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Seltsam schlingernd

Titelthema - Seltsam schlingernd
© Frank Schinski/Ostkreuz

Die Deutschen sind den Amerikanern als Nazis, Bier- und Fleischliebhaber bekannt. Von der neuen Regierung erwarten sie: nichts.

Paul Hockenos01.02.2025

Das Bild, das US-Amerikaner von Deutschland und den Deutschen haben, basiert fast ausschließlich auf den Klischees, die über die Medien und die Populärkultur vermittelt werden. Da diese einseitig und oft frivol sind, ist es nur fair zu sagen, dass die Amerikaner sehr wenig über Deutschland wissen – und auch sehr wenig erwarten. Bei den bevorstehenden Wahlen in Deutschland erwarten sie eine Regierung, die sich nicht wesentlich von denen unterscheidet, die in den letzten fünf Jahrzehnten an der Macht waren. Zumindest in diesem Punkt liegen sie goldrichtig. Traurigerweise – und zu Unrecht – sind die ersten Assoziationen der US-Amerikaner mit Deutschland Nazis, Bier und Fleisch.


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Die Assoziationen zum Zweiten Weltkrieg sind nicht ganz ungerecht, denn die Deutschen haben die abscheulichsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts begangen. Deutschland hat die Messlatte für Völkermord, Grausamkeit und Kollaboration hoch gelegt. Jemanden als „Nazi“ zu bezeichnen, ist die schlimmstmögliche Beleidigung – und die Deutschen werden noch lange darauf warten, dass sie völlig verblasst. Filme über den Zweiten Weltkrieg sind nicht mehr so populär wie früher, aber die deutschen Filme, die Amerikaner kennen, handeln von Diktatur und Krieg. Nehmen Sie zum Beispiel die drei deutschen Filme, die seit 2000 mit dem Oscar ausgezeichnet wurden: Nirgendwo in Afrika (2001), Das Leben der Anderen (2006) und All Quiet on the Western Front (2022).

Ich versuche, den Amerikanern zu erklären – dazu habe ich sogar ein ganzes Buch geschrieben –, dass das moderne Deutschland von diesem düsteren Abschnitt seiner Geschichte weit entfernt ist. Die Deutschen sind in Wirklichkeit ziemlich modern, liberal und demokratisch gesinnt, sage ich ihnen. Ich behaupte, dass Deutschland den Aufstieg eines Diktators und den Krieg, den es selbst verursacht hat, besser als jedes andere Volk aufgearbeitet hat. Tatsächlich hätte ich vor dem spektakulären Aufstieg der AfD und der blinden Verteidigung Israels (eines Volks, das einen Völkermord erlebte und nun zu einem Land wurde, das einen Völkermord an seinen eigenen Nachbarn begeht) durch die Deutschen gesagt, dass die Prozesse der Vergangenheitspolitik und der Erinnerungskultur die autoritären und rassistischen Überbleibsel dieser Ära weitgehend aus der politischen Kultur ausgetrieben haben – und dass andere Länder gut daran täten, dasselbe zu tun, insbesondere die USA. Jetzt bin ich weniger überzeugt.

2025, seltsam schlingernd
© Christian Werner/Connected Archives

Was das Bier betrifft, so ist dies ein Klischee, von dem Deutschland nicht loszukommen scheint. Kürzlich traf ich in meiner früheren Heimatstadt (Saratoga Springs im Bundesstaat New York) einen alten Schulfreund und erwähnte, dass ich eine Zeit lang in Deutschland gelebt hatte. „Bestes Bier der Welt“, stotterte er, scheinbar stolz darauf, dass er das wusste. Ich hielt mich zurück, ihm zu sagen, dass das tschechische Bier viel besser ist als die besten deutschen Sorten und dass die Deutschen auch andere Getränke herstellen und konsumieren. Das hätte ihn nur enttäuscht, denn die Menschen lieben Klischees und wollen nicht, dass sie infrage gestellt werden.

Bratwurst ist zu einem englischen Wort geworden, das im Webster’s Dictionary als „eine Art deutsche Schweinswurst, die typischerweise gebraten oder gegrillt wird“ definiert wird. Obwohl ich jetzt Vegetarier bin, habe ich als Fleischesser neben anderen deutschen Fleischprodukten auch Bratwürste sehr genossen. Ich erinnere mich, wie ich in einer deutschen Metzgerei die üppigen und vielfältigen Produkte bestaunte. Aufgewachsen bin ich mit Wurst aus dem Supermarkt. Im Februar wird Deutschland eine neue Regierung wählen. Was erwarten die Amerikaner? Ehrlich gesagt: nichts.

Die Amerikaner denken, dass die Deutschen schnell und einfach von einem Extrem ins andere wechseln. Erst sind sie Nazis, dann sind sie Pazifisten. An einem Tag bauen sie so schnell wie möglich Atomreaktoren, am nächsten sind sie wild entschlossen, die Atomkraft abzuschaffen. Und was für einen Sinn macht es, sich über die globale Erwärmung aufzuregen, wenn man die Kohle im Tagebau verbrennt? Die Amerikaner wären nicht im Geringsten überrascht, wenn die Deutschen über Nacht zu Abstinenzlern oder Veganern würden. Im Gegenteil, sie erwarten es.

Die Amerikaner halten die Deutschen für ein bisschen verrückt und deshalb für nicht vertrauenswürdig. Wie sonst lässt sich ein Volk erklären, das eine größere Energieunabhängigkeit anstrebt, indem es die russischen Gasimporte um 40 Prozent steigert, obwohl es doch Russland ist, von dem es unabhängiger werden will? Und woher, so fragen US-amerikanische Politiker, kommt dieser hyperkonservative deutsche Ansatz in der Geldpolitik? Von der außer Kontrolle geratenen Inflation der Weimarer Republik? Erst Hyperinflation, dann Währungsparanoia und die Schuldenbremse. Nur Deutsche!

Natürlich wollen die USA, dass Deutschland seinen Beitrag zur Verteidigung der Ukraine aufstockt. Die Atlantiker sind wütend, dass Deutschland diese Priorität nicht so absolutistisch sieht wie sie. Schließlich spielt sich dieses Chaos in der Nähe seiner Grenzen ab. Aber die Amerikaner sind kaum überrascht, dass Deutschland zwischen moralisierenden Äußerungen über Wladimir Putins Bösartigkeit und hohlen Aussagen über den Frieden schwankt. Erst überschlagen sie sich mit Lobeshymnen auf Russland, und dann vergleichen sie Putin mit Hitler. Das alles überrascht die US-Amerikaner nicht. Das Denken der Deutschen ist nicht wirklich logisch, von Hegel ganz zu schweigen.

Paul Hockenos
Paul Hockenos ist preisgekrönter Autor von fünf Büchern über Europa und war Fellow an der American Academy in Berlin. Er schreibt u. a. für „Foreign Policy“, „The Guardian Weekly“ und „Internationale Politik“.