Interview
„Man muss Menschen mögen“

Im Nationalsozialismus musste sich Hans Rosenthal verstecken, in der späteren Bundesrepublik wurde er zum beliebtesten Showmaster des Landes. Ein Gespräch mit seinem Sohn Gert Rosenthal über das Schweigen, Glück und Erinnerungen
Herr Rosenthal, Ihr Vater wäre vor wenigen Wochen 100 Jahre alt geworden. Gibt es eine besonders intensive Erinnerung an Ihren Vater?
Mein Vater und ich waren sehr gut befreundet. Er war nicht nur mein Vater, sondern wir waren Freunde. An einem Sonntag hatten wir einmal geplant, von einem Veranstaltungsort zurück nach Föhr zu segeln, wo unser Ferienhaus ist. Mit einem kleinen sieben Meter langen Segelboot sind wir vor Pellworm aufgelaufen und haben dann dort die ganze Nacht zusammen verbracht, über die Gott und die Welt gesprochen. Das war einfach schön.
Bis die Flut wiederkam.
Bis die Flut wiederkam, wir wieder frei waren und weiterfahren konnten.
Ihr Vater hat die letzten Kriegsjahre versteckt in der Berliner Kleingartenanlage Dreieinigkeit im Stadtteil Lichtenberg überlebt. Hat er in der Familie darüber gesprochen?
Er hat darüber sehr wenig gesprochen. Immer nur ein oder zwei Sätze. Als Kind spürt man, wenn Eltern nicht möchten, dass man weiter nachhakt. Und mein Vater verstand es auch sehr elegant, Themen zu wechseln. Es gibt eine Szene in dem Fernsehfilm über meinen Vater, die in Utersum in unserem Ferienhaus spielt. In dieser Szene fragt ihn meine angebliche Freundin zum Holocaust, und er antwortet – gar nicht. Das hätte er nie gemacht. Er hat immer geantwortet, in diesem Fall hätte er sowas gesagt wie: „Ich habe überlebt, weil ich unglaublich viel Glück hatte. Ich bin ein glücklicher Mensch, und jetzt habe ich auch noch etwas vor mit euch. Kommt mal mit!“ Es ist also nicht so, dass wir nicht darüber gesprochen haben, aber immer nur ganz kurz. Und es waren immer Geschichten, aus denen er sehr positiv herauskam. In Wirklichkeit ist er dem Tod ja mehrfach von der Schippe gesprungen. Es gab viele Situationen, in denen es viel wahrscheinlicher war, dass er erwischt wird. Auch solche Geschichten hat er gelegentlich erzählt, aber immer nur eine. Ich glaube, dass er meine Schwester und mich nicht beunruhigen wollte.
Zwei nichtjüdische Berlinerinnen haben ihm damals geholfen. Hatte er nach dem Krieg noch Kontakt zu ihnen?
Die erste Dame, die ihn aufgenommen hat, verstarb noch vor 1945. Dann hat ihn die zweite Frau aufgenommen, und mit ihr hat er Kontakt gehalten. Er hat sich ganz intensiv dafür eingesetzt, dass ihr Mann, der in russischer Kriegsgefangenschaft war, wieder freikommt. Er hat viele Briefe geschrieben an den Kommandanten, in denen er darauf hingewiesen hat, dass sie ihm das Leben gerettet hat. Ich erinnere mich, dass wir einmal an dieser Laubenkolonie vorbeifuhren. Damals war ich aber noch sehr klein, diese Erinnerung ist wie ein Blitzlicht.
Vom untergetauchten minderjährigen Jungen, dessen Leben unter Deutschen täglich bedroht war, zum beliebtesten Quizmaster in Deutschland der späteren Bundesrepublik. Wie haben Sie diese extremen Erfahrungen in der Familie erlebt?
Tja, eigentlich kann man sich das gar nicht erklären. Er hatte trotz allem eine positive Einstellung gegenüber den Deutschen, weil es zwei Frauen gab, die ihr Leben riskierten, um seines zu retten. In den Kriegsjahren durfte er nicht rausgehen, weil er immer Angst haben musste, erkannt und angezeigt zu werden. Und später hielten Reisebusse vor seinem Haus und die Leute riefen „Dalli Dalli“ und „Hallo Hänschen“. Das ist ein großer Unterschied. Ich glaube, dass er glücklich darüber war, dass viele Menschen ihre Einstellung gegenüber Juden geändert hatten. Zumindest nachdem er sein Buch geschrieben hatte (1979, d. Red.), wussten alle, dass er jüdisch war und dass er eine bestimmte Geschichte hatte. Die Hörzu hat ja auch einige Kapitel vorab veröffentlicht. Dann hat er angefangen, stärker darüber zu sprechen, was passiert war – in Fernsehsendungen und auch mit uns.
Hat sich Ihr Vater über diesen Erfolg gewundert?
Das glaube ich nicht. Er war ein harter Arbeiter und ist immer Stufe für Stufe gegangen. Der Erfolg kam nicht von heute auf morgen. Er hat angefangen in der Materialverwaltung des Berliner Rundfunks, wo er Bleistifte ausgeben durfte. Dann hat er sich Stück für Stück hochgearbeitet.
Konnte er sich von Herzen darüber freuen, oder blieb immer ein Vorbehalt, ein Rest von Fremdheit, von Misstrauen und Distanz?
Es gibt immer Menschen, mit denen wir besser können und solche, zu denen wir eine größere Distanz halten. Wenn er prominente Gäste für Dalli Dalli suchte, wollte er herausfinden, wo sie im Dritten Reich gestanden haben. Er wollte ungern jemanden als Kandidat haben, der bei der SA oder SS gewesen war. Ansonsten war er völlig vorurteilsfrei. Der derzeitige ZDF-Intendant heißt Dr. Himmler. Er erzählte im März, bei der Vorführung des Films „Rosenthal“, dass ein Familienmitglied von ihm meinen Vater um ein Autogramm gebeten hat und er beeindruckt war, wie mein Vater, ohne Vorurteile und Verdächtigungen, das Autogramm auf diesen Namen ausstellte.
Wann hatte ihr Vater das Gefühl, in diesem Land wirklich wieder willkommen zu sein?
Ich glaube, das war schon vor meiner Zeit.
Nach dem Krieg herrschte in Deutschland ja großes Schweigen über die Nazi-Vergangenheit. Hat ihren Vater das belastet? Warum hat er erst so spät öffentlich darüber zu reden begonnen?
Das ist ein interessanter Aspekt. Ich denke, dass er zunächst nicht darüber sprach, weil er keine Nachteile erleiden wollte, nur weil er Jude war. Und andersherum wollte er als Jude auch keine Vorteile bekommen. Er wollte, dass die jüdische Gemeinde in Deutschland weiter existiert, dass also Hitler nicht im Nachhinein noch den Erfolg hat, dass es kein jüdisches Leben mehr in Deutschland gibt. Vielleicht war die Zeit einfach noch nicht reif. Aber als in den 70er- und 80er-Jahren die Diskussion darum ging, einen Schlussstrich unter den Holocaust zu ziehen – das ging für ihn gar nicht.
Wer kannte sein Schicksal? Wem hat er es außerhalb der Familie anvertraut? Was wussten Sie als Sohn wirklich?
Meine Schwester und ich wussten schon immer, dass er verfolgt wurde, dass sein Bruder ermordet wurde und dass er Zwangsarbeiten verrichten musste. Wenn ich sage „schon immer“, dann meine ich: so lange ich mich erinnere. Es gab andere Geschichten, bestimmte Einzelheiten, die wir nicht kannten.
Warum hat er sich an diesem Verschweigen, an dieser kollektiven Omerta überhaupt beteiligt?
Er hat ja nichts aktiv verschwiegen. Er war in der jüdischen Gemeinde aktiv, er war Vorsitzender der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Aber er ist lange Zeit nicht offensiv rausgegangen und hat nicht erzählt, was ihm als Jude passiert ist. Das ist für mich ein Unterschied. Das änderte sich, als zwei Zeitungsartikel erschienen waren, in denen stand: Hans Rosenthal ist jemand, den man gerne als Nachbarn hätte. Dann kam noch hinzu, was der Film auch schön zeigt, dass er am 40. Jahrestag der Pogromnacht Dalli Dalli machen sollte. Dann hat er sich gesagt: Jetzt muss ich den Menschen zeigen, wer ich bin und was ich hier schon erlebt habe. Und ich denke, das war der bestmögliche Zeitpunkt, den er dafür auswählen konnte.
War das genau der Moment, als Ihr Vater offener mit seinem Schicksal umgehen konnte und wollte?
Das kann ich gar nicht so genau sagen. Aber es gab diese zwei Zeitungsartikel und seinen Wunsch, die Sendung zu verlegen. Wie wichtig es ihm war, die Sendung zu verschieben, das habe ich erst hinterher von seinem Team erfahren, insbesondere von seinem Assistenten Reinhard Stein, der sagte, er hätte ihn nie wieder so sauer und so traurig erlebt.
Auch ein anderer in Berlin sehr beliebter Künstler, der Jazzgitarrist Coco Schumann, hat lange über seine jüdische Herkunft und sein Schicksal geschwiegen. War es die Angst? Wollte man selbst einen Schlussstrich ziehen? Oder war die Erinnerung einfach zu schmerzhaft?
Es geht um die Erinnerung. Mein Vater sagte immer: Täter sein wird nicht vererbt. Aber Gedenktage zu haben, das fand er schon sehr wichtig. Ich höre von Kindern ehemaliger Soldaten, die damals im Krieg waren, dass diese auch nicht darüber gesprochen haben. Ich glaube schon, dass es in dieser Generation eine Art Sprachlosigkeit gab.
Als deutscher Jude oder jüdischer Deutscher im zerstörten Land neu anzufangen, war vielen unmöglich. Wie hat es ihr Vater geschafft?
Ich glaube, es war ein Sendungsbewusstsein. Während er sich versteckt hielt, konnte er Radio hören. Und er wusste: Wenn ich überlebe, werde ich zum Rundfunk gehen und allen Menschen sagen, dass wir Juden nicht anders sind als alle anderen Deutschen. Aus dieser Motivation ist er unmittelbar nach Kriegsende zum Sender gegangen und hat um Arbeit gebeten. Er wollte eigentlich politische Kommentare machen und nicht zur Unterhaltung gehen. Aber es war doch der bessere Weg, wie er mir einmal sagte. Denn in der politischen Redaktion würde überwiegend über die Handlungen von Politikern berichtet und nicht über die Moderatoren selbst. Er erkannte, dass er seine Botschaft, dass nämlich Juden nicht anders sind als andere, als Showmaster viel besser transportieren konnte, als als Nachrichtenverleser.
Er war Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland in Zeiten des legendären Heinz Galinski. Aus welchen Gründen? Mit welcher Motivation?
Mein Vater hat direkt nach dem Krieg an dem Wiederaufbau von jüdischen Gemeinden mitgewirkt. In den ersten Jahren haben er und Galinski oft unterschiedliche Auffassungen vertreten, waren dabei aber immer sehr sachorientiert. Ein Beispiel: Heinz Galinski wollte immer eine jüdische Schule haben, mein Vater hat aber gesagt: Ich möchte lieber, dass in jeder deutschen Schulklasse mindestens ein Jude sitzt, damit klar wird, dass wir nicht anders sind als andere. Er war absolut gegen eine Art „Selbstghettoisierung“. So lange mein Vater lebte, gab es keine jüdische Schule, aber nach seinem Tod hat Herr Galinski dann eine solche gegründet. Und ich gebe zu, meine Kinder waren auch auf dieser jüdischen Grundschule. Das zeigt aber, die Intention meines Vaters war es immer, zusammenzuführen. Er wollte zeigen: Wir gehören dazu.
Wenn Sie an seine letzten Tage denken: Mit welchem Gefühl ist ihr Vater gestorben? Haben ihn die Entwicklungen in Deutschland besorgt? Oder konnte er dieser Gesellschaft, dieser Demokratie, vertrauen?
Er hat der Demokratie und den Politikern vertraut und fühlte sich wohl in Deutschland. Absolut, keine Frage. Er hatte guten Kontakt zu verschiedenen Politikern. Selbst Helmut Kohl war einmal zu Gast in unserem Ferienhaus in Utersum, auch Bundespräsident Karl Carstens war bei uns. Er war politisch sehr engagiert und gut verdrahtet, insbesondere mit den Politikern in Schleswig-Holstein. Mit Blick auf die heutigen politischen Entwicklungen wäre er extrem erschrocken.
Wenn wir Sie nach einem Satz fragen, den ihr Vater seinem Land, den vielen Menschen, die ihn verehrt haben, hinterlassen oder zugerufen hätte: was wäre die Botschaft?
Mein Vater hat gesagt, man muss Menschen mögen. Und Margot Friedländer sagte bis zu ihrem Tod immer wieder: seid Menschen. Beides kommt aufs gleiche hinaus. Man muss sich fragen: Ist das richtig, was ich hier mache? Sein Satz wäre nach wie vor: Man muss Menschen mögen.
Das Gespräch führten Johann Michael Möller und Björn Lange.
Gert Rosenthal ist Rechtsanwalt und Notar in Berlin.