecht.
Ein Viertel reicht
Die gewaltige Überzahl an Abgeordneten fördert die parlamentarische Arbeit keineswegs, sondern beeinträchtigt im Gegenteil die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Die Steuergelder, die für die Bezahlung und die Unterbringung der überzähligen Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter sowie für die vermehrten Fraktionsmittel aufzuwenden sind, stellen eine Form der öffentlichen Verschwendung dar. Vor allem beschädigen das veraltete Wahlgesetz und das Hinauszögern einer durchgreifenden Reform die demokratische Legitimation der Republik. Denn am Beispiel der übermäßigen Parlamentsgröße droht für jedermann deutlich zu werden, dass die Parteien aus Egoismus dringend notwendige Entscheidungen zulasten des Gemeinwohls verweigern. Das ist ein verheerendes Signal.
Logisch scheint die nötige Therapie ganz einfach: Die Überhangmandate müssen beseitigt werden.
Das kann einmal dadurch geschehen, dass die Zahl der Wahlkreise verringert wird. Um – im Lichte vergangener Wahlergebnisse und aktueller Umfragedaten – auf diesem Weg Überhangmandate wirklich zu vermeiden, müsste die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 240 absinken. Das verlangt einen Neuzuschnitt der Wahlkreise und diese müssen dabei erheblich vergrößert werden. Das bedürfte eines längeren zeitlichen Vorlaufs.
Überhangmandate könnten, zweitens, auch dadurch beseitigt werden, dass nicht alle Wahlkreisgewinner ein Mandat bekommen. Man könnte zum Beispiel denjenigen mit den relativ schlechtesten Ergebnissen (unter den Wahlkreisgewinnern der Überhang-Partei) den Wahlkreis verweigern. Schließlich werden immer mehr Wahlkreise – aufgrund der geschilderten Entwicklung – mit einem immer geringeren Stimmenanteil gewonnen.
2017 genügten etwa der siegreichen Kandidatin im Wahlkreis Berlin-Mitte 23,5 Prozent der Erststimmen für ihr Direktmandat. Diese Therapie wäre relativ kurzfristig möglich, weil sie keinen Neuzuschnitt der Wahlkreise verlangt. Unschön erscheint allerdings, dass dann die entsprechenden Wahlkreise unbesetzt blieben. (Verfassungsrechtlich dürfte dieser Ansatz aber durchaus zulässig sein, wie auch das – verfassungsrechtlich unangefochtene – Landeswahlrecht von Baden-Württemberg zeigt. Dort erhalten ebenfalls bestimmte Kandidaten mit dem relativ schlechtesten Wahlergebnis kein Mandat.)
Man könnte Überhangmandate schließlich auch dadurch vermeiden, dass man sie auf die Listenmandate derselben Partei in anderen Bundesländern anrechnet. Bei der CSU wäre das aber nicht möglich, da sie ja ausschließlich in Bayern kandidiert. Gegen alle diese Möglichkeiten haben die Unionsparteien, die 2017 mehr als drei Viertel aller Wahlkreismandate erhielten, massive Vorbehalte.
Man könnte aber auch Ausgleichsmandate verweigern. Das wäre nach dem letzten Urteil des Bundesverfassungsgerichts bei bis zu 15 Überhangmandaten verfassungsrechtlich zulässig. Dagegen haben allerdings die Oppositionsparteien und auch die SPD massive Vorbehalte. Denn dann würde ihr Mandatsanteil entsprechend fallen.
In Betracht kommt wohl nur eine Regelung, die die bisherigen relativen Verhältnisse zwischen den Parteien im Bundestag unberührt lässt, und das bedeutet eine Beseitigung der Überhangmandate auf einem der angesprochenen Wege. Dabei wäre der erste Ansatz frühestens für die Bundestagswahl 2025 möglich. Selbst beim zweiten Ansatz ist fraglich, ob er praktisch noch für die Bundestagswahl 2021 in Betracht kommt. Ihm entspräche – neben dem chancenlosen Vorschlag der AfD (siehe sogleich) – etwa ein Vorschlag des Staatsrechtslehrers Hans Meyer.
Die Gesetzentwürfe der Fraktionen
Am 25. August 2020, also quasi in letzter Sekunde, einigte sich die Koalition aus Union und SPD auf einen zweistufigen Vorschlag. Für die Bundestagswahl 2021 soll die Anzahl der Wahlkreise unverändert bei 299 bleiben und dann für die Wahl 2025 auf lediglich 280 verringert werden. 2021 sollen drei Überhangmandate auf die Listen derselben Partei in anderen Bundesländern angerechnet, ferner drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Schließlich will die Koalition noch in dieser Wahlperiode eine Reformkommission einsetzen, die ihre Empfehlungen allerdings erst in der nächsten Wahlperiode vorlegen soll. Diese Kommission soll in ihre Beratungen auch eine Verlängerung der Wahlperiode des Bundestags auf fünf Jahre, eine mögliche Parität von Männern und Frauen bei der Bundestagswahl und eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre einbeziehen. Der Bundestag hat den Gesetzentwurf der Koalition am 18. September in erster Lesung beraten und an den Innenausschuss überwiesen. Die Vorschläge sind leider völlig ungenügend, weil sie das Wachstum des Bundestags nur unzureichend bremsen.
Die AfD will, dass die Regelgröße von maximal 598 Abgeordneten nicht überschritten wird. Eine Partei soll daher nur so viele Direktmandate bekommen, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Der Vorschlag wird von allen anderen Parteien abgelehnt und ist deshalb praktisch chancenlos. Drei Oppositionsfraktionen (Grüne, FDP und Linke) legten im Oktober 2019 einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor. Danach sind statt 299 nur noch 250 Wahlkreise vorgesehen. Zugleich sollen Überhangmandate mit Listenmandaten derselben Partei auch in anderen Bundesländern verrechnet werden. Immerhin ergäben sich dann auf der Basis der Ergebnisse der letzten Bundestagswahl 630 Abgeordnete. Die Koalition hat bisher verhindert, dass dieser Vorschlag im Bundestagsplenum überhaupt zur Abstimmung gestellt wird. Denn sie fürchtet, dass dann – neben Abgeordneten der AfD – auch manche der eigenen Abgeordneten dafür stimmen könnten.
Damit droht in Beton gegossen zu werden, dass der Bundestag bei den Wahlen 2021 und 2025 übergroß bleibt. Die Wähler müssen sich verhöhnt vorkommen. Allenfalls das Bundesverfassungsgericht könnte die politische Blockade noch lösen. In der Tat drohen Verfassungsklagen. Denn Überhang-Wähler können nicht wissen, wem sie mit den damit geschaffenen Ausgleichsmandaten in den Bundestag verhelfen.
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