https://rotary.de/gesellschaft/wir-sind-keine-demokratie-mehr-a-18872.html
Interview

„Wir sind keine Demokratie mehr“

Interview - „Wir sind keine Demokratie mehr“
Gore Vidal (1925-2012) – einer der profiliertesten Kenner der US-Politik seiner Zeit © David Shankbone

Passend zum Titelthema "US-Außenpolitik" der Oktober-Ausgabe 2021 als Ergänzung folgende Gesprächsauszüge aus dem legendären Interview, das der ehemalige Stern-Autor Arno Luik mit dem amerikanischen Bestsellerautor Gore Vidal im Jahr 2000 führte.

30.09.2021

Er sprach mit ihm im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl zwischen Al Gore und George Bush in Vidals Ferienhaus in Ravello, Italien. Das Gespräch erschien in der Stern-Ausgabe vom 31. August 2000. Es ist ein interessanter Blick Vidals auf das eigene Volk, die US-Amerikaner, und die US-Politik im 20. Jahrhundert.

Kann es sein, dass Sie sich da ein wenig überschätzen? Ihre Präsidenten sind . . .

. . . ja, was denn? Was ist denn ein Präsident? Er ist das Sprachrohr der Konzerne - und sonst gar nichts. Richard Nixon hat mal gesagt, für die Innenpolitik brauche man gar keinen Präsidenten, die Konzerne würden schon alles richten. Deswegen interessieren sich alle Präsidenten für die Außenpolitik, da können sie Spuren hinterlassen: Bomben auf eine Aspirinfabrik im Sudan werfen, einen kleinen Krieg hier, einen größeren Krieg da anzetteln - das ist ihr Job. Seit Dezember 1941 haben wir keinen Krieg mehr erklärt, doch seither über 150 geführt. Immer in schlechter Absicht, aus Eigennutz heraus. Wir sind keine Demokratie mehr. Wir haben unsere Verfassung schon längst aufgegeben.

Sie sind frustriert und zynisch.

Nein. Das Militär befiehlt dem Präsidenten: Wir brauchen mehr Geld, und der Präsident gehorcht. Unsere Polizei ist außer Kontrolle. Millionen werden abgehört. Zwei Millionen sitzen in den Gefängnissen. Wir bereiten uns auf einen neuen Hitler vor. Wir leben in einem faschistischen Staat

Das ist doch Unsinn.

Meinen Sie? Ihr Europäer habt doch keine Ahnung von Amerika! Aber Deutschland war ja schon immer unsere loyalste Provinz. Schröder, Fischer? Treue Untertanen. Ihr seht unsere Filme und denkt, das ist die Realität. Wir beherrschen die Werbung, wir wissen, wie man Images schafft. Die moderne Diktatur kommt nicht mit braunen oder schwarzen Uniformen daher. Wir machen das mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spaß, Spaß. Und einer Erziehung, die verdummt.

Wie? Die Amerikaner sind doof?

Ich mag Verallgemeinerungen nicht, aber wir sind das ignoranteste Volk der westlichen Welt. Neulich sollten College-Studenten Amerika auf einer Weltkarte bestimmen - 80 Prozent fanden unser Land nicht. Und nicht wenige votierten für Panama, weil es so schnuckelig daliegt in der Landenge zwischen Nord- und Südamerika. Und ganz nebenbei haben sich in den letzten 15 Jahren allein in Kalifornien mehr als 10.000 Jugendliche gegenseitig abgeschossen.

Aber Sie selbst drängten ins Weiße Haus. Sie waren doch stolz, im Beraterstab von John F. Kennedy zu sein?

Stolz? Ich würde eher sagen: Es hat mir die Augen geöffnet, an seinem Hof zu sein. Im August 1961, während der Berlin-Krise, stand die Welt am Rande des Atomkriegs. Diese Tage verbrachte ich mit Jack, wie er bei uns hieß. Jede Nacht schrieb ich mit, was ich bei ihm erlebte. Dort drüben sind die Blätter. Ich hatte ja erwartet, Kennedy würde diese Tage im Weißen Haus verbringen, aber er war mit Jackie ...

. . . Ihrer Stiefschwester . . .

... auf seinem Landsitz "Hyannisport". Damals lief es mir kalt über den Rücken, dass unser Leben in den Händen von Jack und Bobby lag. Jack wollte nicht bloß Kalten Krieg spielen, er wollte Kriege gewinnen, egal wo, irgendwo. Er dachte immer an seinen Ruf. Deshalb Kuba, das Abenteuer Schweinebucht, die unzähligen Versuche, Fidel Castro zu töten. Er war mit dem ganzen Kalter-Krieg-Dreck aufgezogen worden, er war römisch-katholisch, aus irischer Familie, und das heißt: Er war rechts. Er wollte einen sicheren Krieg, bei dem nicht die ganze Welt auseinander fliegt. Er wollte Ruhm. Deshalb Vietnam. Tausend Tage war er an der Macht, und in dieser kurzen Zeit stieg der Rüstungshaushalt um sieben Milliarden Dollar. Nochmals tausend Kennedy-Tage, und wir wären alle tot gewesen.

Sie mögen die Kennedys nicht.

Ach, sie mögen mich nicht, weil ich ihren Plan aufgedeckt habe, dass sie eine Dynastie errichten wollten: Jack, Bobby, Teddy und so weiter. Jack war immerhin ein bisschen zivilisiert, hatte ein paar Bücher gelesen, aber Bobby — mein Gott, er war ein Barkeeper, er wollte Leute zusammenschlagen, er war ein ungehobelter Wilder. Als Bobby 1968 niedergeschossen wurde und im Sterben lag, hat eine seiner Schwestern bei der Mutter Rose angerufen. Und was sagte die liebe Mutter? "Jetzt muss Teddy ran!"

In Ihrer Autobiografie schreiben Sie wirklich Unfreundliches über John F. Kennedy, zum Beispiel so etwas: "Ich weiß noch, dass er es gern in heißem Badewasser machte, mit der Frau oben wegen seiner Rückenverletzung. Einmal hatte er eine Schauspielerin, die ich kenne, plötzlich zurückgestoßen, bis ihr Kopf unter Wasser war, was ihr einen Scheidenkrampf und ihm einen Orgasmus bescherte."

Was ist daran unfreundlich? Ich habe es geschrieben, weil es über den Menschen Kennedy etwas aussagt. Und über die Macht. Außerdem habe ich auch über mich geschrieben, dass wir damals - und dazu gehörten auch Marlon Brando, Tennessee Williams und noch einige andere - nichts anderes wollten als möglichst viele Orgasmen mit möglichst vielen Partnern.

Angeblich hatten Sie ja schon mit 25 über tausend Beziehungen - mit Männern und Frauen, mit Anais Nin und Jack Kerouac . . .

Es war Sport, ein Spiel, nicht Liebe. Kennedy war schwer krank, er bekam ständig Cortison, und sein Arzt, ein rechter Quacksalber war das, hat ihm auch noch Speed verschrieben. Er war manchmal gar nicht richtig bei sich - aber Cortison stimuliert wohl. Seymour Hersh, der über die Kennedys schrieb, hat mir eine Geschichte erzählt, die ihm unglaublich vorkam. Er hatte sie von einem Sicherheitsbeamten. Dessen Job war es, für Jack Prostituierte zu besorgen. Dann waren sie in der Wanne, sie lag auf dem Präsidenten, und der Agent musste, wenn Jack so weit war, von hinten den Kopf der Frau unters Wasser drücken.

Solche Geschichten erwartet man von römischen Kaisern.

Unsere Präsidenten sind Imperatoren.

Und die denken so: Ich bin der mächtigste Mann der Welt, ich kann tun, was ich will. Denken sie so?

Nein, so denken sie nicht. Normalerweise haben sie einfach eine große Paranoia. Sie denken: "Die da draußen, die wollen mich kriegen!" Die da. Es sind immer "die da". Sie werden ständig beobachtet, sie fühlen sich stets gefährdet. Es sind die gleichen Ängste, wie sie die Cäsaren früher in Rom hatten. Der römische Kaiser Domitian wurde belächelt, weil er sich von seiner Sicherheitsgarde so heftig beschützen ließ, sich kaum aus seiner Villa oben auf dem Berg raustraute. Und er sagte: "Die meisten meiner Vorgänger sind ermordet worden, und deshalb ist es doch klar, dass ich ständig an Attentat, Mord und Totschlag denke." Er wurde dann ja auch ermordet. Das beschreibt genau den Seelenzustand unserer Präsidenten.

Und doch wollen Gore oder Bush ganz verzweifelt genau das werden: Präsident.

Ja, es ist wie mit den Spielern in Las Vegas: Sie sind süchtig. Du weißt genau: Du kannst Geld verlieren, dein Leben - aber du kannst das Spiel nicht sein lassen. Und dazu kommt noch: Das Weiße Haus ist etwas Besonderes. Es verändert jeden, es holt den Macho aus einem raus: Man kann Herr über Leben und Tod sein. Der amerikanische Präsident ist ein Imperator. Er ist der Oberbefehlshaber der mächtigsten Armee der Welt. Wenn er auftritt, entfaltet sich mit großem Pomp eine riesige Zeremonie. Das beeindruckt

Und für diese Show nimmt man in Kauf, unter ständiger Belagerung zu leben.

Ja. Vor einiger Zeit war ich bei Hillary Clinton im Weißen Haus. Zwei Tage vorher hatte ein Verrückter mit einem Maschinengewehr die ganze Front des Hauses mit Kugeln aufgeschossen, Maler waren gerade dabei, Farbe über die Löcher zu pinseln. Ich wollte Hillary zum Essen einladen. Sie war völlig verdutzt, schüttelte den Kopf und sagte, sie habe erst neulich mit einem Sicherheitsbeamten gesprochen, das sei unmöglich, spontan so etwas zu tun. Den Sicherheitsleuten wäre es am liebsten, meinte sie, sie würde nur im Panzer durch die Stadt fahren und im Bunker wohnen.

Sie gehen am 7. November zur Wahl?

Ja. Es macht mir Spaß zu beobachten, wie die Menschen gegen ihre eigene Interessen stimmen. Wie sie die Flaggen hochhalten, um blind und treu wie christliche Soldaten gemeinsam übers Kliff zu gehen. Ich mag das, das ist schwarzer Humor. Ihr Deutschen habt dafür ein schönes Wort: Schadenfreude. Vielleicht stimme ich dem Clan zuliebe ja für Al, ich weiß es nicht.

Mit ihm wird alles besser?

Wieso denn? Das ist doch keine Wahl. Die Menschen wissen, dass sie betrogen werden. Wie viele wählen denn noch? Das System ist tot. Die zwei Kandidaten sind Vertreter einer Partei mit zwei rechten Flügeln. Beide sind Südstaatler, beide aus alten Dynastien, beide werden dem Militär noch mehr Geld geben. Bush ist unerträglich: Sein Staat ist Weltmeister bei Exekutionen, amerikanischer Meister in der Umweltverschmutzung.

Gore Vidal im Gespräch mit Arno Luik, Frühjahr 2000 in Ravello, Italien. Vorabdruck aus dem im Frühjahr im Westend Verlag erscheinenden Gesprächsband von Luik: "Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna".


 

Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vizechef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor der Zeitschrift Stern. Gespräche von „Deutschlands führendem Interviewer“ (taz) sind in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden. 2008 wurde Luik vom Medium Magazin als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm der Spiegel-Bestseller „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“, Westend Verlag 2019, 296 Seiten, 20 Euro