Debatte
»Sich selbst auf den Prüfstand stellen«
Ein Schwerpunkt während des Rotary Instituts in Berlin ist das Thema „Mitgliederentwicklung“. Das Rotary Magazin lud vier Mitglieder aus verschiedenen Bereichen vorab zu einem Gespräch.
Finden Sie mehr Beiträge zum Thema in unserem Online-Dossier.
Im Konferenzraum der Redaktion des Rotary Magazins diskutierten der RI-Direktor Holger Knaack, der Rotary-Koordinator Peter Iblher, der langjährige Rotaracter und Jung-Rotarier Clemens Witt und Gudrun Müller-Byok, Gründungsbeauftragte des RC Hamburg-International.
Rotary Magazin: Warum muss Rotary sich beim Institut mit sich selbst befassen?
knaack: Das Institut ist dafür geschaffen worden, dass wir uns mit uns selbst beschäftigen, dass wir Rotary voranbringen, und zwar auf allen
Ebenen.
Ist Rotary im Moment in einer Phase des Wandels?
Knaack: Ja, ich hoffe. Wir in Europa haben ein spezielles Problem, das heißt Überalterung.
Müller-Byok: Ich meine, dass wir uns in der letzten Zeit nicht genügend angepasst haben an die Bedürfnisse der jungen Leute.
Knaack: Absolut richtig. Deshalb legen wir unseren Fokus bei solchen Veranstaltungen wie dem Institut genau darauf, wie wir uns ändern müssen, dass wir interessant bleiben für junge Menschen.
In den letzten zehn Jahren ist Rotary um 12.000 Mitglieder gewachsen, da könnte man eigentlich sagen, ist doch alles in Ordnung.
Iblher: Wir wollen ja vorausdenken. Wir haben einen Verlust von Jüngeren, die sagen, ich muss hier wieder raus. An diese Gruppe muss man herangehen und so die Überalterung kompensieren. Wenn es uns gelingt, sie emotional an einen Service-Auftrag anzubinden, dann überwinden sie die Berufsbelastung, die Familienbelastung – und bleiben.
WITT: Ein ganz anderer Aspekt: Wofür steht die Marke Rotary? Es wirkt unprofessionell, wenn 50 verschiedene Club-Webseiten unterschiedlich aussehen. Dann fragt man sich doch, ziehen die an einer Strippe? Sobald man auf Distrikt-, Landes-, Zonenebene geht, muss viel mehr Konstanz und Professionalisierung hinein.
Müller-Byok: Zur Stärkung der Marke gehört auch noch etwas anderes. Wir sind eine Wertegemeinschaft. Ich glaube, dass diese Werte von den jungen Leuten nicht mehr alle in dieser Form so akzeptiert werden. Sie haben zusätzliche Werte. Deswegen fühlen sich Jüngere nicht unbedingt mehr
vertreten durch Rotary.
Knaack: Ist das wirklich so?
WITT: Dass wir eine Wertegemeinschaft sind, stimmt. Aber wir sind auch wesentlich mehr. Nur mit Werten bewege ich nichts. Jede Idee muss sich auch immer umwandeln in eine Aufgabe. Und da komme ich zum nächsten Punkt: Rotarier sein ist keine Auszeichnung, sondern eine Aufgabe.
Iblher: Das stimmt. Die Wertegemeinschaft muss sich im Service zeigen. Service ist die praktische Umsetzung unserer Werte.
Müller-Byok: Aber die Wertegemeinschaft spielt meiner Ansicht nach auch eine ganz große Rolle dafür, ob wir eben weiterhin Mitglieder gewinnen können oder nicht. Wenn ich von einem Club höre, dass Mitglieder, die zehn Minuten zu spät kommen, fünf Euro in eine Kasse einzahlen müssen, dann sage ich, das ist nicht mehr zeitgemäß.
Was wäre das richtige Verhältnis zwischen Alt und Jung?
Müller-Byok: Rotary soll ein Spiegelbild der Gesellschaft sein, insofern gehören alle Altersklassen dazu. Bei der Gründung des RC Hamburg-International wollte ich nicht dem Jugendwahn verfallen, sondern war aktiv auf der Suche nach einigen, die eine gute Position, dadurch eine gute Pension in Aussicht haben und spendenbereit sind, die in der Lage sind, diesen Club am Laufen zu halten.
Knaack: Es gibt nicht das eine Alter für einen neuen Rotarier. Tolle Leute passen immer.
WITT: Rotary ist eine der wenigen Organisationen, in der es etwas gibt, was ich „inter-generation friendship“ nenne. In welcher anderen Organisation habe ich Personen im Alter von 60, 70 plus, die ich als Freunde bezeichnen würde, obwohl ich Anfang 30 bin?
Iblher: Dem Etikett eines besonders niedrigen Durchschnittsalters nachzueifern ist der falsche Weg. Es geht einfach darum, dass wir kontinuierlich junge Leute nachziehen, sodass wir immer jemanden haben, der in die Fußstapfen von denen treten kann, die ausscheiden.
WITT: Ich glaube, wir müssen nach denjenigen Menschen schauen, denen vielleicht doch nicht so stark nach Individualismus zumute ist und die gerne etwas in der Gruppe tun wollen, das nicht zu ihrem eigenen Vorwärtskommen gedacht ist. Ich glaube nicht daran, dass es nicht genug passende Leute für Rotary gibt, wir finden sie nur nicht und sie kennen uns nicht.
Müller-Byok: Bei der Clubgründung sind die Leute nicht auf mich zugesprungen und haben gefragt, ob ich sie empfehle. Sondern ich habe mir ein Profil überlegt, mir vorgenommen, möglichst viele Berufsgruppen zu bekommen, und dafür etwas getan. Es ist ganz entscheidend, dass die Clubs nicht warten, dass jemand empfohlen wird, sondern gezielt nach Personen suchen.
Iblher: Die Gewinnung von Mitgliedern ist mehr als eine Frage der Aufnahme. Das ist ein längerer Prozess. Wir müssen neue Mitglieder erst zulassen und dann auch halten. Wenn ich dafür eine Präsenz kriege, dass ich neben jemandem sitze und kaue, dann ist diese Präsenz nichts wert. Anders ist das bei Präsenzen für Hands-on-Aktivitäten, für Projekte zu Nicht-Meeting-Zeiten. Die Wertigkeit verschwindet manchmal in den Köpfen zugunsten von formalisierten, ritualisierten Veranstaltungen. Davon haben wir nichts.
Knaack: Dieses gemeinsame Essen als Grundlage für Fellowship in Deutschland ist sicher eine Sache, die sich überlebt hat. Insofern finde ich es auch gut, dass viele Clubs nicht mehr gemeinsam essen, sondern wirklich gleich in Fellowship-Gespräche und in Servicegedanken gehen. Das spart Zeit, das spart Kosten und scheint das modernere Clubprojekt zu sein.
WITT: Das regelmäßige wöchentliche Treffen ist essenziell. Wenn ich meine Clubfreunde zwei bis drei Wochen nicht gesehen habe, dann fehlen sie mir. Das schafft Verbundenheit und macht den Club stark. Dennoch ist es enorm wichtig, dass man zusammen etwas stemmt. Vieles, was Rotary auszeichnet, findet nicht im Meeting statt: Jugendaustausch, Sponsorships, Service-Projekte, internationale Besuche und so weiter.
Knaack: Das Meeting und der Ideenaustausch gehören dazu. Das Resultat muss „take action“ sein. Das unterscheidet uns von anderen Organisationen; dieses direkte persönliche Einbringen in die Projekte. Da sind wir wirklich stark.
Was ist der Mehrwert von Rotary? Was macht diese Organisation aus, das andere nicht bieten?
Knaack: Die Summe. Die Summe der Werte, die Summe der Möglichkeiten, die wir in der Organisation insgesamt bieten, aber auch die Summe der Aufgaben.
Iblher: Und die Kombination von emotionalem Engagement und fachlicher, kompetenter Lösung. Meine Antriebsfeder ist, dass ich mit Freunden zusammen etwas bewirke, das anderen hilft. Der Bereich Service als solcher muss gut sein. Das wird er durch emotionale freundschaftliche Befeuerung, welche sich wiederum auf den Service auswirkt. Dieser Zirkel ist einmalig.
WITT: Die Freundschaft ist die Basis. Daran kann ich alles andere andocken. Ich kann da mit einer Idee kommen, und wenn ich lange genug dabei bin, finde ich immer Leute, die jede Idee mit mir umsetzen.
Müller-Byok: Sie sind ein junger Club, der noch transparent und flexibel ist. Jetzt gehen Sie mal in die alten Clubs, dann sind die Strukturen natürlich schon irrsinnig verfestigt.
WITT: Ich rede dabei gar nicht nur vom Club. Der Rotary-Kindertag in Berlin zum Beispiel wird jedes Jahr besser und professioneller, weil 20 Clubs dahinterstecken. Man muss auch niemanden drängen, mitzumachen. Wer keine Lust hat, der soll auch gar nicht kommen. Man kann dann davon ausgehen, dass der Club andere Sachen macht, die ihm mehr liegen.
Knaack: Ich glaube, das ist ganz sicher auch eine Aufgabe von Instituten. Wir müssen die Rotarier aus ihrer „Komfortzone“ herausholen und sagen: Wir haben alle Möglichkeiten, wir müssen sie nur nutzen.
IBLHER: Ich bin auch Mitglied in einem älteren Club. Den gibt es schon seit einigen Jahrzehnten. Bei uns kann aber auch jeder mit einem Projektgedanken in den Club gehen, dann wird die Idee im Club präsentiert. Es folgt Kritik, die Idee wird geschliffen. Da aber auch ein großes Vertrauen im Club herrscht, erhöht sich die Chance, dass Mitglieder mit einem Vorschlag durchkommen.
WITT: Man muss nicht immer dieses auf den Club beschränkte Denken haben. Man sollte den neuen Mitgliedern auch klarmachen: Du trittst nicht diesem einen Club bei, sondern du trittst Rotary International bei. Ich würde nie versuchen, alle größeren Projekte mit nur meinem Club zu stemmen.
Knaack: Sobald man auf nationaler oder internationaler Ebene mitarbeitet, kommt der Gedanke, dass man wirklich große Sachen nur gemeinsam erreichen kann.
Es fehlt noch ein Aspekt, ohne den diese Diskussion eigentlich gar nicht geführt werden kann, und das sind die Frauen?…
Iblher: Wir sind bei bundesweit knapp neun Prozent Frauenanteil. In Indonesien gibt es einen Distrikt, der hat 48 Prozent. Wir werden uns auch in Deutschland in diese Richtung entwickeln, aber das ist sehr zäh.
Frau Müller-Byok, für den RC Hamburg-International haben Sie 50 Prozent Frauen akquiriert. Wie ist Ihnen das gelungen?
Müller-Byok: Ich habe einfach irgendwann nicht mehr nach Männern gesucht, als es genug waren.
Iblher: Auf Distriktniveau spielen Frauen eine erheblich größere Rolle als in vielen Clubs. Wir kriegen zunehmend weibliche Governors, auch bei den „Dicos“ haben wir zunehmend Frauen.
Müller-Byok: Es ist wahrscheinlich etwas schwieriger, Frauen zu gewinnen, weil sie unter der Doppelbelastung leiden. Für diese Frauen müssen wir auch etwas tun?… Man sollte zum Beispiel nicht von Präsenzpflicht, sondern von Präsenzrecht sprechen.
Knaack: Genau, bei Rotary hat man die Chance, jede Woche zu kommen. Das hat man in keiner anderen Service-Organisation.
Iblher: Grundsätzlich geht es darum, bestimmte Qualitäten in die Clubs zu kriegen. Wenn mehr als 50 Prozent der Mediziner in einer Stadt Frauen sind, ja dann müssen die sich doch irgendwie in den Clubs niederschlagen, nicht mit dem Argument der Quote, sondern mit dem Argument der Kompetenz. Es geht um die Überlebensfähigkeit der Clubs.
WITT: Aber was muss ich denn mitbringen, um ein toller Rotarier zu sein? Da steht bei mir an letzter Stelle, was jemand beruflich macht. Stattdessen frage ich doch: Wie viel Zeit hast du, hast du Lust?…
Iblher: … Fachkompetenz, Beziehungsnetz, Einsatzfreude, Entwicklungspotenzial, Teamfähigkeit, Motivation, Motivationskraft und Präsentationskompetenz. Das ist eine Auswahl von Eigenschaften, die man von neuen Mitgliedern erwartet.
WITT: Und wenn er oder sie überhaupt keine Zeit hat?
IBLHER: Dann kann ich ihn oder sie nicht aufnehmen.
Und wie gehen wir mit überalterten Clubs um?
Knaack: Wenn ein Club überaltert ist oder Schwierigkeiten hat, neue Mitglieder zu finden, dann ist die einzige Möglichkeit für mich, einen neuen Club zu gründen.
Und den anderen zu schließen?
Knaack: Nein. Es gibt ein sehr schönes Beispiel aus England. Dort haben es Mitglieder geschafft, einen neuen, interessanten Club zu gründen mit tollen Leuten, die in den Alt-Club des Ortes nicht aufgenommen worden waren. Der Erfolg war nicht, dass sie den alten schließen mussten, sondern dass Rotary mit einem Mal wieder ein neues Image in dieser Stadt bekam und auch der alte Club auf einmal wieder interessant wurde. Insofern haben beide etwas davon gehabt.
Müller-Byok: Ich habe noch ein andares Beispiel mit Vorbildcharakter. Ein Club hat, nachdem er sich entschlossen hatte, Frauen aufzunehmen, gleich drei Damen aufgenommen. So könnte man es in einem überalterten Club auch machen und zum Beispiel gleich eine Gruppe von jüngeren Leuten aufnehmen.
WITT: Es gibt ja auch Clubs, die sich aktiv entscheiden, auszusterben. Ich erinnere mich an einen Rotarier auf einer World Convention, der 88 war und meinte, er sei das sechste Mal in seinem Leben Präsident und sie wären noch sechs oder sieben Mitglieder. Und ich bin mir auch sicher, die haben in den Jahrzehnten davor wahnsinnig tolle Projekte gemacht. Aber zum Lebensabend hin war das ein Club, dessen Mitglieder einfach nur enge Freunde waren, die gar nicht mehr die Bestrebung hatten, sich zu vergrößern, und es ist doch auch total verdient, wenn so etwas passiert: Das ist ja das Schöne an Rotary. Jeder Club kann – da sind wir wieder an dem Punkt der Autonomie –, für sich selbst entscheiden, wie er Rotary leben will.
Knaack: Das große Problem ist hierbei, dass viele Clubs heute der Meinung sind, dass sie auch darüber entscheiden dürfen, ob in ihrer Stadt weitere Clubs gegründet werden oder nicht?…
WITT: Konkurrenz belebt. Auf der Ämterübergabe antreten und sagen, ich mache dieses Jahr die Dinge besser als mein Vorgänger, das scheuen viele. Das ist aber Quatsch. Ich bin doch froh, wenn ich einen Grundstein gelegt habe und mein Nachfolger sagt, Clemens, das war super, aber ich mache das noch besser.
Knaack: Absolut. Das ist für mich auch das, was wir mit dem Institut erreichen wollen. Alle wissen, dass wir etwas ändern müssen. Für mich ist das Kernproblem: Wie kriegen wir dieses Wissen in die Clubs transferiert? Und nicht nur transferiert. Sondern wie erreichen wir es, dass ein Club sich auch mal mit sich selbst und seiner Zukunft beschäftigt?
Genau: Wie könnte das wohl gelingen?
Iblher: Das trommeln und pfeifen wir natürlich auf den President Elect Training Seminaren (PETS) und den Distriktversammlungen. Aber da gibt es diese komisch semipermeable Membran, die nach unten oft dicht ist. Die Frage ist, ob wir zuweilen eine Kampagne starten sollten, bei der der Governor während seiner Clubbesuche systematisch versucht zu informieren, Anregungen für Entwicklungen zu geben, und kritische Fragen stellt?…
Knaack: …?und der einmal nicht versucht, der Nette zu sein?… Ein Governor muss jemand sein, der die Leute auch überzeugen kann. Er muss unverblümt charakterisieren, was in dem Club los ist, und es direkt ansprechen: „Ihr seid zu alt, ihr habt keinen internationalen Kontakt. Ich zeige euch einmal einen anderen Club, mit dem könnt ihr kooperieren.“ Wir müssen erreichen, dass der Club das wirklich einmal bei sich zum Thema macht.
Müller-Byok: Warum ernennt man nicht in jedem Club einen Beauftragten dafür und dann gibt es irgendwann einmal im Jahr eine Konferenz?…
Knaack: Es sollte nicht nur um Mitgliedschaft gehen. Es geht um den ganzen Club. Wir müssen uns von innen heraus so darstellen, dass die Leute bei uns klingeln und sagen, da möchte ich Mitglied werden. Insofern müssen wir alles auf den Prüfstand stellen.
Iblher: Es geht um einen vitalen Club.
WITT: Man könnte am Anfang des Clubjahres ein Wochenende lang wegfahren. Jedes Mitglied kommt so mit den Beauftragten des Clubs in Kontakt und mit zwei Vorschlägen für das zukünftige Clubleben wieder. So kommt man auch in die Lage, sich zu fragen: Wofür steht unser Club, was wollen wir erreichen? Ganz strategische Entscheidungsfindung.
Iblher: Ich würde einen Zufriedenheitscheck vorschalten. Da bekommt man auch von den Leuten zu hören, was ihnen nicht passt, die sich nie äußern, die aber schon auf dem Weg sind, aus dem Club auszutreten. Diese Informationen kann man dann als Ausgangsbasis nehmen für die Ideen-findung.
Knaack: Rotary muss sich mit sich selbst beschäftigen, damit wir uns anpassen an die moderne Zeit. Ich glaube nicht, dass wir etwas an unseren Grundwerten ändern müssen. Aber wir sollten ändern, wie wir uns selbst darstellen, auch gegenüber zukünftigen Mitgliedern, wie wir ihnen auch im Club ein Zuhause geben möchten. Das Prozedere und Vorgehen muss immer wieder auf den Prüfstand. Wir diskutieren auf dem Institut in Berlin praktisch europaweit über diese Möglichkeiten. Schließlich ist es die größte Herausforderung, die Clubs davon zu überzeugen, sich selbst auf den Prüfstand zu stellen.