Rotary Entscheider
„Das gibt der Arbeitsmarkt nicht her“

Die Frage der Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems ist eines der großen Zukunftsthemen. Franz Harnoncourt spricht über strukturelle Herausforderungen und seine Vision für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen in Österreich.
Als eines von vier Kindern des Dirigenten Nikolaus und der Geigerin Alice Harnoncourt, ist Musik so etwas wie seine zweite Muttersprache. Franz Harnoncourt entschied sich für die Medizin – laut eigenem Bekunden einem der spannendsten beruflichen Felder überhaupt – und begann nach dem Studium in Graz 1985 seine berufliche Laufbahn als Chirurg im Ordensspital der Elisabethinen in Linz, wurde Ärztlicher Direktor und schließlich zum Geschäftsführer ernannt. Anfang 2012 ging er nach Köln, wo er zuletzt den Vorsitz der Geschäftsführung der Malteser Deutschland GmbH innehatte. Seit Juli 2019 ist der Gesundheitsmanager wieder in Oberösterreich tätig.
Herr Dr. Harnoncourt, Sie überblicken als Mediziner vier Jahrzehnte im Gesundheitswesen. Was hat sich aus Ihrer Sicht verändert, und was ist gleich geblieben?
Ich kann über diese vier Jahrzehnte im Rückblick Veränderung und Stillstand gleichzeitig feststellen. Einerseits ist das System in seiner Struktur fast unangetastet geblieben. Wir arbeiten im Krankenhaus immer noch in hierarchischen Abteilungsstrukturen, die aus dem späten 19. Jahrhundert stammen. Diese Strukturkonservativität ist beeindruckend und auch erschreckend. Auf der anderen Seite ist die inhaltliche Dynamik hoch. Medizinische Innovationen haben in den letzten Jahrzehnten vieles verändert und erleichtert. Als ich als Arzt zu arbeiten begonnen habe, war die Laparoskopie (Schlüssellochchirurgie) noch kein Thema, heute ist sie gängige Praxis. Auch die Verfügbarkeit genetischer Analysen, die früher Millionen kosteten, sind heute in wenigen Minuten und um wenige Euros verfügbar. Hier gäbe es noch viele Beispiele zu benennen. Und auch die Beziehung der Ärzteschaft zu Patientinnen und Patienten gestaltet sich neu. Weg von einem Topdown-Verhältnis hin zu einem Dialog auf Augenhöhe. Und ganz grundsätzlich sprechen wir im gesellschaftlichen Diskurs heute über Gesundheitsunternehmen anstatt von Krankenanstalten, über Prävention und ganzheitliche Versorgung. Wir haben es geschafft, von einem reinen Reparatursystem zu einem umfassenderen Gesundheitsbegriff zu wechseln.
Im laufenden Kassasturz des österreichischen Budgets hat sich eine Finanzierungslücke der Gesundheitskasse von 900 Millionen Euro allein in diesem Jahr aufgetan. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für die Zukunft?
Die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems gilt es langfristig zu sichern. Aus meiner Sicht ist die Fragmentierung des österreichischen Gesundheitswesens eines der großen Themen – sie liegt im Spannungsverhältnis zwischen stationär und ambulant, zwischen Bundes- und Landeskompetenzen, zwischen den selbstverwaltenden verschiedenen Sozialversicherungen und dem Bereich der Privatmedizin. Das führt zu ineffizientem Ressourceneinsatz und teilweise absurden Doppelstrukturen, die teuer sind. Allein für den stationären Bereich haben wir in Österreich zehn Krankenanstaltengesetze – ein Bundesgesetz und neun Ländergesetze. Eine zusätzliche Herausforderung ist die demografische Entwicklung. In einer älter werdenden Bevölkerung brauchen wir in den kommenden Jahren mehr Pflegepersonal in der Akutmedizin – wie in der Langzeitbetreuung. Das gibt der Arbeitsmarkt nicht her.
Wo sehen Sie konkret Verbesserungspotenzial?
Der niedergelassene Bereich hat keinen definierten Versorgungsauftrag. Dies bewirkt eine Asymmetrie zwischen dem stationären und niedergelassenen Bereich. Ich möchte nur ein Beispiel bringen: Wenn eine Mutter mit einem fiebernden Kind am Wochenende keinen Kinderarzt findet, weil im niedergelassenen Bereich am Tagesrand und an den Wochenenden keine Versorgung angeboten wird, bleibt ihr nur der Weg ins Krankenhaus. Das ist ineffizient und für alle Beteiligten belastend. Es fehlt also grundlegend an der Abstimmung zwischen diesen Bereichen und an einer Patientensteuerung, die die Menschen leitet. Auch die Möglichkeiten der Digitalisierung bieten enorme Chancen, werden aber noch zu wenig strategisch genutzt. Skandinavische Länder zeigen vor, wie Telemedizin funktioniert – bis hin zu Avataren, die Visiten machen. Auch bei uns könnten 1450 (telefonische Gesundheitsberatung, d. Red.) oder Gesundheitsportale, virtuelle Ansprechpersonen oder Apps Menschen begleiten. Elga (elektronische Gesundheitsakte, d. Red.) ist ein Anfang, aber wir müssen es weiterentwickeln, hin zu einem echten Steuerungssystem.
Wenn Sie das österreichische Gesundheitssystem von Grund auf neu gestalten könnten, wo würden Sie ansetzen?
Ich würde eine Finanzierung und Steuerung aus einer Hand schaffen. Wie bereits angesprochen, lähmt aus meiner Sicht die Fragmentierung das System, die Kompetenzen sind zersplittert. Wir haben faktisch zu viele Player ohne zentrale Koordination. Ich bin überzeugt davon, dass es den Menschen egal ist, ob sie Leistungen des Gesundheitssystems letztlich über Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge zahlen – sie wollen, dass es funktioniert. Außerdem sollte der Aufbau von Primärversorgungseinheiten (PVE) massiv vorangetrieben werden, wo verschiedene Gesundheitsberufe unter einem Dach zusammenarbeiten. Das ersetzt nicht die Einzelordination, aber ergänzt sie sinnvoll. Und zudem sehe ich – wie bereits angesprochen – in der Digitalisierung eine Zukunftshoffnung.
Werden wir uns unser Gesundheitssystem in Zukunft überhaupt noch leisten können?
Eines möchte ich klar sagen: In Österreich haben wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Wir müssen aber den Tatsachen ins Auge sehen. Das Wachstum der Gesundheitsausgaben wird an Grenzen stoßen. Es braucht Entscheidungen, wo wir Medizin „bis zum Anschlag“ wollen und wo nicht. Und das geht nur solidarisch. Wir sollten uns dabei aber nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen – Gesundheit ist ein zentrales Gut unserer Gesellschaft. Besonders besorgt bin ich um die Pflege. Die alternde Gesellschaft ist eine Realität, und mit ein paar Anwerbeaktionen in Südostasien werden wir das Problem nicht lösen. Pflege passiert zu 70 Prozent zu Hause – das müssen wir stärken, mit technischen Hilfen, mit Ehrenamt, mit Bildung.
Stichwort Ehrenamt – hier können wir auch eine Brücke zu Rotary schlagen.
Ehrenamt ist eine tragende Säule der Gesellschaft, zu der man sich nur uneingeschränkt bekennen kann. Auch Serviceclubs haben hier eine große Aufgabe. Eine solidarische Gesellschaft wird ohne Ehrenamt nicht funktionieren. Es kann etwas, was Hauptamt nicht kann, die Funktion einer Ziehharmonika ausfüllen. Damit meine ich, dass kurzfristig sehr viele Menschen bei Bedarf mobilisiert und umgekehrt rasch wieder reduziert werden können. Persönlich macht mir bei all diesen Überlegungen Sorge, dass wir mehr und mehr in einer Welt leben, in der Desolidarisierung sexy zu sein scheint. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass ein Donald Trump mit Slogans von Gewinnmaximierung auf Kosten anderer Wahlen gewinnen kann.
Wie können Patientinnen und Patienten selbst zum Funktionieren des Systems beitragen?
Durch Eigenverantwortung, Gesundheitskompetenz, Prävention und gesunde Lebensführung – das kann man nicht verordnen, aber fördern. Ich bin ein Fan davon, in diese Richtung zu denken. Schweden hat zum Beispiel ein Prophylaxe-System in der Zahnmedizin. Wer nicht zur Kontrolle geht, bekommt im Ernstfall keine Kosten übernommen. Solche Modelle sollte man zumindest diskutieren. Aber klar ist: Es darf nicht so sein, dass Menschen für strukturelle Mängel bestraft werden. Daher braucht es ein breites Angebot und viel Aufklärung.
Sie waren viele Jahre auch in Deutschland tätig. Welchen Vergleich können Sie zum österreichischen Gesundheitssystem ziehen?
Meine Conclusio ist, dass Systeme schwer vergleichbar sind. Deutschland hat einen sehr starken ambulanten Sektor und marktwirtschaftliche Logiken, das bringt Effizienz, aber auch Risiken. Österreich hat den Vorteil einer solidarisch getragenen Struktur. Das sollten wir nie aufs Spiel setzen. Wir haben eine exzellente Basis, und wir wissen, was zu tun wäre. Jetzt brauchen wir nur den Mut, es auch umzusetzen.
Das Gespräch führte Verena Hahn-Oberthaler.

Zur Person:
Franz Harnoncourt, RC Linz-Altstadt, ist Vorstandsvorsitzender der Oberösterreichischen Gesundheitsholding, mit 16.000 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber des Bundeslandes. Seit 2019 ist er auch Geschäftsführer des Kepler Universitätsklinikums Linz.