Titelthema
Neustart in alten Grenzen

Die Zerstörungen im Nachkriegsösterreich waren gewaltig. Aber als erstes Opfer von Hitlers Angriffspolitik durfte das Land auf umfangreiche Hilfen zum Wiederaufbau hoffen.
Der Schock saß 1945 ähnlich tief wie 1918. Aber die Hoffnung war größer. Die ersten sowjetischen Truppen hatten am 29. März 1945 österreichischen Boden erreicht. Wien wurde am 13. April befreit und erobert. Stalin ließ nach Karl Renner suchen, der ihm nicht nur als letzter frei gewählter Präsident des österreichischen Vorkriegsparlaments, sondern vielleicht auch noch von seinem Wien-Aufenthalt im Jahre 1912 in Erinnerung war, als Stalin für seine Nationalitätenstudie in der Parlamentsbibliothek recherchierte und Renner dort Direktor war. Renner fand sich in der sowjetischen Kommandantur mit anbiedernden Briefen ein, dass die „Zukunft des Landes zweifellos dem Sozialismus gehöre“, und dem handgeschriebenen Nachsatz für den „Herrn Genossen Stalin“: „Die Glorie Ihres Namens ist unsterblich!“ Renner wurde daraufhin von den Sowjets mit einer Regierungsbildung beauftragt. Ende April hatte er sein Kabinett beisammen, mit deutlich linkem Übergewicht: elf Sozialisten, sieben Kommunisten und neun Vertreter der ÖVP. Das Staatsamt für Inneres und jenes für Volksaufklärung und Unterricht waren in kommunistischer Hand, ebenso die Leitung der Staatspolizei.
Die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, mit der die Wiederherstellung der Republik Österreich verkündet wurde, knüpfte an die Moskauer Deklaration der Außenminister Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten vom 30. Oktober 1943 an, in der Österreich als erstes Opfer von Hitlers Angriffspolitik benannt worden war. Die österreichische Regierung wäre allerdings schlecht beraten gewesen, anders zu argumentieren: Opfer zu sein, ersparte nicht nur vieles, sondern einte auch. Und es entsprach durchaus den persönlichen Erfahrungen der nach 1945 Regierenden. Unter den 17 Mitgliedern der Regierung Figl I befanden sich 14, die in der nationalsozialistischen Zeit Verfolgungen erlitten hatten.
Noch vor Ende der Kampfhandlungen hatten sich die politischen Parteien wieder zu formieren begonnen: die SPÖ, die KPÖ und die ÖVP. Eine Partei rechts der ÖVP gab es vorerst nicht. Die ehemaligen NSDAPMitglieder waren vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Wahlen am 25. November 1945 endeten mit einer Ernüchterung für Stalin und einem Debakel für Renner: Die kommunistische Partei blieb mit weniger als fünf Prozent praktisch bedeutungslos. Die ÖVP errang mit 85 von 165 Mandaten die absolute Mehrheit, bildete aber eine Dreiparteienregierung. Leopold Figl wurde zum Bundeskanzler ernannt.
Von Figl sind zwei große Sätze in Erinnerung geblieben: „Glaubt an dieses Österreich!“ zu Weihnachten 1945 und „Österreich ist frei!“ am 15. Mai 1955. Zu tun gab es viel: vor allem einmal die Rückführung und Versorgung der vielen Geflüchteten, Entwurzelten und Heimatlosen. Insgesamt dürften über 550.000 Volks- und Sudetendeutsche nach Österreich gelangt sein, von denen sich etwa 320.000 auch hier ansiedelten. Mehr als 200.000 jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa wurden durch Österreich geschleust und warteten teils jahrelang auf eine Auswanderungsmöglichkeit nach Israel.
Die Zerstörungen waren gewaltig. Viele wären ohne fremde Hilfe verhungert. Das Land hat in den ersten zehn Nachkriegsjahren Auslandshilfe in der Höhe von 1585 Millionen Dollar (= 41 Milliarden Schilling auf Wertbasis 1955) erhalten. 87 Prozent davon leisteten die USA. Am 1. Juli 1948 konnte Österreich auch dem Marshallplan (European Recovery Program – ERP) beitreten. Es flossen ihm im Rahmen dieses Programms knapp eine Milliarde Dollar zu. Pro Kopf und bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt lag das im Spitzenfeld aller Marshallplanländer, und im Unterschied zu anderen Ländern war das Geld kein Kredit, sondern ein Geschenk.
Eine zentrale Herausforderung der Regierung war die Entnazifizierung der Bevölkerung und die Rückgabe der während des Nationalsozialismus geraubten Vermögen. In der Diskussion um die österreichische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wird meist mit Begriffen wie „Verdrängen“ oder „Vergessen“ argumentiert. Übersehen wird vielfach, dass zu Beginn der Zweiten Republik österreichische Gerichte eine im internationalen Vergleich beachtliche Leistung zur Ausforschung und Aburteilung von NS-Tätern vollbracht haben. Erinnert werden aber meist nur die Freisprüche in den 60er Jahren und das völlige Ende der Verfolgung von NS-Verbrechen in den 70er Jahren. Ähnlich wie hinsichtlich der Entnazifizierung ist auch hinsichtlich der Rückstellung geraubter Vermögen die Beurteilung ambivalent. Österreich hat in sieben Rückstellungsgesetzen, dem Opferfürsorgegesetz und zahlreichen weiteren gesetzlichen Regelungen beträchtliche Anstrengungen unternommen. Trotzdem sind ebenso beträchtliche Lücken und Defizite geblieben.
Das politische System der Zweiten Republik unterschied sich in einigen Punkten markant von der Ersten Republik. Genannt seien: das Konsensverhalten der politischen Eliten in der großen Koalition, der Aufbau der Sozialpartnerschaft (informell beginnend mit den fünf Lohn- und Preisabkommen zwischen 1947 und 1951) und ein dichtes Netz verstaatlichter oder unter Staatseinfluss stehender Unternehmen. Drei Viertel der Industrie und alle größeren Elektrizitätsversorgungsunternehmen, ebenso alle großen Banken und Verkehrsunternehmen standen unter Staatseinfluss. Auch war es zu einer Verlagerung wichtiger Betriebe aus der sowjetisch besetzten Zone in Richtung Westösterreich gekommen.
1950 war die unmittelbare Nachkriegszeit zu Ende. Der Oktoberstreik 1950 war die letzte große gewaltsame Konfrontation, die Österreich auf der Straße erlebte. Auch die Art der Besatzung hatte sich geändert. Die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit an den Zonengrenzen, die Zensur oder gar die Beschlagnahmen und Entführungen durch die Sowjetunion, wie sie in den ersten Jahren üblich waren, hörten auf. Besatzungskosten waren von den Westalliierten schon in den späten 40er Jahren nicht mehr eingehoben worden, 1953 wurden sie auch von der Sowjetunion erlassen. Es gab genug zu essen und die Wirtschaft blühte auf. Aber über das Ende der alliierten Besatzung und den zukünftigen Status des Landes konnte man sich lange nicht einigen: ob dauernde Besatzung, Teilung des Landes, Teil des Ostblocks oder Teil der westlichen Bündnisse und fünftens als neutraler Staat zwischen den Blöcken. Leopold Figls berühmter Satz am 15. Mai 1955 „Österreich ist frei!“ kam zwar dem Gefühlshaushalt vieler Österreicher entgegen. Den neuen Status Österreichs als neutrales Land bewertete der berühmte Kabarettist Karl Farkas aber so: „Wir müssen jetzt neutral sein. Das heißt, wir haben nix zu tun als nix zu tun – und das liegt uns ja.“

Roman Sandgruber, RC Linz-Altstadt, ist Prof. em. für Wirtschaftsund Sozialgeschichte und wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.