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Elf Jahre Jalna-Projekt

1000 neue Chancen verschenkt

Mediziner aus Hattingen, Hamburg, Bielefeld, Marburg reisen in wechselnder Besetzung jeden Februar für zwei Wochen ins zentralindische Jalna und behandeln Fehlbildungen der Hände und Füße, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Verbrennungsfolgen. Es ist ein gemeinsames Projekt von Deutschen und Indern, ein Projekt, das im elften Jahr seines Bestehens wieder 115 Menschen geholfen und damit bisher weit über 1000 neue Chancen geschenkt hat.

23.05.2014

Er war im ersten Jahr dabei – und er ist im elften Jahr dabei. Farhaz ist groß geworden, grinst die Ärzte an, winkt, die meisten kennt er ja schon. Stolz streichelt der 12-Jährige den großen Plüschpanther, den sie ihm geschenkt haben, während er vor dem Operationssaal wartet, bis er dran ist. Dass er – wie alle kleinen, ja sogar alle erwachsenen Patienten hier – auch ein bisschen Angst hat, versucht er tapfer zu verbergen. Es ist nicht seine erste Operation, nicht seine zweite oder dritte. Zigmal ist der kleine Junge mit den großen dunklen Augen, die aufmerksam jede Bewegung der Ärzte und Schwestern um ihn herum beobachten, schon behandelt worden.

Bei der Begrüßungszeremonie hat er dem Leiter des Ärzteteams Dr. Gerhard Schlosser (Mitglied im Rotary Club Hattingen), den sie hier nur „Doctor Gerhard“ nennen, Blumen überreicht – denn ohne es zu wissen, ist der kleine Farhaz zum Sinnbild für ein gelungenes Projekt geworden. Der Einsatz in Jalna, Maharastra, geht in die elfte Runde.

Elf sei eine besondere Zahl im Hinduismus, sagen sie hier. Sie symbolisiert die Macht des Wettergottes – der elfte Tag nach Neumond und nach Vollmond sind Fastentage. Aber vor allem bedeutet diese Zahl, dass es gelungen ist, Verlässlichkeit zu schaffen: Jahr für Jahr kommen die Menschen aus den umliegenden Städten und Dörfern nach Jalna, um sich oder ihre Kinder von den deutschen Ärzten behandeln zu lassen. Fehlbildungen der Hände und Füße, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Verbrennungsfolgen.

An Kindern wie Farhaz lässt sich der Erfolg der Ärzte ablesen. Oder an Frauen wie Supriya: Ihre Kleidung hatte beim Kochen Feuer gefangen, der Plastikstoff ihrer Hose brannte sofort lichterloh. Dass ihr Mann in Panik Wasser über sie schüttete, machte das Ganze noch schlimmer. Mit schweren Verbrennungen kam die junge Frau ins Krankenhaus. Als sie in ihre Hütte zurückkehrte, begann gerade die Regenzeit. Vor Kälte und Schmerzen zusammengekrümmt lag sie wochenlang mit angezogenen Beinen da, ohne sich zu bewegen. So wuchs die verbrannte Haut an Unter- und Oberschenkel zusammen – Supriya konnte nicht mehr gehen. Durch Zufall erfuhr sie von dem deutschen Ärzteteam im Jalna Mission Hospital. Auch sie wurde mehrfach operiert; in einem Jahr an den Beinen, im anderen Jahr an den Armen. Dank der Operationen und nachfolgender Physiotherapie kann Supriya wieder laufen – und schmiedet bescheidene Zukunftspläne.

Um Menschen wie Farhaz und Supriya geht es den Medizinern aus Hattingen, Hamburg, Bielefeld, Marburg – Anästhesisten, Handchirurgen, plastische Chirurgen, Krankenschwestern und –Pfleger – die sich für zwei Wochen zusammen getan haben. Sie möchten Chancengleichheit herstellen, wo ein Unglück sie zunichte gemacht hat oder wo die Natur sie von sich aus erst gar nicht einräumen wollte. Dafür reisen sie in wechselnder Besetzung jeden Februar ins zentralindische Jalna. Über 9000 Kilometer legen sie zurück, fliegen über Nacht mit Stopp in Mumbai, von dort früh morgens weiter nach Aurangabad, wo sie schließlich ein Bus des Jalna Mission Hospitals abholt und gegen Mittag in Jalna absetzt. Dort stürzen sie sich nach der Begrüßungszeremonie, kaum dass sie die Willkommens-Blumenketten abgelegt haben, direkt in die Arbeit: Aufgeteilt in zwei Teams screenen die Ärzte die Patienten, die Flur und Eingangsbereich des Krankenhauses belagern, während Pfleger und Schwestern die OP-Säle einrichten.

Priorität haben die ganz kleinen Patienten und die besonders schlimmen Fälle. Doch wer es in diesem Jahr nicht auf die Liste schafft, weil jemand anders die Behandlung noch dringender braucht, wird für das kommende Jahr vorgemerkt. Kaum jemand muss ohne einen kleinen Hoffnungsschimmer wieder nach Hause geschickt werden.

Zum ersten Mal komplettiert ein Kinderarzt die Gruppe, Hans-Jürgen Kesper. So ist immer jemand da, der unabhängig vom OP-Plan nach den Patienten sehen und den Eltern erklären kann, wie sie ihr Kind auf die Operation vorbereiten und es danach am besten versorgen. Ein Kinderarzt, der trotz des hektischen und anstrengenden Einsatz-Alltags die Kinder ein bisschen ablenken und zum Lachen bringen kann – eine Errungenschaft, die das etablierte Projekt stützt und weiter entwickelt.

Die Nachsorge übernimmt wie in jedem Jahr das indische Krankenhauspersonal. Ein Kieferorthopäde und eine Logopädin aus Aurangabad haben die Mediziner ebenfalls mit ins Boot geholt – eine weitere Neuerung im Jahr des elften Einsatzes, die nicht möglich wäre, wenn nicht alle wüssten: Im nächsten Jahr kommen sie wieder und machen weiter. Initiator des Projekts war der Anästhesist Dr. Gerhard Schlosser aus dem RC Hattingen. Während der Club das Projekt mit Materialspenden unterstützt, übernehmen die German Rotary Volunteer Doctors (GRVD) die Reisekosten.Für alle Beteiligten ist  es mehr als ein medizinischer Hilfseinsatz, als zwei Wochen anderen Menschen und dem eigenen Seelenheil etwas Gutes tun. Es ist ein gemeinsames Projekt von Deutschen und Indern, ein Projekt, das im elften Jahr seines Bestehens wieder 115 Menschen geholfen und damit bisher weit über 1000 neue Chancen geschenkt hat. Ein Ende ist – zum Glück – nicht in Sicht.

Gianna Luisa Schlosser