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Wie weiter an den Grenzen?

Aktuell - Wie weiter an den Grenzen?
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Zu den Beschlüssen des Verwaltungsgerichtes Berlin vom 2. Juni 2025 – VG 6 L 191/25 und andere – in Sachen Zurückführung von asylsuchenden Somaliern

10.06.2025

Kaum eine Debatte wird seit geraumer Zeit erbitterter geführt als diejenige darüber, ob es gegen europäisches Recht verstößt, Ausländer, die illegal aus einem EU-Staat nach Deutschland einreisen, dorthin zurückzuschicken, auch wenn sie Asyl beantragen.

Sie ist befeuert worden durch Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2025, mit denen die Zurückführung somalischer Asylbewerber, die illegal nach Deutschland eingereist und in Frankfurt/Oder von Grenzbeamten der Bundespolizei aufgegriffen worden sind, für rechtswidrig erklärt und untersagt worden ist. 

Damit haben die Kritiker der von der neuen Bundesregierung verfolgten Praxis im Umgang mit solchen Migranten Oberwasser erhalten.

Die nicht nur heimliche Freude über diese Gerichtsentscheidungen gipfelte in Kommentaren wie "schallende Ohrfeige", "nationaler Alleingang", "krachende Niederlage" bis "Rechtsbruch mit Ansage". Selbst vor dem Schüren von Angst, die Grenzbeamten müssten nunmehr befürchten, wegen Freiheitsberaubung und Nötigung sogar strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, schreckte ein hoher Funktionär  der Polizeigewerkschaft nicht zurück.

Der Verfasser versucht, das geradezu ritualhafte öffentliche Herunterbeten dieser auch in den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten und natürlich von den Oppositionsparteien Linke und Grüne einseitig vertretenen Auffassung einer juristischen Einordnung zuzuführen.

Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin diese Schlussfolgerungen ebenso wenig hergeben wie sie die Bundesregierung verpflichten, die eingeschlagene "Marschrichtung" bei dem Versuch, die illegale Einreise von Migranten zu verhindern, aufzugeben.

Jeden Tag werden in Deutschland zig behördliche Entscheidungen von Verwaltungsgerichten der ersten Instanz aufgehoben. Diese erstinstanzlichen Entscheidungen können von den Berufungsinstanzen (Oberverwaltungsgerichten beziehungsweise Verwaltungsgerichtshöfen) korrigiert oder auch bestätigt und letztinstanzlich vom Bundesverwaltungsgericht im Wege der Revision noch einmal fachgerichtlich überprüft werden. Gelegentlich schließt sich gar ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof an. 

Keiner käme auf die Idee, nach einer Entscheidung eines einzelnen unteren Verwaltungsgerichts, dazu noch in einem Eilverfahren ergangen, von einem "Rechtsbruch" der handelnden Beamten oder ihrer Verwaltungsspitze zu reden, weil die Maßnahme vom Gericht als rechtswidrig bezeichnet worden ist. 

Geradezu abwegig und zynisch ist das Angsteinflößen vor strafrechtlichen Konsequenzen, die die Grenzbeamten zu gewärtigen hätten.

Rechtswidrig ist nun einmal die in § 113 Abs.1 VwGO verwendete Formulierung, nach der Verwaltungsakte und sonstige exekutive Maßnahmen aufgehoben oder untersagt werden, wenn sie zugleich Rechte des Klägers beziehungsweise - wie in Verfahren zur Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes, sogenannten Eilverfahren - des Antragstellers verletzt.

Sich als Bundesregierung von einer solchen Einzelfallentscheidung für ihre generelle politische Strategie beeindrucken zu lassen, ist auch in anderen Fällen nicht angezeigt und auch nicht erfolgt. Selbstverständlich wird die Bundesregierung in den entschiedenen Fällen die Beschlüsse des Gerichts beachten und befolgen.

Die verschärfte Diskussion im Anschluss an die Beschlüsse des Berliner Verwaltungsgerichts gibt Anlass, sie auch sprachlich und begrifflich zu beleuchten.

Wer nämlich die Begriffe nicht beherrscht, kann auch eine Diskussion nicht beherrschen. Diese beginnt schon mit der falschen Bezeichnung der Form der Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2025 als Urteil. Es handelt sich nicht um Urteile, sondern  - wie regelmäßig in sogenannten Eilverfahren - um Beschlüsse, die hier kraft Gesetzes zudem auch noch unanfechtbar sind. Das ist nicht nur eine semantische Wortklauberei, sondern ein qualitativer und inhaltlicher Unterschied.

In durch Beschluss entschiedenen Eilverfahren wird nach lediglich summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage eine vorläufige Regelung getroffen und die endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der angegriffenen behördlichen Maßnahmen – hier der Zurückführung der somalischen Antragsteller durch die deutsche Grenzpolizei – einem sogenannten Hauptsacheverfahren vorbehalten. Erst in einem solchen Hauptsacheverfahren, das mit einem durch die Rechtsmittel der Berufung und gegebenenfalls Revision angreifbaren Urteil beendet wird, wird der Prozessstoff akribisch aufgearbeitet, insbesondere bei etwa schon streitigen Tatsachen Beweis erhoben. Eine Beweiserhebung unterbleibt dagegen regelmäßig in solchen vorläufigen Rechtsschutzverfahren. Auch eine Auseinandersetzung mit in Literatur, Rechtsprechung und Politik häufig unterschiedlich vertretenen Meinungen zu bestimmten Rechtsfragen – eine solche Kontroverse liegt hier bei der Eindämmung illegaler Migration augenscheinlich vor – unterbleibt regelmäßig in Eilverfahren. Mit den jetzigen Beschlüssen des Berliner Verwaltungsgerichts ist die Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen polizeilichen Maßnahmen und damit über die Zulässigkeit der von der Bundesregierung verfolgten Eindämmung illegaler Einwanderung insgesamt also mitnichten abschließend entschieden; sie dienen lediglich dem (vorläufigen) Schutz der Antragsteller, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, bevor die Rechtmäßigkeit in einem eventuell langwierigen Hauptsacheverfahren geklärt oder wenigstes das Dublinverfahren abgeschlossen ist. Nur zur Durchführung eines Verfahrens zur Bestimmung, welcher Staat für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig sein soll, ist der Verbleib der Antragsteller in Grenznähe gesichert worden. Eine Erlaubnis für eine weitere Einreise nach Deutschland ist damit nicht verbunden. p>Diese  ausdrückliche Klarstellung im Beschluss der 6. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts wird in allen Berichten über diese "Causa" geflissentlich verschwiegen; ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Doch nicht nur die falsche Verwendung der Entscheidungsform "Urteil" statt richtigerweise "Beschluss" ruft beim Unterzeichner, der vor seiner "politischen Laufbahn" zwölf Jahre als Richter in der hessischen Verwaltungsgerichtsbarkeit tätig war, davon sechs Jahre in erster Instanz in einer Kammer, die überwiegend mit Ausländer- und Asylrecht befasst war, Widerspruch hervor. Auch inhaltlich geht es bei den Begriffen nämlich drunter und drüber.

Da werden die Begriffe "Abweisung", "Zurückweisung" und "Zurückführung" offenbar synonym verwendet, obwohl sie unterschiedliche Sachverhalte betreffen und damit auch eine unterschiedliche rechtliche Bewertung erfordern.

Ausgehend von der seit dem Jahre 1993 geltenden Regelung in Artikel16a Absatz 2 des Grundgesetzes kann sich auf Absatz 1, also auf das Asylgrundrecht, nicht berufen, wer unter anderem aus einem sicheren Drittstaat einreist. Dazu gehören sämtliche an die Bundesrepublik grenzenden Nachbarstaaten. Da eine solche Regelung bei wörtlicher Auslegung dazu führen würde, dass sich in Deutschland nur derjenige auf das Grundrecht auf Asyl berufen könnte, der durch die Nord- oder Ostsee schwimmend oder mit dem Fallschirm abgeworfen deutschen Boden erreicht, ist versucht worden, mit dem sogenannten Dublin-Abkommen lll eine gerechte Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der Europäischen Union zu erreichen. Damit sollte einerseits Deutschland nicht – wie Art. 16 a Abs. 2 GG "prima facie" zulässt – vollständig von der Pflicht zur Aufnahme von Asylsuchenden dispensiert und die Last  allen anderen Staaten mit Außengrenzen aufgebürdet werden. Andererseits sollte aber auch kein Anspruch des Asylsuchenden begründet werden, sich ein Land seiner Wahl für einen Verbleib aussuchen zu können.

Tatsächlich ist in der Praxis aber von einigen Nachbarstaaten so verfahren worden, Flüchtlinge einfach nach Deutschland "durchzuwinken" oder sie geradezu dazu aufzufordern, über die Binnengrenzen Deutschland zu erreichen. Das Dublin-Abkommen funktioniert also nicht, weil sich kaum ein Staat daran hält; es ist disruptiv und dysfunktional.

Seine Einhaltung in Bezug auf Grenzkontrollen alleine von Deutschland zu verlangen, führt genau zu dem Ergebnis, das gerade mit seiner angestrebten Verteilungsgerechtigkeit hat vermieden werden sollen. p>Eines Rückgriffs auf Artikel 72 der EU-Arbeitsverordnung und der Beantwortung der Frage, ob eine Notlage durch den ungebremsten Zuzug von Migranten in Deutschland zu besorgen ist, die eine Abweichung von den Regeln des Dublin Abkommens III rechtfertigt, bedarf es bei diesem Befund gar nicht; sein Bemühen stellt meines Erachtens ein "obiter dictum" auf einem Nebenkriegsschauplatz dar. Deshalb sollte sich Innenminister Alexander Dobrindt im Hauptsacheverfahren und in vermutlich weiteren Verfahren auch nicht mehr, allenfalls hilfsweise auf diese Krücke als Begründung für die Zurückweisung von Migranten an der deutschen Grenze berufen.

Vor diesem Hintergrund ist die Haltung der neuen Bundesregierung, namentlich die der Union mit dem zuständigen Innenminister Dobrindt, einen illegal Einreisewilligen schon an der Grenze zu Deutschland zurückzuweisen – das wird nach geltender deutscher Gesetzeslage (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG) geradezu verlangt –, also ihn gar nicht erst einreisen zu lassen, mindestens politisch verständlich, denn wenn er erst eingereist ist, steht seiner Zurückführung möglicherweise die Stellung eines Asylantrages entgegen, über dessen Behandlung – sei es in der Sache, sei es verfahrensrechtlich (Dublin lll) – dann die deutschen Verwaltungsgerichte entscheiden müssten.

Den vom Verwaltungsgericht Berlin entschiedenen Fällen liegt offenbar ein Sachverhalt zugrunde, in dem die Antragsteller bereits nach Deutschland eingereist waren und nicht bereits vorher an der Grenze zurückgewiesen worden sind. Sie sind trotz Stellung eines Asylantrages in Deutschland nach Polen zurückgeführt und nicht bereits an der Grenze zurückgewiesen worden. Das und nur das hat das Berliner Verwaltungsgericht im Eilverfahren für rechtswidrig gehalten mit dem bereits oben dargelegten klarstellenden Hinweis.

Warum werden ausgerechnet die erkennbar rechtsunkundigen Politiker, wie zum Beispiel die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, zur Stellungnahme in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten interviewt?

Der Ruf nach Rücktritt des Innenministers Dobrindt wegen "Rechtsbruchs mit Ansage" und der trotz Fehlens jeden Zusammenhangs vorgenommene Rekurs auf das Mautgesetz – dieses ist übrigens nicht nur von Dobrindt, sondern von Bundestag und Bundesrat verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterzeichnet worden – zeigen, dass alleine ein lautes und sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit in der unter renommierten Juristen äußerst umstrittenen Sache wenig hilfreich ist.

Dr. Jürgen Gehb
ehemaliges Mitglied des Bundestages, Kassel