Titelthema
Macht über den Körper

Natürlich sind Tätowierungen Formen kultureller Aneignung. Man sollte schon wissen, was man sich stechen lässt.
In den Neunzigern ändert sich vieles, in politischer, kultureller und technologischer Hinsicht. Nicht zuletzt ändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihren Körpern. Ließe sich heute eine Zeitreise zu einem heißen Sommertag des Jahres 1990 unternehmen, könnte man dort vor allem eines feststellen: Unter den vielen leicht bekleideten, ihre nackte Haut präsentierenden Menschen findet sich niemand, der tätowiert ist. Schon fünf Jahre später bietet sich ein völlig anderes Bild. In erstaunlichem Tempo beginnen am Anfang der Neunzigerjahre sehr viele Menschen gleichzeitig damit, ihre Haut durchstechen zu lassen. Sie schmücken ihre Körper dauerhaft mit Buchstaben aus den verschiedensten Alphabeten, mit Ornamenten, Bildern, Figuren, Symbolen.
Natürlich gibt es Tätowierungen schon seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden. Aber in westlichen Ländern wird diese Technik bis in die 1980er-Jahre lediglich von wenigen Außenseitern gepflegt, von Seeleuten, Strafgefangenen oder Angehörigen von Motorradclubs. Und von einigen Künstlern, die sich selbst als extreme Freaks inszenieren und die Kunst und Leben unauflöslich ineinander zu verschmelzen versuchen: etwa von dem Industrial-Pionier Genesis P-Orridge oder von dem Schockrocker GG Allin, der sich zur Ergänzung seines verstörenden Erscheinungsbilds auf der Bühne Einläufe zu legen pflegt und seinen Kot in die ersten Publikumsreihen verspritzt.
Diese Künstler nennen sich "Modern Primitives"; und so heißt auch ein Anfang der Neunziger viel gelesener und betrachteter Bildband, in dem die Schönheit und die politische und spirituelle Kraft von Tätowierungen beschworen werden, aber auch die Lust und Leidenschaft steigernde Wirkung von Intimpiercings, also durchstochenen und mit Ringen und Stäben geschmückten Schamlippen und Eicheln. Warum tun die Menschen sich so etwas an? Weil, wie der Herausgeber des Bandes, V. Vale, schreibt, sich an der Wende zu den Neunzigerjahren ein "universelles Gefühl der Machtlosigkeit" ausgebreitet habe. Man habe sich damit abgefunden, dass es "unmöglich ist, die Welt zu verändern". Darum entschieden sich wahrhaft individualistische Menschen dazu, eben das zu verändern, worüber sie selbst noch die Macht besitzen, und zwar ausschließlich sie allein: "ihre eigenen Körper".
Mit den Tätowierungen wollen die "Modern Primitives" ein Zeichen der absoluten Souveränität über das eigene Dasein setzen. Zugleich trachten sie danach, sich auf diese Weise mit den Traditionen und der Weisheit "primitiver" Kulturen zu verbinden – also mit solchen Kulturen, deren Angehörige noch ein ursprüngliches, nicht-entfremdetes Verhältnis zur Welt, zur Natur und zu ihren eigenen Körpern besitzen. In solchen – heute würde man sagen – indigenen Kulturen wurde die Technik des "Tautauierens" auch erstmals entwickelt, insbesondere von den Maori und anderen Völkern des polynesischen Archipels.
Was die "Modern Primitives" in den Neunzigern tun, würde man heute also als "culturalappropriation", als kulturelle Aneignung bezeichnen. Das bedeutet: Angehörige einer entwickelten, militärisch und wirtschaftlich dominanten Kultur eignen sich die Artefakte einer indigenen, ehemals kolonialisierten Kultur an, um auf diese Weise authentischer, ursprünglicher, naturnäher zu wirken. In den 1990er-Jahren war der Begriff noch nicht gängig, "kulturelle Aneignung" entwickelte sich erst nach der Jahrtausendwende zu einem zentralen Thema in progressiven oder auch "woken" Kulturdebatten. Doch schon in den Neunzigern begannen afroamerikanische Musiker dagegen zu protestieren, dass weiße Popmusiker seit Jahrhunderten von der schöpferischen Kraft schwarzer Kultur profitierten – ohne dass sich deswegen an der rassistischen Diskriminierung schwarzer Menschen jemals etwas geändert habe. Und die Angehörigen indigener Völker in den USA und Kanada wandten sich dagegen, dass weiße Menschen sich mit "Indianerschmuck" kostümieren, um auf diese Weise besonders authentisch und ursprünglich zu wirken – wobei sie aber nur kitschige Zerrbilder der angeeigneten Kulturen verbreiten.
All diese Vorwürfe lassen sich natürlich auch gegen die westliche Aneignung der Tätowierkunst erheben. Freilich legten die ersten Stars der Szene auch noch besonderen Wert auf den sensiblen Umgang mit der angeeigneten Kultur – so etwa der US-amerikanische Tätowierer Ed Hardy, dem im "Modern Primitives"-Band ein großes Porträt gewidmet wird. Hardy kam aus den USA, hatte sein Handwerk in Japan gelernt und machte als erster Künstler im großen Stil die sogenannten "Tribal Tattoos" unter westlichen Jugendlichen populär: Das sind geschwungene, ornamentale Muster, die in pazifischen Kulturen ursprünglich zur Kennzeichnung der Stammeszugehörigkeit dienen oder eine rituelle Bedeutung besitzen. Ed Hardy übernahm diese Muster, und er variierte sie auch und kombinierte sie mit anderen Motiven. Doch gehörte es für ihn zum Berufsethos, beim Tätowieren stets sein Wissen um die historischen und spirituellen Bedeutungen der Symbole weiterzugeben. So wird er auch in dem "Modern Primitives"-Porträt zitiert: Er achte stets darauf, dass seine Kunden genau wissen, was sie sich gerade unter die Haut stechen lassen.
Wenn man – wie ich es in meinem Buch "Ethik der Appropriation" versucht habe –zwischen "guten" und "schlechten" Formen der kulturellen Aneignung unterscheiden will, dann kommt dieser Sensibilität für den kulturellen Hintergrund angeeigneter Symbole eine besondere Bedeutung zu. Eine "gute" Form der kulturellen Aneignung wäre für mich eine solche, die kulturelle Artefakte nicht als beliebig verwendbare Zeichen betrachtet, sondern als Symbole mit einem bestimmten historischen und kulturellen Gehalt – und die in ihrem Vollzug also auch dazu beiträgt, dass die dazugehörigen kulturellen Traditionen vor dem Verschwinden bewahrt und in der Gegenwart fortgeführt werden.
Diese Sensibilität ging freilich in dem Maß schnell verloren, in dem das Tätowieren zu einer Massenkultur wurde. Schon bald waren jene Menschen in der Mehrheit, denen der historische oder religiöse Gehalt ihrer Tätowierungen gleichgültig oder unbekannt war. Sie übernahmen sie bloß aus ästhetischen Gründen und entleerten sie dabei ihres ursprünglichen Gehalts: Dies würde ich als "schlechten" Fall einer kulturellen Aneignung bezeichnen. Auch für ihn geben die "Tribal Tattoos" ein gutes Beispiel. Sie werden Ende der Neunzigerjahre vor allem bei jungen Frauen populär, die sie sich so auf das Steißbein tätowieren lassen, dass sie gerade noch über den Hosenbund herausschauen. Alle religiösen und spirituellen Bezüge werden dabei getilgt, es bleibt der Wunsch nach einer erotisierenden Wirkung. In den USA firmiert das Tribal Tattoo seither unter dem Namen "Tramp-Stamp", zu deutsch: Schlampenstempel, in Deutschland bürgert sich der Begriff "Arschgeweih" ein.
Im Jahr 2000 lässt sich der Fußballspieler David Beckham den Namen seiner Frau Victoria auf den linken Unterarm tätowieren – allerdings nicht in lateinischen Buchstaben, sondern in der Schrift Devanagari, die zur Schreibung verschiedener indischer Sprachen benutzt wird, so auch des modernen Hindi. Freilich scheinen weder der Tätowierte noch der Tätowierer die Verwendung der Schrift beherrscht zu haben. Denn statt "Victoria" steht nun "Vhictoria" auf Beckhams Arm, wie ein britischer Hindi-Experte unmittelbar darauf erläutert. Eine Pressesprecherin des Fußballers erklärt dazu auf Nachfrage, es handle sich eben nicht um eine Umschrift in Hindi, sondern in Hindu, insofern habe das schon seine Richtigkeit. Auf den Einwand, dass Hindu keine Sprache ist, sondern eine Religion, gibt die Pressesprecherin keine weiteren Erklärungen ab.
Der Trend zu Tätowierungen in der Devanagari-Schrift hält in den folgenden Jahren gleichwohl an. Dabei kommt es so oft zu Schreibfehlern, dass der US-amerikanische Verband der Devanagari-Gelehrten Ende der Nullerjahre eine Petition aufsetzt: Er ruft Tätowierungskünstler in aller Welt dazu auf, sich mit den Grundzügen der indischen Sprachen und ihrer Transkriptionssysteme vertraut zu machen, um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden; und er bietet den Betroffenen auch konkrete Hilfe in Form von kursorischen Sprachlehrgängen an.
Jens Balzer ist Schrifststeller und Journalist im Feuilleton von "Die Zeit". Zu seinen jüngsten Büchern gehören "No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit" (Rowohlt Berlin, 2023) sowie die Essays "Ethik der Appropriation" und "After Woke" (Matthes & Seitz Berlin, 2022 und 2024).
