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Europas Unwissen über den „Balkan“

Vision Südosteuropa

Erhard Busek14.05.2013

Vieles hat sich auf unserem Kontinent seit dem Fall des Eisernen Vorhangs verändert, das Resultat ist positiv. Dennoch gibt es Unterschiede. Nach 1989 erscholl in den ehemaligen Ländern des Warschauer Paktes der Ruf „Zurück nach Europa!“. Weniger hat man sich um Südosteuropa gekümmert, da es durch Konflikte auf sich aufmerksam machte. Den wenigsten Ländern wurde eine wirkliche Perspektive eröffnet, viel mehr glauben wir alle anderen belehren zu müssen, wie sie sich zu verhalten haben. Dass es eine Zeit braucht, Demokratie zu lernen und zu leben, eine freie Marktwirtschaft zu haben und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, das haben wir nicht richtig eingeschätzt. Für all das bezahlt die Region eine Rechnung. Es ist aber nicht nur die Region Südosteuropa, wie wir sie besser nennen sollten – denn „Balkan“ und „Balkanisierung“ sind keine freundlichen Worte –, sondern es ist auch Europa. Alle Krisenzonen sind etwa eine Flugstunde entfernt, und wir mussten inzwischen bitter lernen, dass die mangelnde Stabilität dort auch uns durch Migration, Kriegshandlungen und Instabilität beeinflusst. Damit ist die Frage, ob wir überhaupt mit diesen Ländern etwas zu tun haben, hinreichend beantwortet. Es gibt die Verantwortung des Nachbarn, der schließlich auch ein Interesse haben muss, dass es im Haus daneben ordentlich, friedlich und zukunftsorientiert zugeht. Es kommt noch dazu, dass wir in der Vergangenheit ein tüchtiges Maß an Verantwortung und damit auch Schuld auf uns geladen haben. Am Beispiel der Kosovo-Krise ließe sich leicht erläutern, dass es etwa die Habsburger waren, die die Serben aus dem Kosovo rund um 1700 mitgenommen haben, um sie in der Vojvodina, Krajina oder in Ungarn anzusiedeln – mit freiem Grund und Boden und Steuerprivileg. Die Serben wurden als Wehrbauern benützt. Schließlich wurde Serbisch als Schriftsprache in Wien entwickelt, um sie gegen die Türken instrumentieren zu können. Das haben wir alles vergessen, es zeigt aber deutlich, dass die Verantwortung schon in der Geschichte beginnt.

Region von zentraler Bedeutung

Nehmen wir aber nicht nur die Argumente der Vergangenheit, sondern auch die der Zukunft. Mit welchem moralischen Recht kann man erklären, dass Völker und Länder aus der europäischen Integration auszulassen sind? Man muss ihnen Zeit und Hilfe geben; nicht aber haben wir das Recht, uns selbst einzureden, dass wir die besseren und wichtigeren Europäer seien. Die Globalisierung führt nebenbei noch dazu, dass wir alles an Europa mobilisieren müssen, damit wir in diesem Wettbewerb der Welt bestehen können. Die strategische Bedeutung von Südosteuropa für das östliche Mittelmeer, für den Raum des Schwarzen Meers, als Brücke zu den islamischen Ländern, zur Kaukasusregion und zu Zentralasien ist von entscheidender Wichtigkeit. Hier findet nicht nur die Begegnung mit der von der Orthodoxie geprägten Welt statt, die wir überhaupt noch nicht begriffen haben, sondern auch mit der islamischen Welt. Beide Generalproben haben wir nicht bestanden. Johannes Paul II. ist zuzustimmen, wenn er von den beiden Lungenflügeln Europas spricht und die orthodoxe Welt damit meint. Schließlich ist nicht nur Benedikt von Nursia ein Heiliger Europas, sondern auch Cyril und Method, die die Evangelisierung und damit die Schrift in diesen Teil Europas gebracht haben.

Damit wird aber auch klar, dass diese Region nicht nur ein Problem von Militärbündnissen und Wirtschaftsräumen ist, sondern vor allem der Bildung. Eine Reihe von Projekten wie Schüler- und Studentenaustausch, die Identifizierung des unterschiedlichen Geschichtsverständnisses und die Heranbildung von Journalisten wurden begonnen. Die Schule hat hier eine große Aufgabe, nämlich unvoreingenommen ein Bild dieses Subkontinents zu vermitteln. Auch im Austausch kann hier viel gewonnen werden, weil vor allem das Verständnis für andere die entscheidende Brücke für die Zukunft darstellt.

Dem Staatskanzler Metternich, dem Dominator des Wiener Kongresses, wird der Satz zugesprochen: „Der Balkan beginnt am Rennweg in Wien“. Er muss es gewusst haben, denn sein Palais steht dort. Was will ich damit sagen? Die entscheidende Frage ist es nun, den Balkan eben nicht in diesem Sinn bei uns beginnen zu lassen, sondern dafür zu sorgen, dass es auch eine entsprechende Zone Europas wird. Der Stabilitätspakt der Europäischen Union für Südosteuropa ist ein guter Weg dazu, weil er die Perspektive der Integration auch für diese Länder eröffnet hat. Der Weg dorthin ist allerdings schwierig. Dennoch haben wir nicht einmal militärisch eine gewisse Stabilität gefunden, geschweige denn politisch. Was sind die Gefahren? Dass wir in einem Neokolonialismus den Menschen in Südosteuropa erklären, was sie tun sollen. Sie müssen es selbst entdecken und selber gestalten, letztlich auch selbst verantworten, denn es handelt sich um ihre Heimat. Leider hat der Westen immer nur Ankündigungen parat gehabt. So war etwa wiederholt von einem Marshallplan die Rede, in Wirklichkeit ist aber herzlich wenig geschehen. Wir erklären allen, welche Bedeutung Menschenrechte haben, tun aber herzlich wenig dazu, um auch deren Realisierung zu ermöglichen. Oft sind freiwillige Organisationen privater Art viel wirksamer als Regierungen. Wie die Korruptionsfälle der letzten Zeit bewiesen haben.

Enorme Wissenslücken

Eine wichtige Voraussetzung aber gibt es: Wir müssen überhaupt Kenntnis nehmen von diesen Ländern. Noch gibt es viele, die nicht einmal gescheit wissen, wo diese neuen „alten Länder“ liegen, wie die Hauptstädte heißen und welche Sprachen dort gesprochen werden. Es gibt auch viele Unsinnigkeiten wie etwa der Staatsname von Mazedonienen „The Former Yugoslav Republic of Macedonia“. Kann man so einen Staat bezeichnen, oder wie soll man die Bürger dieses Staates bezeichnen? Wissen wir genau, wo Moldawien liegt, welche Sprachen dort gesprochen werden und welche Bedeutung dieses Land hat? Ist uns klar, dass etwa in der Nähe von uns seit 1989 23 neue Staaten entstanden sind? Haben wir die Voraussetzungen geschaffen, um gerechte Urteile abzugeben, anstatt jener Vorurteile, die auch die Medien beherrschen?

Fragen über Fragen, die nicht nur diese Länder, sondern auch uns betreffen. Gefragt ist das Antlitz Europas, die endgültige Form des Kontinents, für die wir genauso Verantwortung haben als kleines Land, wie die großen Länder. Denn schließlich handelt es sich um Nachbarn, denn Nachbar ist heute nicht nur einer, an den wir grenzen, sondern auch derjenige, der sich in unserer mittelbaren Umgebung befindet. Zu kurz sind die Distanzen geworden. Auf der einen Seite sind wir ungeheuer stolz auf die kulturelle Vielfalt, die uns letztlich auch die Vermischung mit den Menschen aus diesen Ländern gebracht hat. Auf der anderen Seite entwickeln wir aber auch eine gewisse Xenophobie. Natürlich ist Europa schwieriger geworden. Früher konnte man zwischen Ost und West unterscheiden, heute müssen wir uns über eine differenzierte Landschaft auch ein differenziertes Bild machen. Bildungsaufgabe genug, wobei es sich nicht um ein Wissen handelt, damit man Kreuzworträtsel besser lösen kann, sondern eines, das wir brauchen, um wirklich gute Europäer zu sein.

Die Verantwortung der österreichischen Rotarier für diese Region ist nicht nur eine schöne und herausfordernde Aufgabe, sondern entspricht einer tiefen Verpflichtung unseres Landes, nicht nur aus der Geschichte, sondern auch aus der Nachbarschaft. Man sagt uns nach, dass wir das Talent haben, uns in ihre Situationen einzufühlen. Wir haben dabei auch wirtschaftlich sehr viel profitiert, ohne es uns jeweils wirklich zugeben zu wollen. Rotary übernimmt hier eine Verantwortung, die den Prinzipien unserer Organisation entspricht. Wir können stolz darauf sein, was bisher schon geschehen ist, denn in relativ kurzer Zeit sind hier weite Wege durchschritten worden, um die Menschlichkeit unseres Zusammenlebens sicherzustellen.