Zeitgeschichte
Mein Elternhaus
Innerhalb des Rückblicks auf die Verfügbarkeit von Wärme und Energie: Ein Bericht über die Lebensumstände in einer Zeit, in der man noch nichts von Computern und Hochtechnologie wusste und die Motorisierung in den Kinderschuhen steckte
Passend zum Titelthema des Rotary Magazins "Sind wir bereit? - Die Angst vor dem kalten Winter als neuer Stresstest für die Gesellschaft" berichten Zeitzeugen aus den Kriegswintern des Zweiten Weltkrieges. Hier der Bericht von Werner Petrenz (Jahrgang 2020) vom Rotary Club Landshut:
Bis 1925 besuchte mein Vater Patienten in seinem Aktionsbereich von zahlreichen Dörfern mit einer von zwei Pferden gezogenen Kutschen oder auf seinem Rappen. Die Pferde versorgte der angestellte Kutscher.
Nach der absurden Inflation 1923 änderten sich in den folgenden Jahren die Wirtschaftsverhältnisse beträchtlich. 1925 verkaufte mein Vater die drei Pferde und schaffte sich als erstes Auto einen "Brennabor" mit Außenbord-Schaltung an. Dem folgten Mittelklassewagen der Auto-Union, die mit vier Marken in Sachsen vertreten war. Das Personal wurde auf drei reduziert: nur noch ein Dienstmädchen, Wasch- und Wäschefrau, sowie einen Gärtner mit zusätzlichen Arbeiten auf Grund und Haus nach Bedarf.
Das Wohnhaus wurde 1886 erbaut und 1898 um eine Etage erhöht. Die Außenwände waren bis einen Meter Höhe aus Granit, der aus einem benachbarten Steinbruch gewonnen wurde. Die Raumhöhe betrug im ausgedehnten Keller 1,98 Meter, im Parterre 3,50 Meter und in der ersten Etage und Speicher mit Flachdach 3,40 Meter. Im Erdgeschoss trennte ein 15 Meter langer Gang die Zimmerseiten und die Wände waren mit Edelholzbesatz. Zur ersten Etage führte eine Treppe mit Teppichläufer-Belag, der mit Messingstäben unter jeder Stufe gehalten wurde. Im ersten Stock war der Gang nur 10 Meter lang, da sich an der Stirnseite eine Kammer und eine Toilette mit Vorraum befanden.
Das Haupthaus war bis ins erste Obergeschoss elektrifiziert und mit Wasserleitung im Bad, Toilette und drei Zimmern versehen. Insgesamt besaß das Haus 13 Zimmer, eine Küche, eine Garderobe, zwei Toiletten und ein Bad und im Parterre einen Speisesaal von 40 Quadratmetern – mit bemalter Decke und einem großen Kachelofen mit farbigen Kacheln. Beheizt mit Kachelöfen waren nur 9 Zimmer, die von beiden Dienstmädchen morgens angezündet und danach fest verschraubt wurden, wodurch die Wärme bis abends anhielt. In den drei Zimmern im Dachgeschoss gab es weder Heizung, noch elektrisches Licht oder eine Wasserleitung. Die Wasserversorgung in den drei Zimmern, Bad und Toilette erfolgte aus einem Speicher von Dachgeschoss abwärts, während dieser Kessel durch Pumpen per Hand von unten aus einem tief aus dem Boden angelegten Rohr versorgt wurde. Die Pumptätigkeit gehörte zum Arbeitsprogramm des Pferdepflegers und Gärtners. An der Gartenseite des Hauses war eine Glasveranda in Parterrehöhe angesetzt. Hier verbrachten wir die meisten Tage im Sommer. Von ihr führte eine kurze Treppe zum tiefergelegenen Garten, dessen Wiese zum Sonnenbaden und als Spielplatz einlud.
Der Garten war auch ein weiteres Arbeitsgebiet. Dafür war ein Gärtner angestellt, der den Rasen mit der Sense mähte, den saisonalen Verschnitt von Sträuchern vornahm und eine stattliche Zahl von Apfelbäumen versorgte und erntete und die Gartenwege instant hielt, die mit Kies wiederholt aufgeschüttet wurden. Drei Seiten des Gartens wurden von Laubbäumen umgeben und an der vierten Seite standen zur Hälfte hohe, blühende Sträucher wie Flieder und Goldregen. Dies war die Rückseite des Hauses. Stroh und Heu aus Garten und Wiesen wurde im Speicher eines Nebenhauses als Viehfutter gelagert. Der zweistöckige Bau hatte mehrere Funktionen. Neben der oben beschriebenen Kammer für den Pferdepfleger war der Hauptraum des ersten Stocks ein Speicher für Stroh und Heu als Viehfutter. Den benützten wir Kinder im Winter gerne als Spielplatz und Teenager-Pärchen als Liege. Das war ein Kontrastprogramm zum "Kammerfensterln" im Oberland.
Im Parterre befand sich am Anfang und Ende je ein Schuppen für zwei Kutschen und zwei beziehungsweise vier Sitzen, die mein Vater als Fahrzeuge zu Patienten benützte. Neben der Treppe war ein Pferdestall, in dem sich auch Boxen für eine Hühnerschar „Italiener“ mit buntem Gefieder und für ein Mastschwein und ein Lamm zur Aufbesserung der Speisekarte befanden.
Einmal im Jahr fand ein Schlachtfest statt, in dem das Fleisch in dem großen Kupferkessel der Waschküche gebrüht wurde, der sonst zum Kochen der Wäsche diente. Mit Wasser versorgt wurde er aus einem Schlauch, der von dem Brunnen im Hof gespeist wurde. Von dem wurde auch Trink- und Nutzwasser fürs Haus geschöpft. Der Waschküche folgte ein Speicherraum für Brennmaterial. Das musste von den Dienstmädchen täglich zum Heizen der Kachelöfen geholt und über den Hof geschleppt werden. Das war besonders bei Schnee und Winterkälte kein Vergnügen.
Im Nebenbau folgte noch der zweite Fahrzeugschuppen. An dessen Mauer außen war ein „Plumpsklo“ mit Versitzgrube. Die wurde einmal monatlich – wie auch die Grube am Haupthaus – von einem Bauern geleert und die Jauche zur Felddüngung verwendet.
Mit der Haus-, Tisch- und Praxiswäsche war eine Wäscherin einschließlich Bügelns ständig beschäftigt. Dazu kam auch noch Wäschereparatur. Sie war den ganzen Tag über im Haus, übernachtete aber zu Hause. Für Hausarbeit und Gemüsegarten waren mit meiner Mutter zwei Dienstmädchen tätig. Die halfen auch beim Einkochen von Marmeladen, die aus zahlreichen Sorten Beerenobst entstanden und beim Einwecken von Pflaumen, Aprikosen, Pfirsichen, Birnen, Reineclauden und Kirschen. Davon war der Keller voll. Auch mit vielen Gemüse- und Krautsorten waren wir Selbstversorger.
Honig ernteten wir aus Bienenstöcken am Ende des Gartens. Auch darum kümmerte sich der Gärtner. An der Südseite des Nebengebäudes sorgte ein Weinstock für die Ernte im Frühherbst. Im Gemüsegarten wurde in einem überdachten Frühbeet Spargel gezogen.
Wenn man als Außenstehender von diesem Personalaufwand hört, fragt man sich, wie das ein Landarzt mit bäuerlicher Klientel finanziell verkraften konnte. Erklärung: In der Zeit vor den Kriegen gab es zahlreiche vermögende Großbauern, die alle Privat-Patienten waren. Gleiches trifft für die adeligen Großgrundbesitzer zu, die erst am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Westen flohen. Mein Vater war praktischer Arzt, aber mit weitgehender gynäkologischer Fachausbildung, die er wegen des plötzlichen Todes seines Onkels abbrechen musste. Das war vertraglich geregelt, weil der Onkel das Studium und den Lebensunterhalt gezahlt hatte.
Außer dem Kauf des gesamten Areals musste mein Vater der Tante den Lebensunterhalt bis zu ihrem Tode zahlen. Zu allgemeinärztlicher Tätigkeit kamen Geburtshilfe, Impf- und Schularzt, sowie die Nebenbeschäftigung in einem Granit-Steinbruch-Großbetrieb. Auf der Kostenseite standen die geringen Lohnbeträge damals. Außerdem waren wir weitgehend Alleinversorger im Ernährungsbereich.
Nachdem mein Vater München und den dortigen Lebensstil aufgeben musste, verlor er auch noch seine Zukünftige. Es war eine Tochter des damals größten Unternehmers Deutschlands in der Nahrungsmittel- und Getränkebranche. Kurz nach seinem Weggang aus München besuchte sie ihn eine Woche. Zu dem erwartenden Lebensstil war sie nicht bereit. Dabei gestaltete sich der für meinen Vater durchaus erträglich. Zu häufigen Einladungen zu Gesellschaften und Jagden gab es auch enge persönliche Kontakte in München.
Seine Jagdfreudigkeit beflügelte auch das Landleben. Dazu hatte er Jagdhunde in einem Zwinger im Hof. Unter dem Nachwuchs der Rassehündin war ein Spielgefährte für mich mit dem zutreffenden Namen "Treu", der mich ständig begleitete. Wenn ich ihn einsperrte, um zu einem Badeteich zu fahren, war er kurz nach meiner Ankunft da und bemühte sich später nach dem Baden, mich mit Ablecken zu trocknen.
Mein Vater fuhr an Wochenenden oft nach Dresden in seine geliebte Oper als Wagner-Enthusiast und im Sommerurlaub nach Bayreuth.
Im Dorf spielte die "Doktor"-Familie eine große Rolle. Das verpflichtete zur Teilnahme an Festlichkeiten und sozialer Wohltätigkeit. Außer dem Arzt waren Honoratioren der Pfarrer, der Forstmeister und der adelige Großgrundbesitzer Graf von Schall-Riaucour. Dieser setzte sich, wie auch die übrigen Schlossbesitzer in der Umgebung vor Ende des Zweiten Weltkriegs in den Westen ab.
Das Landleben hatte in der nachfolgenden DDR keinen Reiz mehr. Das war auch für mich ein triftiger Grund, auf die Übernahme der väterlichen Praxis zu verzichten, obwohl mir jede nur mögliche finanzielle Unterstützung von der Bürgermeisterin, die 25 Jahre zuvor mein Kindermädchen gewesen war und dem zuständigen SED-Funktionär zugesagt wurde. Deshalb wählte ich statt Sicherheit unter begrenzten Lebensbedingungen das Risiko in Freiheit. So wurde mein Leben ein dauernder Seiltanz, den ich nur mit anhaltender Arbeitsfähigkeit, meiner einzigartigen Frau und einer Menge Schwein absturzfrei überstanden habe.
Mehr Eindrücke von Zeitzeugen im Rotary Magazin 9/202 und auf rotary.de.