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Rotary Aktuell

Schuld und Tragik eines Rotariers

Rotary Aktuell - Schuld und Tragik eines Rotariers
Luise Mehmke (Dritte von links) im Kreise ihrer Familie: Nach einer Odyssee durch psychiatrische Einrichtungen wurde sie am 6. April 1940 in Grafeneck von den Nazis ermordet. © Wernli-Wartmann

Ein Stolperstein in Stuttgart erinnert an die Ermordung Luise Mehmkes durch die Nationalsozialisten. Ihr Bruder Rolf, ein Rotarier, hegte Sympathien für das Regime.

01.10.2020

Am 9. Juli dieses Jahres wurde in Stuttgart-Degerloch vor dem Haus in der Löwenstraße 102 ein Stolperstein verlegt. Er erinnert an die Ermordung Luise Mehmkes in Grafeneck am 4. Juni 1940. Seinen Anfang hatte das Euthanasie-Programm des Nationalsozialismus in Schloss Grafeneck bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb genommen. In einem als Duschraum getarnten Nebengebäude wurden die Patienten wenige Stunden nach ihrer Einlieferung mit Kohlenmonoxid-Gas getötet und anschließend in einem eigens zu diesem Zweck errichteten Krematorium eingeäschert.

Erzogen im christlichen Glauben

Luise Mehmke, geboren am 23. Mai 1886, ist die um drei Jahre ältere Schwester des Wirtschaftsingenieurs und Fachschriftstellers Dr. Rolf Ludwig Mehmke (1889-1978). Er war 1928 einer der Mitbegründer des Rotary Clubs Stuttgart. Luise und Rolf wuchsen in einer der evangelischen Kirche verbundenen, ethisch verantwortungsbewussten Familie auf. Albert Schweitzers Maxime der „Ehrfurcht vor dem Leben“ galt ihnen als Richtschnur. Der Vater der Geschwister, Professor Dr. Rudolf Mehmke, Dr. h.c. mult., Mitglied der Leopoldina, hatte bis zu seiner Pensionierung 1922 Angewandte Mathematik an der Technischen Hochschule in Stuttgart gelehrt. Er war engagierter Sozialdemokrat, Mitglied der Pan-Europa-Bewegung, entschiedener Pazifist und ist deshalb später den Quäkern beigetreten.

Die Geschwister Luise und Rolf hingen aneinander, hielten zueinander. Ihre Lebenswege verliefen jedoch gegensätzlich. Während Rolf erfolgreich sein Architekturstudium abschloss, eine Zeit lang im Büro des berühmten Architekten und späteren Münchner Rotariers Theodor Fischer arbeitete, danach über den Beitrag der Technik zur Kulturentwicklung promovierte, bald im Ausstellungswesen reüssierte und als Fachschriftsteller und Organisator von Erfahrungsaustausch bei Unternehmensführern hohe Anerkennung fand, knickte der Lebensweg Luises nach ihrer Staatsprüfung am Lehrerinnenseminar besorgniserregend ein. Sie erkrankte an einem schwer zu diagnostizierenden Seelenleiden. Waren es Schübe von Schizophrenie? Nach Unterbringung in wechselnden Heilanstalten fand sie schließlich Aufnahme in der Nervenheilanstalt Weinsberg. Ab und an zeigte sie sich zugänglich wie eh und je, feinfühlig, regsam. Sie spielte noch immer gut Klavier. Doch anfallartig verlor sie ihre Selbstbeherrschung, reagierte aggressiv, unberechenbar. Ihr Bruder blieb ihr besorgt verbunden, er besuchte sie regelmäßig.

Lebensunwertes Leben, hieß es

Unerwartet erhielt die Familie 1940 von der Landespflegeanstalt Grafeneck die Nachricht, Luise sei an Lungenentzündung und Kreislaufschwäche verstorben und aus Gründen der Infektionsgefahr habe sie unverzüglich eingeäschert werden müssen. Luise gehörte zu den ersten Heilanstaltspatienten, denen, wie man es damals euphemistisch ausdrückte, der „Gnadentod“ gegeben wurde. Lebensunwertes Leben, hieß es. Rolf war bestürzt, als er es erfuhr. „Wenn so etwas geschehe, könne man sich keinesfalls damit identifizieren, äußerte er geschockt“, erinnert sich seine Tochter Dr. Lilla Mehmke. Sie wurde Nervenärztin nicht zuletzt auch deshalb, um Erkrankung und Ermordung ihrer Tante aufzuklären.

Dass Rolf Mehmke, ein Rotarier aus einer Familie hoher sozialethischer Gesinnung, je mit dem Nationalsozialismus sympathisiert haben könnte, mag man nicht glauben – und doch! Entgegen den Warnungen und Einsprüchen des Vaters ließ er sich schon 1933, im Jahr der Gleichschaltung, als Hitler im Volk breite Zustimmung fand und sich eine positive wirtschaftliche Entwicklung abzeichnete, auf den Nationalsozialismus ein und empfahl in einem Vortrag seinen reservierten rotarischen Clubfreunden mit philosophisch tief schürfender Begründung, sich dem Nationalsozialismus zu öffnen. Die Monatsschrift Der Rotarier publizierte seine Ausführungen. Darin erklärt Mehmke:

„Die Devise ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ bedeutet nichts anderes als das Bekenntnis zur selben Weltanschauung. Was Rotary als Ideal vorschwebt, ein Leben der Volksgenossen aus dem Dienstideal, schickt sich der neue Staat an zu verwirklichen. Der Staat ist kein kraft mythischen Hoheitsrechtes über dem Volke stehendes Wesen mehr. Seine trotzdem absolut und notfalls diktatorisch über allen stehende und erforderlichenfalles bis in die letzte private Sphäre durchgreifende Macht leitet sich viel mehr einzig und allein daraus ab, daß seine Arbeit auf die allgemeinste, letztlich entscheidende Aufgabe der Lebenserhaltung und -förderung des Volksganzen gerichtet ist. Zwei Bewegungen, die beide sich zum Dienst-Ideal bekennen, also aus derselben weltanschaulichen Wurzel entspringen, müssen sich zuletzt finden.“

Späte Aufnahme in die NSDAP

Ganz klar also: Rolf Mehmke, der private Wirtschaftsjournalist, nahe mit seinem Ohr an der Industrie, er ließ sich dazu verleiten, das Staatsverständnis des Nationalsozialismus philosophisch gelehrig zu untermauern, idealistisch und gar im Sinne des christlichen „Ein-Herz-und- eine-Seele-Gemeinschaft-Ideals“ zurechtzudeuten. Die Maxime „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ entspreche der rotarischen Maxime „Service Above Self“ gab er, Zustimmung einfordernd, zu verstehen. 

Spät erst, erst nach dem Polenfeldzug am 15. Oktober 1939, beantragte Rolf Mehmke Aufnahme in die NSDAP. Sie wurde gefällig auf den 1. Juni 1939 zurückdatiert. Tat er es, weil nun die Zeichen auf Sieg standen? Weil er befürchtete, sonst nicht UK gestellt, zum Militärdienst eingezogen und an vorderster Front verheizt zu werden, wie damals die Rede ging? Oder weil er als Parteimitglied seinen Vater vor den Bedrängnissen der Gestapo würde besser schützen können? Niemand weiß es. Liest man Mehmkes Schriften und Aufsätze über württembergische Unternehmen, so sind sie weitgehend frei von nationalsozialistischer Glorifizierung. In staatliche Dienste trat er nicht. Dass er den Rassismus der Nationalsozialisten geteilt hätte, dafür finden sich keine Belege.

Fragen an die Gegenwart und Zukunft

Rolf Mehmkes Haus in Degerloch wurde bei einem Bombenangriff auf Stuttgart schwer beschädigt. Er setzte seine journalistische Arbeit von Ersingen bei Ulm aus fort und pendelte zwischen Ersingen und Hütten oberhalb Säckingens, wo er mit seiner Frau eine neue Bleibe in einem Häuschen seiner Tochter fand. 1951 starb seine Frau an Krebs. Er heiratete einige Zeit danach die Witwe eines Schweizer Arztes in Zürich, eine Russin jüdischer Herkunft, und ließ sich 1953 in Langnau am Albis nieder. Hoch betagt starb er 1978 in Konstanz. Zu seinen rotarischen Freunden in Stuttgart nahm er nach 1945 keinen Kontakt mehr auf. Das hatte Gründe.

Der Stolperstein für Luise Mehmke und der Lebensweg ihres Bruders, des Rotariers Rolf Mehmke, sie beide geben zu denken. Der Schwester Tod ist ein Flammenzeichen der Unmenschlichkeit, des Bruders Lebensweg, er spricht von Verantwortung und Idealismus, von Verblendung und Schuld, von tragischer Verstrickung. Der Mord erschüttert. Der Lebensweg ist schwer erklärlich. Zu fragen bleibt endlos nach Folgerungen für Gegenwart und Zukunft.

Prof. Paul Erdmann (RC Stuttgart) war bis zu seiner Pensionierung Studiendirektor und Professor am Staatlichen Seminar für Schulpädagogik in Stuttgart.