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Titelthema

Rot, grün, wechselnd

Titelthema - Rot, grün, wechselnd
Fransen und Puschel: Die Cheerleader der Sun City Poms sind zwischen 61 und 91 Jahre alt. Sie treten regelmäßig bei Paraden und Kongressen, in Schulen, Seniorenheimen und Pflegeeinrichtungen sowie bei Privatpartys auf © Kendrick Brinson

Wie verschiebt sich die parteipolitische Landschaft, wenn die Babyboomer den Ruhestand antreten und das Renten- und Gesundheitssystem belasten?

Achim Goerres01.10.2025

Am 31. Dezember 2035 geht der letzte deutsche Babyboomer in Rente. Dann werden etwa 23 Millionen Menschen, die zwischen 1946 und 1968 geboren wurden, das offizielle Rentenalter erreicht haben. Was bedeutet diese Bevölkerungsentwicklung für die Politik in Deutschland? Dass so viele Menschen ein höheres Alter erreicht haben, sollte für alle ein Grund zur Freude sein. Aber für manche sind so viele Babyboomer im Rentenalter ein Grund zur Sorge, weil Deutschland einen umfänglichen Sozialstaat beheimatet, in dessen Kern eine direkte staatliche Umverteilung von arbeitenden zu nicht arbeitenden Menschen liegt, vor allem in den teuren Bereichen Gesundheit und Rente. Die hohen Kosten entstehen ursächlich nicht wegen der Babyboomer, sondern weil die Sozialstaatsprogramme heute das Ergeb­nis vieler politischer Entscheidungen von früher sind. Die schiere Größe der Babyboomer-Generation macht lediglich die jahrzehntealte Umverteilungslogik sehr deutlich.

Jetzt könnte es sein, dass die Babyboomer zwar nicht ursächlich beispielsweise für die Rentenansprüche verantwortlich sind, aber geschlossen Politikreformen verhindern. Die Menschen in Deutschland lieben grundsätzlich ihren Sozialstaat und hegen hohe Ansprüche an ihn, so auch die Babyboomer. Das Problem ist nicht, dass die Boomer mehr erwarten als die anderen, sondern dass alle so viel erwarten.

Ende gemeinsamer Prägung
Wenn man auf das Wahlverhalten der Babyboomer schaut, stellt man eine Besonderheit fest. Sie sind die letzte Generation in Deutschland, bei der wir noch eine gemeinsame politische Prägung nachweisen können (zumindest für Westdeutschland). Die Babyboomer sind viel roter und grüner als ihre Vorgeneration. Die SPD und die Grünen (und zu einem geringeren Grad die Linkspartei, die erst später dazukam) waren von Anfang an wesentlich populärer in dieser Generation als in den vorherigen. Die Umwelt- und Friedensbewegungen, veränderte Werte und ein anwachsender Wohlstand hinterließen bei den damals noch jungen Babyboomern parteipolitische Spuren.

Bei späteren Generationen ist eine generationale Prägung nicht mehr nachweisbar. Die zunehmende Schwäche der Parteien in Deutschland, Wähler dauerhaft an sich zu binden, hat auch generationale Prägungen erst verblassen und dann verschwinden lassen. Die Babyboomer sind die letzten, die zumindest noch eine gewisse Prägung aufweisen.

Sind dann nicht die Babyboomer so etwas wie ein Bollwerk gegen neuere Parteien wie die AfD, die das etablierte politische System angreifen wollen? Vielleicht sind sie das in einem sehr geringen Maße. Aber die generationale politische Prägung der Babyboomer nimmt immer mehr ab. Wechselwählerschaft wird auch für sie zur Norm, während Stammwählerschaft zur Ausnahme wird. Wähler in Deutschland werden immer wählerischer, so auch die Babyboomer.

Die Parteien kennen diese Trends abnehmender Anhängerschaft in den alten Generationen. Besonders bitter ist der Verlust von Anhängern für die CDU und CSU. Während die Union es in Westdeutschland lange gewohnt war, noch viele Stammwähler in der Vorgeneration der Babyboomer zu haben (etwa die Jahrgänge 1915 bis 1945), musste sie schon in den 1970ern und 1980ern lernen, dass ihr die neuen Babyboomer weniger zugewandt waren als der Konkurrenz von SPD und Grünen. Trotz sinkender Popularität der Union war ein kleinerer Anteil aus den Stimmen der großen Babyboomer-Generation immer noch viel.

Aber aufgrund der allgemein schwächer werdenden Bindekraft der etablierten Parteien gibt es nun auch immer weniger Babyboomer-Stammwähler. So muss die Union nun auch, ähnlich wie ihre Rivalin SPD schon früher, damit kämpfen, sich auf deutlich weniger Stammwähler verlassen zu können. Obwohl die Babyboomer weder besonders hohe Politik­erwar­tun­gen an den Sozialstaat haben, noch ihre Stimmen eine sichere Bank für die etablierten Parteien darstellen, dominieren ihre Mitglieder die höchsten Machtpositionen in der aktuellen Koalition: Bundeskanzler und CDU-Vorsitzender Merz (*1955), Arbeitsministerin und SPD-Vorsitzende Bas (*1968) und CSU-Vorsitzender Söder (*1967). Dagegen gehören der Finanzminister und SPD-Vorsitzende Klingbeil (*1978) sowie alle Vorsitzenden der Oppositionsparteien im Bundestag jüngeren Jahrgängen an. Diese Ballung der Babyboomer in den Spitzenpositionen hat aber nichts mit ihrer Generation zu tun. Sondern ein Regierungsamt im Alter zwischen 50 und 70 ist typisch für unsere Parteiendemokratie. Solche Positionen in der Regierung sind die Krönung jahrzehntelanger Karrieren in Parteien und schlagen sich häufig in diesem Alter nieder.  

Grund zum Feiern: Die Be-wohner Sun Citys feiern
mehrmals im Jahr, wie hier bei einer Roaring-Twenties-Party
Foto: Kendrick Brinson 

 

Die meisten hatten viel Glück
Was außergewöhnlich für die Babyboomer ist, ist die besondere Zeit, in der sie den Großteil ihres Lebens verbrachten. Sie wuchsen nach dem Krieg in einer Zeit des zunehmenden Wohlstandes auf. Der wachsende Staat mit seiner Versorgung in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Absicherung in schwierigen Lebenslagen war ihr treuer Begleiter. Nicht alle, aber viele Babyboomer, konnten stetig Vermögen aufbauen, gering besteuert Erbschaften antreten und von einer zunehmenden Lebenserwartung von etwa zwei Jahren pro Dekade profitieren. Nicht alle, aber viele Babyboomer hatten Glück. Insgesamt hatten viele es nicht unbedingt leicht, aber leichter, als sie es in früheren Generationen gehabt hätten.

Dieses Glück der Babyboomer steht heute im Gegensatz zum Unglück der Generation Z, etwa der Jahrgänge ab 2000. Die jungen Menschen in Deutschland durchlebten die Coronapandemie mit gestörten Bildungsverläufen und sozialem Miteinander. Sie treten in eine Arbeitswelt ein, die durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Digitalisierung große Unsicherheit aufweist. Sie müssen vielleicht in naher Zukunft Deutschland gegen einen russischen Angriffskrieg verteidigen.

Wenn man dieses Glück der Älteren und das Unglück der Jüngeren vergleicht, muss man dann nicht von den Babyboomern etwas mehr erwarten? Erwächst nicht eine besondere soziale und politische Verantwortung aus dem besonderen Glück der Boomer-Generation, ein jahrzehntelanges Glück, das so schnell vielleicht nicht wiederkommt?

Die ehemalige CDU-Familienministerin Kristina Schröder schlug 2024 einen verpflichtenden Gesellschaftsdienst für Rentner beim Renteneintritt vor. Kürzlich unterstützen auch der Soziologe Klaus Hurrelmann und der Ökonom Marcel Fratzscher diese Idee: Rentner werden direkt nach Renteneintritt verpflichtet, sich ein Jahr für die Gesellschaft einzusetzen. Im Prinzip ist es Zivil- oder Militärdienst für Senioren mit einer gesundheitlichen Musterung im Voraus. Wenn man die Babyboomer so zwangs-verpflichten würde, hätte man ein Millionenheer von fähigen Menschen, die die deutsche Gesellschaft und die Bundeswehr mit ihren Fähigkeiten, ihren Erfahrungen und ihrem Wissen unterstützen könnte.

Dieser Vorschlag provoziert. Er wäre nicht einfach umsetzbar, weil eine Reihe gesetzlicher Änderungen notwendig wäre, viele Männer zweimal einen Gesellschaftsdienst versähen und man eine riesige Infrastruktur zur Musterung bräuchte. Ein Grund, warum das Rentner-Jahr viele provoziert, ist sein Gegensatz zur Idee eines „wohlverdienten Lebensabends“. Aber ist diese Idee des wohlverdienten Lebensabends nicht fragwürdig, wenn der Lebensabend 15 bis 20 Prozent der Lebenszeit umfasst und viele in diesem „Abend“ noch ziemlich fit sind? Solch eine Idee eines Ausruhens und Genießens ist völlig neu und einzigartig in der deutschen Geschichte. Wenn die Babyboomer in diese „Lebensabend“-Phase altern, wird aufgrund ihrer Zahl deutlich, warum diese Idee nicht tragbar ist. 

Politische Anpassung nötig
Deutschland hat ein Generationenproblem. Das Schicksal war im unterschiedlichen Maß freundlich zu den Generationen. Aber es ist nicht allein an den Babyboomern, dieses Problem zu lösen. Stattdessen müssen wir uns alle verdeutlichen, dass das Leben im deutschen Sozialstaat ein riesiges Privileg ist. Unsere Risiken der Krankheit, der Arbeitslosigkeit, des Elternwerdens oder des Alleinlebens werden im Sozialstaat geteilt. Kostenloser Zugang zu sehr vielen Bildungschancen wird durch uns alle für alle ermöglicht.

Dieses Modell kann nur weiter erfolgreich sein, wenn wir die Bevölkerungsentwicklung durch politische Anpassungen begleiten. Und dann dürfen alle Starken in der deutschen Gesellschaft, egal aus welcher Generation, die gesund sind und ein gutes Auskommen haben, sich nicht fragen: Was kann ich von der Politik erwarten? Sondern: Was kann ich selbst für diese Gesellschaft tun? Dadurch dass es viele Starke unter den Babyboomern gibt, würde diese Generation automatisch ihren Beitrag leisten.

Achim Goerres

Achim Goerres ist Professor für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Spezialist für Politik in alternden Gesell-schaften, das Wahlverhalten von Menschen mit internationalen Wurzeln und Solidarität in der Politik.

Foto: Frank Vinken/dwb