Ukraine-Krieg
Westliche Abschreckung und russischer Nihilismus
Aktuell spitzt sich die Lage im Ukraine-Krieg weiter zu.
Sollte der Westen den ukrainisch gewünschten Einsatz von Langstreckenraketen mit Zielen in Russland doch noch genehmigen – als Antwort auf iranische Lieferungen von ballistischen Kurzstrecken-Raketen an Russland und im Sinne von Präsident Selenskyjs „Siegesplan“ –, droht die russische Regierung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Dieser wurde heuer schon wiederholt geprobt. Zudem hat der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich die Atomdoktrin seines Landes verschärfen lassen – und zwar in dem Sinn, dass künftig eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Atomwaffenstaat unter Beteiligung oder Unterstützung eines Atomwaffenstaates als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden soll. Westliche Kommentatoren bezeichnen diese Maßnahme zumeist als deutliche Eskalation. Schon rund zwei Monate zuvor hatte Russland klargestellt, dass im Falle einer Stationierung von US-Raketen in Deutschland mit einer nuklearen Antwort zu rechnen sei. Was man im Westen leichthin als psychologische, kaum ernst zu nehmende Drohkulisse zu deuten pflegt, könnte bei weiterer Eskalation tatsächlich brandgefährlich werden. Denn es geht bei alledem nicht nur um Psychologie, sondern auch – ja: um Philosophie.
Hierzu muss man wissen, dass die philosophische Denkrichtung des modernen Nihilismus in Russland eine durchaus beachtliche Tradition hat. Diese negative Art von Metaphysik aber könnte militärische Einschätzungen enorm beeinflussen. Denkt der russische Regent selbst nihilistisch? Dafür spricht einiges – auf den ersten Blick bereits seine kaum nach Menschenwürde und Recht fragende „Spezialoperation“ in der Ukraine einschließlich der ihm zur Last gelegten Kriegsverbrechen. Im „Religionsphilosophischen Salon“ Berlins hat Christian Modehn Putins Verwurzelung in nihilistischem Denken längst nachgewiesen. Sein Fazit: Es gehe „um einen Kampf gegen den gefährlichsten und barbarischsten unter allen Nihilisten.“
Der russische Politikwissenschaftler und Präsidentenberater Sergej Karaganow sieht alles auf einen „thermonuklearen Krieg“ hinauslaufen. Putin tut offenbar wenig, um diese tragische Entwicklung abzubremsen. Tatsächlich ist er philosophisch ziemlich belesen. Genauer informiert hierüber das Buch „In Putins Kopf“ von 2016, das nach Beginn des Ukrainekriegs 2022 in aktualisierter Neuausgabe erschienen ist. Verfasst hat es der Journalist und Philosoph Michel Eltchaninoff – wobei er sich auf Putins Prägung durch jene russische Philosophen konzentriert, die seine Politik zunehmend in nationalistische und imperialistische Richtung vorangetrieben haben – namentlich Iwan Iljin und Alexander Dugin. Doch im Hintergrund dürften nihilistische Denkmuster bei Putin ihre grundsätzlichere Rolle spielen.
Gängige Lexika definieren „Nihilismus“ als Überzeugung von der Nichtigkeit und Sinnlosigkeit alles Seienden sowie als Verneinung aller Werte und Ziele. Doch schon Friedrich Nietzsche hat gezeigt, dass und wie aus nihilistischem Denken sehr wohl neue Ziele und Werte erwachsen können. Dabei erblickte der deutsche Philosoph gerade auch im russischen Nihilismus eine zukunftweisende Kraft, ja er forderte gar ein „unbedingtes Zusammengehen mit Russland“ und lobte Russlands Willen zur Autorität. Zumal er bei solcher Sichtweise das Mittel des Krieges keineswegs ablehnte, dürfte Putin ihn mit Genuss gelesen haben – wohl auf russisch, denn in diese Sprache waren sämtliche Werke Nietzsches längst übersetzt worden.
Mit nihilistischem Denken verbindet sich kein Glaube an Himmel und Hölle. Mit Höllenfeuer scheint Putin ja auch wirklich nicht zu rechnen – zu menschenverachtend und skrupellos ist dazu sein Vorgehen! Vielmehr war es der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja, der im UN-Sicherheitsrat angesichts des Kriegsbeginns auf die religiöse Perspektive hingewiesen hat: „Es gibt kein Fegefeuer für Kriegsverbrecher: Sie kommen direkt in die Hölle!“ Dagegen hat Putin auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg am 17. Juni 2023 erklärt, der Westen glaube zwar an seine ewige, gottgewollte Dominanz in einer unipolaren Welt, doch das sei ein Irrglaube, denn Veränderungen seien das, was in der Geschichte passiere – und wörtlich: „Es gibt nichts Ewiges.“ Dieser Satz lässt sich als indirektes Bekenntnis zum Nihilismus deuten.
Allerdings gibt es Profile, Züge und Fotos, die Putin als religiösen Menschen erscheinen lassen. Tatsächlich hat ja die Orthodoxe Kirche im Kontext seines Imperialismus einen gewissen Ort, allerdings wohl nur insofern, als sie historisch kultureller Bestandteil des russischen Gesamtimperiums war und ist, also formal zur russisch-nationalen Identität gehört. Wie einem Wort Jesu zufolge jeder Baum seine Früchte trägt, so sehen die Früchte des Handelns Putins eher danach aus, als wurzelten sie in einem atheistischen Nihilismus – durchaus in einem agil verstandenen Sinn wie bei Nietzsche und übrigens auch bei Sartre.
Bedenkt man dies, dann sollte der Abwehrkampf gegen Putin mit aller Vorsicht und Taktik geführt werden, da nun einmal dessen noch nie dagewesene Machtfülle harte Realität ist. Was hülfe es, wenn der Westen und die Ukraine auf die Dauer militärische und moralische Überlegenheit beweisen würden und das Ganze schließlich doch in einem nuklearen Fiasko endete? Sollten die Dinge für Putin auf dem Schlachtfeld infolge weiterer Eskalation schlecht laufen, verlöre er nicht nur weltweit an Ansehen, sondern er büßte dann seine Ehre vor allem auch im eigenen Land ein. Die nihilistische Konsequenz könnte sehr wohl darin bestehen, sich durchs Drücken des roten Knopfes ein unauslöschliches Denkmal in der Geschichte der Russlands und der gesamten Menschheit zu setzen.
Gestützt würde die Versuchung hierzu durch die in mancher Hinsicht wohl gegebene waffentechnische Überlegenheit Russlands – namentlich auf dem Gebiet der Hyperschall-Raketen. Die Folgen eines Atomkriegs aber wären letztlich weltweit katastrophal und dermaßen vernichtend – eben in die Tat umgesetzter Nihilismus! –, dass es eigentlich kein politischer Verantwortungsträger pokernd darauf ankommen lassen sollte. Indes – eben darauf ankommen lassen könnte es eines Tages ein konsequent nihilistisch denkender und handelnder Putin, beflügelt durch gewisse Erfolgsaussichten einer massiven Erstschlagskapazität. Zwar weiß er, dass die Kapazität zur nuklearen Erwiderung auch nach einem erlittenen Erstschlag im Westen vorhanden bleibt. Aber was abstrakt gesehen als Abschreckung dienen mag, muss den Nihilisten keineswegs nachhaltig abschrecken. Denn kalkuliert dessen Paradigma den möglichen Untergang nicht trotzig ein?
Bestärken dürfte Putin darin sein Haus- und Hof-Philosoph Dugin: Dem zufolge ist bei Weiterentwicklung der jetzigen Zustände eine apokalyptische Katastrophe zu erwarten. Angeblich deuten alle Phänomene auf das Ende eines „langen historischen Zyklus“ hin, das mit dem Niedergang der westlichen Welt in den Selbstmord der menschlichen Gattung münden werde. Auch in den russischen Medien sind solche Gedankengänge auffallend präsent, was im Westen aber kaum wahr- und ernstgenommen wird.
So wie einst der Diktator Adolf Hitler, militärisch um seine Ehre gebracht, im Suizid endete, könnte ein in die Enge getriebener, noch viel mächtigerer Putin nihilistisch einen erweiterten Suizid beschließen. Stellen allein schon seine atomaren Drohungen einen vielfach beklagten Zivilisationsbruch dar, so wäre die Umsetzung dieser in Putins Kopf wohnenden Gedanken eben ein Zivilisationsabbruch. Man dürfe keinesfalls auf den psychologischen Effekt von Putins Drohungen hereinfallen, wird oft gesagt. Was aber, wenn solche ihrerseits „psychologischen“ Erwägungen zu kurz greifen, indem sie den philosophischen Hintergrund bei Putin außer Acht lassen? Jedenfalls illustrieren die gegenwärtigen Weltereignisse, wieviel doch auch an metaphysischen Einstellungen positiver oder negativer Art liegt, gerade wenn es um die schwergewichtigen Fragen von Krieg und Frieden geht.
Prof. Dr. Werner Thiede ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern und war u. a. von 2001 bis 2016 Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt erschienen u.a. „Evangelische Kirche. Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kursbestimmung“ (WBG 2017) und „Überm Chaos heiliger Glanz: Glaubensgedichte“ (Gesellschaft für Innere und Äußere Mission Abt. Freimund Verlag, 2018).
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