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Titelthema

Gesellschaft auf dem Pulverfass

Titelthema - Gesellschaft auf dem Pulverfass
Trotz eines langjährigen Wirtschaftsaufschwungs sind 85 Prozent der Bevölkerung über ihre eigene Zukunft beunruhigt. Ein wichtiger Indikator für die zunehmende Spaltung der Gesellschaft ist der Anstieg der Tafel-Nutzer. © ullstein bild / CARO / Ralph Lueger

Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die Unzufriedenheit bestimmter Teile der Bevölkerung in unserem Lande zunimmt. Die Frage ist, wie lange die „Noch-Soeben-Gesellschaft“ schweigt.

Klaus-Peter Schöppner01.11.2019

Als gäbe es kein anderes Politikthema mehr: Nahezu jede Debatte im Sommer und Herbst 2019 drehte sich um Klimaziele, Klimademos, Klimawandel, Klimaverhalten: Klimaschutz war und ist das mit Abstand wichtigste Thema, es entscheidet sogar Wahlen. Und wenn die Deutschen eine Agenda packt, dann wird diese breitest diskutiert, von Gut-Bürgern vereinnahmt, dann zählt politisch kaum mehr etwas anderes, koste es, was es wolle.
Doch was für ein Politikfehler! Denn die Fokussierung auf das Klima überdeckt ein anderes Thema, das die Deutschen dramatisch spaltet, von der Politik jedoch fast vollständig ignoriert wird. Das Institut Mentefactum fragte unlängst die Wähler, was unsere Gesellschaft am stärksten polarisiert, wo der stärkste Riss durch unser Land geht. Die Antworten sind eindeutig: Es ist die Spaltung in Arm und Reich, bzw. Unten und Oben: Das zumindest meinen 82 Prozent der Deutschen. Nicht Ost und West, nicht Alt und Jung, nicht Stadt und Land. Wer unsere Gesellschaft, in der 85 Prozent trotz sieben Jahren Wirtschaftsaufschwungs über ihre eigene Zukunft beunruhigt sind, wieder versöhnen will, der sollte ausgerechnet dieses Thema nicht außen vor lassen, das demokratische Wähler in die Arme der Populisten treibt: die finanzielle und mentale Spaltung, die Spaltung in Wohlhabende und Abstiegsgefährdete. Und die damit empfundenen Ungerechtigkeiten.

Wachsender Groll
Allerdings sind mit „unten“ weniger die Empfänger sozialer Transferleistungen gemeint, sondern vielmehr die Geringverdiener am unteren Ende der einstigen Mittelschicht. Dort haben die Menschen zunehmend das Gefühl, dass der Fokus der Politik den Leistungsempfängern gilt, nicht den Leistungserbringern. Die Lebenssalden einer großen Zahl von Kleinverdienern werden ignoriert. Während die Armut und die Zahl der Tafelnutzer bei uns in bedrohlichem Maße steigt, wird zur gleichen Zeit das Milliardenfüllhorn über Laute, „Nimbys“ und Wirtschaftsimmigranten ausgeschüttet. Sie bestimmen die politische Agenda und nicht zuletzt die Verteilung der Finanzen. Die Leisen und Angepassten spielen dagegen eine nur untergeordnete Rolle – und gehen oftmals leer aus.
Doch Vorsicht: Es besteht „Gelbwestengefahr“ – auch in Deutschland! Weil der erste Anlauf, die französische Protestbewegung auch hierzulande zu etablieren, im Süden im Sande verlief, wurde das Thema zu schnell von der Politik ad acta gelegt. Obwohl Finanzminister Scholz und Wirtschaftsminister Altmaier durchaus die Gefahr einer Initialzündung nicht abstreiten.
Studien des DIW belegen die ungleiche Einkommensentwicklung in Deutschland: Trotz sehr guter Konjunktur ist es nicht gelungen, die Schere zwischen Arm und Reich zu verengen und Einkommensungerechtigkeiten zu reduzieren. Um Geringverdiener machen der Aufschwung und das Exportwunder der letzten Jahre weiterhin einen großen Bogen. Der riesige Leistungsbilanzüberschuss hat sich für Viele gelohnt, am wenigsten jedoch für das ärmere Bevölkerungsdrittel.

Fehlende Anerkennung
So kommt es, dass sich weniger die Arbeitslosen oder Hartz-IV-Dauerempfänger vom Staat abwenden, sondern vielmehr die rund 30 Prozent „redlichen Kleinbürger“ in unserer Gesellschaft, die sich tagtäglich abrackern: überforderte Alleinerzieher mit Kindern, Krankenschwestern, Niedrigrentner, Supermarktkassiererinnen, Taxifahrer, Altenpfleger, Paketauslieferer. Kurzum: die „Soeben-Gesellschaft“; alle diejenigen, die aus eigener Kraft gerade noch so über die Runden kommen, für die jedoch der Kinobesuch schon schwierig und der „Malle“-Trip beinahe unerschwinglich geworden ist. Neben den materiellen Engpässen, ist ihnen eines gemeinsam: Ihnen fehlt der Respekt vor ihrer mühevollen Lebensleistung.
So ist es gut möglich, dass bei uns bald nicht mehr nur die „üblichen Verdächtigen“ protestieren, die Gewerkschafter, Linken, Studierenden, Anti-AfDler, Klimaschützer, Nimbys. Diesmal könnte die untere Mittelschicht mit noch größerer Wucht auf die Barrikaden gehen: Mieter, Pendler, Landbewohner, Alleinerziehende, Familien. Diejenigen, die tagtäglich mit großem Aufwand hochengagiert so eben über die Runden kommen und deren Leben trotzdem von Versorgungsängsten, fehlenden Zukunftsperspektiven, Abstiegsrisiken und fehlender Achtung geprägt ist.
Noch schwerer als das Finanzielle wirkt nämlich das mentale „Wo-bleibe-Ich?“. Diese Bürger fühlen sich ausgegrenzt, obwohl der Staat sie unbedingt benötigt: diejenigen, die versuchen, ohne staatliche Alimentation auszukommen, die sich trotz allem intensiv um ihre Kinder kümmern, die Strafmandate ehrlich begleichen und bei Steuererklärungen nicht tricksen. Die dann aber sehen, wie Staat und Gesellschaft ihnen ständig in die Tasche greifen: bei Mieten, Abgaben, Strom, bei der kalten Progression, bei ökologischen Forderungen nach teurerem Fleisch, höheren Parkgebühren, steigenden Benzinpreisen. Ihre Auskommensschere wird immer enger – weil der Staat an ihnen wenig Interesse zeigt, ja zumeist noch nicht einmal ein „Danke“ erübrigt.
Wer einfach schweigt und macht, hat in unserer Demonstrationsdemokratie keine Fürsprecher.

Ignoranz und Verdrängen
Bei diesen Bürgern steigt dann jedoch die Wut, wenn sie sehen, dass Banken-Boni als „systemrelevant“ gelten, beim Berliner Flughafen BER Zeitvorgaben und Kostenlawinen keine Rolle spielen, sich Ausländer ohne Bleiberecht auf Staatskosten hier einrichten können. Sie erleben, dass das Anspruchsdenken vieler Migranten das eigene deutlich übersteigt – und Kritik an unflätigem Verhalten oftmals sofort mit „Nazi“-Vergleichen gekontert wird. Wer wie Carsten Linnemann Sprachanforderungen an die Einschulung von Migranten stellt, muss einen riesigen Shitstorm über sich erdulden, obwohl über 70 Prozent der Deutschen seine Meinung teilen.
Die Kosten für die Bewältigung der Migration werden in einem Labyrinth aus Zahlen und Zuständigkeiten weichgespült; vermutlich, weil seriöse Rechnungen auf über 25 Milliarden p.a. kommen. Warum – so fragen sich viele Bundesbürger voll Frust – bleibt da so wenig für die einheimischen Abstiegsgefährdeten? So entsteht ein hochexplosives Gemisch aus Verschweigen und Zurechtweisung, aus Ignoranz und unklaren Zuständigkeiten, das unsere Gesellschaft an den Wurzeln trifft.
Ein Beispiel für den wachsenden Unmut in der unteren Mittelschicht sind die vor über 20 Jahren zu uns gekommenen Russlanddeutschen, die überall im Lande als zuverlässige und fleißige Arbeiter bekannt sind: Waren sie früher allesamt überzeugte Helmut-Kohl-Wähler, sind viele von ihnen inzwischen auf AfD-Kurs eingeschwenkt. Nicht weil sie rechtsradikal und ausländerfeindlich denken würden, sondern weil sie das Gefühl der Ungerechtigkeit umtreibt: „Wir mussten für unseren kleinen Wohlstand jahrelang extrem hart arbeiten, während heute bei Migranten oftmals eine ‚Muss nicht‘-, ‚Brauch nicht‘-, ‚Will nicht‘-Stimmung herrscht“.

Protest mit dem Stimmzettel
Es ist nicht nur das Nicht-Auskommen mit dem Einkommen, es ist in gleichem Maße das ungerechte „Und wo bleibe ich“-Empfinden, das aus den ehrlich-anspruchslos Redlichen der unteren Mittelschicht Resignationsbürger macht. Es ist die so empfundene zu geringe Rücksichtnahme der Politik auf die schweigende, angepasste Mehrheit – und das zu starke Eingehen auf die oft egozentrischen und laut fordernden Minderheiten. Rückzug und Protest mit dem Wahlzettel sind die Konsequenzen dieser „stillen“ Revolution der „Ich schaffe, andere profitieren“-Wähler. In der Folge wird mehr emotional, weniger rational gewählt; nicht Inhalte, sondern stiller Protest entscheidet Wahlen. Und der Populismus ist weiter auf dem Vormarsch.
Hinzu kommt, dass die medialen Möglichkeiten zur politischen Beeinflussung nie größer waren. Anstelle von Parteien bekommen Influencer, Skandalisierungsmedien, Inszenierungen, Pegida und andere „Grass Routes“-Bewegungen die Oberhand. Auch hier erscheinen die etablierten Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen immer hilfloser: Ihr Nichtklarkommen mit Social Media verstärkt die Durchsetzungsfähigkeit der Frechen und Lauten. Die desaströsen Wahlergebnisse von SPD und CDU sind auch darauf zurückzuführen, dass gerade ihre Klientel, die breite Mitte der Gesellschaft, heute andernorts die nötige Empathie findet. Anfang 2017 entdeckte der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz einige Wochen lang den „Kleinen Mann“ – und seine Beliebtheitswerte gingen durch die Decke. Dann wurde es still um sein Kleinbürger-Engagement – und schon bald um den Kanzlerkandidaten selbst.
Diese Gemengelage aus Leben am Abgrund, Zukunftsängsten und fehlender Anerkennung macht auch die aktuelle Klimadebatte so gefährlich: weil im wirtschaftsfernen Parlament Klima und Arbeit keine gleich große Lobby haben. Das vornehmlich aus Beamten und Berufspolitikern bestehende Parlament reagiert vornehmlich auf lauten Druck, also können sich die leisen Absturzgefährdeten nicht durchsetzen. Mit möglicherweise dramatischen Folgen. In Frankreich haben sich die Proteste der Gelbwesten am hohen Benzinpreis und an den Tempobegrenzungen entzündet. Genau das fordern Klimaschützer nun auch bei uns. Folgerichtig ist auch die Renaissance der deutschen Gelbwesten nicht auszuschließen.

Der Auftrag an die Politik
Richtig ist, dass die Wissenschaft uns über Schadstoffe, Richtwerte, Zukunftsentwicklungen aufklärt. Richtig ist aber auch, dass die Politik die diversen Interessen, Lebenslagen und Zukunftsängste miteinander in Einklang bringen muss. Was sie zumindest bislang nicht tut und damit möglichen Ausschreitungen Vorschub leistet.
Was also kann die Politik tun, um eine Brücke zwischen den Armen und Reichen, den Gesicherten und Ungesicherten, den Hofierten und Frustrierten zu schlagen? Zum einen muss sie wieder stärker die Lebensleistungen der einfachen Leute anerkennen. Dazu gehören akzeptable Arbeitsbedingungen und Sozialausgleiche für die wahrhaft Bedürftigen sowie tragfähige Leistungen für diejenigen, die ein Leben lang tätig waren und nun in der Rente auskömmlich von ihrem Einkommen leben wollen. Wenn die Bezüge und die ihnen zugrunde liegenden Leistungen zu weit auseinanderklaffen, stellt dies die Sozialsysteme elementar infrage.
Die Politik muss jedoch die Lebensleistungen der Bürger auch mental anerkennen. Warum nicht einmal laut „Danke“ sagen, Korrektheit würdigen und die Arbeit der Wähler loben? Ein bisschen mehr Menschenwürde statt der allzu oft anzutreffenden sozialen Unwürde. Die Politik muss die Aktivitäten und nicht das Nichts-tun belohnen: Keine Leistung ohne Gegenleistung! Jeder, der kann, muss seinen Beitrag leisten – und sei er auch noch so gering. Sonst bleibt der Aktive der Dumme.
Schließlich muss die Politik die Ambivalenz zwischen den Bedürftigen herstellen. Nicht nur Migranten sind zu unterstützen, sondern auch die Flaschensammler, Ausgegrenzten, Langzeit-Arbeitslosen bei uns. Jede Gruppe muss eine angemessene Unterstützung finden – die anerkannten Flüchtlinge ebenso wie kleine Leute mit überdrehter Belastungsschraube. Ambivalenz, das ist auch der Wunsch nach vergleichbaren Lebenschancen, nach Teilhabe, gerechter Entlohnung, nach mehr sozialer Solidarität. Deutschland benötigt nicht nur Ausländer-, sondern auch eine Inländerfreundlichkeit!
70 Jahre gab es in der Bundesrepublik sozialen Frieden. Dieser steht derzeit auf der Kippe wie seit Kriegsende nicht mehr. Eine neue Protestbewegung würde dann aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Und damit eine Flutwelle ungeahnten Ausmaßes zur Folge haben!

Klaus-Peter Schöppner
Klaus-Peter Schöppner (RC Bielefeld-Süd) ist seit 2014 Geschäfts­führender Gesellschafter des Meinungsforschungsinstituts Mente>Factum. Von 1990 bis 2013 war er Geschäftsführer von TNS Emnid.

www.mentefactum.com

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