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Essay

Pfeift auf die Trillerpfeifen

Klaus-Peter Schöppner31.01.2016

Ist Deutschland das „Ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin-Land“? Ja. Das bezeugen Umfragen und lautstarke Proteste, die inzwischen fast alle Großprojekte begleiten. Ob der Bahnhof Stuttgart 21, die dritte Landebahn für den Münchner Flughafen, geplante Stromtrassen von Nord nach Süd oder neue Schnellstraßen – entweder treibt die Besänftigung von Bürgerprotesten die Kosten in kaum mehr finanzierbare Höhe oder notwendige Vorhaben dauern Generationen – oder werden schließlich ganz gekippt.

Während anderswo große Ideen zügig realisiert werden, breiten sich hier sofort Bedenken aus, pochen die Betroffenen auf übertriebene Absicherung und drücken sich vor der Verantwortung. Entscheidungen werden moderiert, aber nicht mehr getroffen.

Auch das demokratische Bewusstsein der Deutschen hat sich grundlegend geändert. Die repräsentative Demokratie wandelte sich zur Basismitsprache‚ zur Trillerpfeifendemokratie. Nimbys (Not in my own backyard) sind scheinbar in der Mehrheit, statt Ratio entscheiden Emotionen. Die Zukunft Deutschlands steht auf dem Spiel.

Egozentrik statt Gemeinschaft
Der Grund ist demoskopisch belegbar: Die Angst vor der Zukunft, vor wirtschaftlichem Abschwung wächst, das Vertrauen in die Entscheider sinkt, Visionen fehlen. All dies erzeugt eine Anti-Haltung und damit Egozentrik statt gemeinschaft­licher Verantwortung. Das zunehmende Empfinden, Politik und Wirtschaft aufgrund ihrer steigenden Komplexität nicht mehr zu verstehen, hat die Einstellung der Bürger grundlegend verändert. Die Risikovermeider bestimmen die öffentliche Meinung und damit Bauvorhaben und Strukturverbesserungen.

Viele Bürger sehnen sich nach Heimeligkeit und Überschaubarkeit. So zumindest der öffentliche Eindruck. Tatsache ist jedoch, dass allzu oft eine schreiende Minderheit auf eine große zustimmende Mehrheit trifft, die meist jedoch – falsch angesprochen – zu trägen „Ohne-Michels“ wird statt zu flammenden Unterstützern.

Wie wird aus der schweigenden die unterstützende Mehrheit? Dafür bietet sich ein Modell an, das das Meinungsforschungsinstitut Mente>Factum entwickelt und erprobt hat: eine auf Demoskopie basierende strategische Kommunikation, die schweigende Mehrheiten aktiviert und zugleich Konflikte mit schreienden Minderheiten transparent und aktiv managt. Ziel ist die Gewinnung einer unterstützenden Mehrheit, die im Projekt einen Mehrwert sieht. Das aber gelingt nur, wenn die Bürger durch vier Prozessphasen inhaltlich und kommunikativ begleitet werden.

In der ersten Phase müssen die Probleme und der individuelle Nutzen verdeutlicht und die Bürger aufgerufen werden, sich zu beteiligen. Was sagen angesehene Bürger und Betroffene? Alle Informationen müssen ungefiltert ins Internet gestellt werden.

In der zweiten Phase werden die Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die Bürger beteiligen können. Repräsentative Umfrageergebnisse, kombiniert mit qualitativen Expertenurteilen, bringen Meinungsführerschaft: „Wir kennen eure Wünsche, Ängste, Chancen und Risiken und richten uns danach.“ So werden Gegenargumente oft zu Minderheitenvoten. Alle Bürger erhalten die Chance mitzureden. In Bürgerforen, Zukunftswerkstätten und sozialen Netzwerken werden zusätzliche Möglichkeiten zur Beteiligung angeboten.

In der dritten Phase wird die Meinungsflut in das Gesamtkonzept integriert, durch juristische und technische Faktenchecks objektiviert, das reduziert die Gefahr einer Gegenkampagne. Presse­konferenzen, Präsentationen, stetiges Feed­back auf Bürgerfragen verdeutlichen, dass die Meinungen der Bürger ernst genommen werden.

Aktualisierung und integrierte Kommunikation stehen im Mittelpunkt der vierten und letzten Phase. Ihr Fokus: Gegenargumente ernst nehmen, mögliche Optimierungen durchführen. Von Meinungsführern und Betroffenen werden Statements eingeholt, Informationen über Nutzen und Fortgang des Projekts werden aktualisiert. Durch Events werden die Spannung und die Freude auf die Fertigstellung gesteigert. Der Dank für Entbehrungen wird betont.

Dieses Modell wurde zum Beispiel beim Neubau der Rhein-Main-Halle in Wiesbaden mit Erfolg umgesetzt. Die Befragungen lieferten den Stadtvätern nicht nur wertvolle Grundlagen für die Entscheidung, sondern zugleich die Argumentationshoheit: Wir kennen die Wünsche und Ängste wie kein anderer. Außergewöhnlich vor allem die hohe Zustimmung der Öffentlichkeit zum Verfahren selbst: 93 Prozent.

Kooperation durch Aktivierung, Vertrauen durch Ernstnehmen, Akzeptanz durch Transparenz, Planungssicherheit und bessere Kosten-Nutzen-Effizienz durch Einbeziehung des Bürger­wissens – schließlich der Konsens: Diese Ziele gilt es zu erreichen.

Nirgendwo in Europa ist die Kluft zwischen dem, was eigentlich zu tun ist und was freiwillig akzeptiert wird, tiefer als in Deutschland. Das muss nicht so bleiben. Struktur-Fairbesserungen statt Trillerpfeifen-Demokratie: Diese Fähigkeit, Zukunft zu gestalten, sollte uns einigen Aufwand wert sein.

Klaus-Peter Schöppner
Klaus-Peter Schöppner (RC Bielefeld-Süd) ist seit 2014 Geschäfts­führender Gesellschafter des Meinungsforschungsinstituts Mente>Factum. Von 1990 bis 2013 war er Geschäftsführer von TNS Emnid.

www.mentefactum.com

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