Von Erfahrung lernen
Zehn Erkenntnisse für eine erfolgversprechende Entwicklungspolitik
Etwa 60 Millionen Menschen sollen nach Informationen von UN-Organisationen derzeit weltweit auf der Flucht sein. Menschen fliehen vor politischer Verfolgung, sozialer Diskriminierung und vor allem vor drohender und akuter Armut – nicht immer, aber meist den Folgen fehlgeleiteter Entwicklungspolitik vor Ort und von Seiten der Industrieländer, aber auch von internationalen Organisationen. Kriegerische Auseinandersetzungen spitzen diese problematischen Gegebenheiten zu. Deshalb ist das Bild, das die gegenwärtige Weltlage vermittelt, verheerend: „die Welt im Chaos“ – ein oft gehörtes Stichwort.
Was ist fehlgelaufen? Oder dringlicher, weil zukunftsbezogen gefragt: Von welchen Prioritäten müsste eine konstruktive Entwicklungspolitik auf allen Ebenen geleitet sein? Gibt es empirisch belegbare Erkenntnisse über erfolgreiche Entwicklungswege? In der Tat, sie gibt es – angesichts sowohl positiver als auch negativer Erfahrungen mit Entwicklungsprozessen innerhalb des gesamten Europa (von Finnland bis Portugal, von Island bis Rumänien) und auch weltweit (von Ostasien bis Subsahara Afrika). Diese Erkenntnisse lassen sich in zehn Punkten benennen:
- Ohne eine vorgängige und die Industrialisierung begleitende Produktivkraftentfaltung im landwirtschaftlichen Sektor ist eine gedeihliche Entwicklung nicht zu erwarten.
- Industrialisierung muss landwirtschaftsnahe beginnen, ehe später weitere Schritte in die große Industrie getan werden können.
Es kommt auf die Erschließung von Märkten für die Nachfrage breiter Bevölkerungsschichten an. Die Warenangebote müssen sich zunächst auf „einfache“ Güter ausrichten. - Eine nur mäßige Ungleichheit in der Verteilung von Grund und Boden sowie der Einkommen hat einen positiven entwicklungsstrategischen Stellenwert, um Binnenmärkte breit gefächert zu erschließen.
- Um ggfs. fehlende natürliche Ressourcen zu kompensieren und die Grundlage für Innovationen zu legen, ist die Mobilisierung von intellektuellen Fähigkeiten durch ein vielgliedriges Erziehungssystem notwendig.
- Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, fremde Technologien an landeseigene Bedürfnisse anzupassen und auch eigene angemessene Technologien zu schaffen.
- Ein solcher Entwicklungsweg bedarf der außenwirtschaftlichen Absicherung, um ihn binnenwirtschaftlich zu fördern und gegen nachteilige Einflüsse in der Folge eines immer drohenden Verdrängungswettbewerbs von Seiten höher entwickelter Gesellschaften abzuschirmen.
- Allerdings wirkt zu viel Schutz entwicklungshemmend, während zu wenig Schutz entmutigt.
- Es kommt auf die Selektivität von Förderungs- und Schutzmaßnahmen an, somit auf die weitsichtige, kluge Politik des sogenannten Entwicklungsstaates.
- Da in einem Entwicklungsprozess immer neue soziale Gruppierungen mit eigenen Interessen und Identitäten entstehen, sind sich erweiternde Chancen für politische Beteiligung und somit ein schrittweiser Demokratisierungsprozess unerlässlich, damit unvermeidliche Konflikte zivilisiert bearbeitet werden.
Die genannten entwicklungspolitischen Imperative werden vielleicht als zu allgemein empfunden, um in entwicklungspolitischer Praxis von operativer Bedeutung sein zu können. Tatsächlich sind sie aber äußerst konkret; so konkret, dass sie in der politischen Praxis umstritten sind. Nicht weil sie für unvernünftig gelten, sondern weil sie in aller Regel der Logik des jeweiligen Status quo zuwider laufen. Welcher entwicklungspolitischen Orientierung man folgt, ist bekanntlich vor allem eine Machtfrage. Und wer Macht hat – so die kluge Aussage eines führenden Politikwissenschaftlers des 20. Jahrhunderts, Karl W. Deutsch – glaubt, es sich leisten zu können, nicht lernen zu müssen. In diesem Sachverhalt spiegelt sich die fatale Problematik gängiger Entwicklungspolitik.