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Ukraine-Krieg

Westliche Abschreckung und russischer Nihilismus

Ukraine-Krieg - Westliche Abschreckung und russischer Nihilismus
Ehrengarde der russischen Armee. © PIxabay

Aktuell spitzt sich die Lage im Ukraine-Krieg weiter zu.

Werner Thiede01.11.2024

Sollte der Westen den ukrainisch ge­wünschten Einsatz von Langstreckenraketen mit Zielen in Russland doch noch genehmigen – als Antwort auf irani­sche Lieferungen von ballistischen Kurzstrecken-Raketen an Russland und im Sinne von Präsident Selenskyjs „Siegesplan“ –, droht die russische Regierung mit dem Einsatz von Nuklear­waffen. Dieser wurde heuer schon wiederholt geprobt. Zudem hat der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich die Atomdoktrin seines Landes verschärfen las­sen – und zwar in dem Sinn, dass künftig eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Atomwaffenstaat unter Beteili­gung oder Unterstützung eines Atomwaffen­staates als gemein­sa­mer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden soll. Westliche Kommentatoren bezeichnen diese Maßnahme zumeist als deutliche Eskalation. Schon rund zwei Monate zuvor hatte Russ­land klargestellt, dass im Falle einer Stationie­rung von US-Raketen in Deutsch­land mit einer nuk­learen Ant­wort zu rechnen sei. Was man im Westen leichthin als psycholo­gische, kaum ernst zu neh­mende Drohkulisse zu deuten pflegt, könnte bei weiterer Eskalation tatsächlich brandge­fährlich werden. Denn es geht bei alledem nicht nur um Psycho­logie, son­dern auch – ja: um Philoso­phie.

Hierzu muss man wissen, dass die philosophische Denkrichtung des modernen Nihi­lismus in Russland eine durchaus beachtliche Tradition hat. Diese negative Art von Metaphysik aber könnte mili­tä­rische Einschätzungen enorm beeinflussen. Denkt der russische Re­gent selbst nihi­lis­tisch? Dafür spricht einiges – auf den ersten Blick bereits seine kaum nach Men­schen­würde und Recht fragende „Spezialoperation“ in der Ukraine einschließ­lich der ihm zur Last gelegten Kriegsverbrechen. Im „Religionsphilosophischen Salon“ Ber­lins hat Chris­tian Modehn Putins Verwurzelung in ni­hilistischem Denken längst nachgewie­sen. Sein Fazit: Es gehe „um einen Kampf gegen den gefähr­lichsten und barbarischsten unter allen Nihi­listen.“

Der russische Politikwissenschaftler und Präsi­dentenberater Sergej Karaga­now sieht alles auf einen „ther­mo­nuklearen Krieg“ hinauslaufen. Putin tut offenbar wenig, um diese tragische Entwicklung abzubremsen. Tatsächlich ist er philosophisch ziemlich belesen. Genauer infor­miert hierüber das Buch „In Putins Kopf“ von 2016, das nach Beginn des Ukra­inekriegs 2022 in aktualisierter Neu­aus­gabe erschienen ist. Verfasst hat es der Journalist und Philo­soph Michel Eltchaninoff – wobei er sich auf Putins Prägung durch jene rus­si­sche Philosophen konzentriert, die seine Politik zunehmend in nationa­listische und impe­ria­lis­tische Rich­tung vorangetrieben haben – namentlich Iwan Iljin und Alexander Du­gin. Doch im Hinter­grund dürften nihilistische Denkmuster bei Putin ihre grund­sätzlichere Rolle spielen.

Gängige Lexika definieren „Nihilismus“ als Überzeugung von der Nich­tigkeit und Sinnlo­sig­keit alles Seienden sowie als Verneinung aller Werte und Ziele. Doch schon Fried­rich Nietz­sche hat gezeigt, dass und wie aus nihilistischem Denken sehr wohl neue Ziele und Wer­te er­wachsen können. Dabei erblickte der deutsche Philosoph gera­de auch im russischen Nihi­lis­mus eine zukunftweisende Kraft, ja er forderte gar ein „unbedingtes Zusammengehen mit Russland“ und lobte Russlands Wil­len zur Autorität. Zumal er bei sol­cher Sichtweise das Mit­tel des Krie­ges keines­wegs ablehnte, dürfte Putin ihn mit Genuss ge­lesen haben – wohl auf russisch, denn in diese Spra­che waren sämtliche Werke Nietzsches längst übersetzt worden.

Mit nihilistischem Denken verbindet sich kein Glaube an Himmel und Höl­le. Mit Höllenfeuer scheint Putin ja auch wirklich nicht zu rechnen – zu men­schen­ver­ach­tend und skrupellos ist dazu sein Vorgehen! Vielmehr war es der ukrainische UN-Bot­schafter Serhij Kyslyzja, der im UN-Sicher­heits­rat angesichts des Kriegsbeginns auf die reli­giöse Per­spektive hin­gewiesen hat: „Es gibt kein Fegefeuer für Kriegsverbrecher: Sie kom­men direkt in die Hölle!“ Dagegen hat Putin auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Peters­burg am 17. Juni 2023 erklärt, der Westen glaube zwar an seine ewige, gottge­woll­te Do­mi­nanz in einer unipo­laren Welt, doch das sei ein Irrglaube, denn Verän­derungen seien das, was in der Geschichte passiere – und wörtlich: „Es gibt nichts Ewiges.“ Dieser Satz lässt sich als indirektes Be­kenntnis zum Nihilismus deuten.

Allerdings gibt es Profile, Züge und Fotos, die Putin als religiösen Menschen erscheinen las­sen. Tatsächlich hat ja die Orthodoxe Kirche im Kontext seines Im­peria­lismus einen gewissen Ort, allerdings wohl nur insofern, als sie historisch kulturel­ler Be­standteil des russi­schen Ge­samtimperiums war und ist, also formal zur russisch-nationalen Identi­tät gehört. Wie einem Wort Jesu zufolge jeder Baum seine Früchte trägt, so sehen die Früch­te des Han­delns Putins eher danach aus, als wurzelten sie in einem atheistischen Nihilis­mus – durchaus in einem agil verstandenen Sinn wie bei Nietzsche und übrigens auch bei Sartre.

Bedenkt man dies, dann sollte der Abwehrkampf gegen Putin mit aller Vor­sicht und Taktik geführt wer­den, da nun einmal dessen noch nie dagewesene Macht­fülle harte Realität ist. Was hülfe es, wenn der Westen und die Ukraine auf die Dauer mi­li­täri­sche und moralische Überle­genheit beweisen würden und das Ganze schließlich doch in einem nuk­lea­ren Fiasko endete? Sollten die Dinge für Putin auf dem Schlachtfeld infolge weiterer Eskalation schlecht laufen, verlöre er nicht nur weltweit an Ansehen, sondern er büßte dann seine Ehre vor allem auch im eigenen Land ein. Die nihilistische Konsequenz könnte sehr wohl darin bestehen, sich durchs Drücken des roten Knopfes ein unauslösch­liches Denkmal in der Geschichte der Russ­lands und der gesam­ten Menschheit zu setzen.

Gestützt würde die Versuchung hierzu durch die in mancher Hinsicht wohl gegebene waffen­technische Überlegenheit Russlands – namentlich auf dem Gebiet der Hyperschall-Raketen. Die Fol­gen eines Atomkriegs aber wären letztlich weltweit katastrophal und der­maßen ver­nich­tend – eben in die Tat umgesetzter Nihi­lismus! –, dass es eigentlich kein politischer Ver­ant­wortungsträger pokernd darauf ankommen las­sen sollte. Indes – eben darauf an­kommen lassen könnte es eines Tages ein konsequent nihilistisch denkender und han­delnder Putin, beflügelt durch gewisse Erfolgsaussichten einer massi­ven Erst­schlagskapazität. Zwar weiß er, dass die Kapazität zur nuklearen Erwi­derung auch nach einem erlittenen Erstschlag im Wes­ten vorhanden bleibt. Aber was abstrakt gesehen als Ab­schre­ckung dienen mag, muss den Nihilisten keineswegs nachhaltig abschrecken. Denn kalkuliert des­sen Para­dig­ma den mög­lichen Untergang nicht trotzig ein?

Bestärken dürfte Putin darin sein Haus- und Hof-Philosoph Dugin: Dem zu­fol­ge ist bei Wei­terent­wicklung der jetzigen Zustände eine apokalyptische Kata­stro­phe zu er­warten. An­geblich deuten alle Phänomene auf das Ende eines „langen histo­rischen Zyklus“ hin, das mit dem Nie­dergang der westlichen Welt in den Selbstmord der menschlichen Gattung münden werde. Auch in den russischen Medien sind solche Gedanken­gänge auffal­lend präsent, was im Wes­ten aber kaum wahr- und ernstgenommen wird.

So wie einst der Diktator Adolf Hitler, militärisch um seine Ehre gebracht, im Suizid endete, könnte ein in die Enge getriebener, noch viel mächtigerer Putin nihilistisch einen er­weiterten Suizid beschließen. Stellen allein schon seine atomaren Drohungen einen vielfach beklagten Zivilisa­tions­bruch dar, so wäre die Umsetzung dieser in Putins Kopf woh­nenden Gedanken eben ein Zivi­lisationsabbruch. Man dürfe keinesfalls auf den psycho­logi­schen Effekt von Putins Drohungen herein­fallen, wird oft gesagt. Was aber, wenn solche ihrerseits „psycholo­gischen“ Er­wägungen zu kurz greifen, indem sie den philosophischen Hintergrund bei Putin außer Acht lassen? Jedenfalls illustrieren die ge­genwärtigen Welt­ereignisse, wieviel doch auch an metaphysischen Einstellungen positiver oder negativer Art liegt, gerade wenn es um die schwergewichtigen Fragen von Krieg und Frieden geht.

Werner Thiede

Prof. Dr. Werner Thiede ist Pfarrer der Evangelisch-­Lutherischen Landeskirche in Bayern und war u. a. von 2001 bis 2016 Professor für ­Systematische ­Theologie an der Universität ­Erlangen-Nürnberg. Zuletzt erschienen u.a. „Evangelische Kirche. Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kurs­bestimmung“ (WBG 2017) und „Überm Chaos heiliger Glanz: Glaubensgedichte“ (Gesellschaft für Innere und Äußere Mission Abt. Freimund Verlag, 2018).

werner-thiede.de

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