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Gesundheit mit Migranten für Migranten

»Eine Schlange kriecht durch meinen Körper«

Das deutsche Gesundheitssystem zählt zu den besten der Welt – nicht aber zu den einfachsten. Vor allem für Menschen, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind oder noch nicht lange hier leben, ist es oft schwer zu verstehen, wie es funktioniert.

Ramazan Salman14.02.2014

In Deutschland verfügt mittlerweile jeder achte Einwohner über einen Migrationshintergrund. Trotzdem haben Migranten noch immer erheblich schlechtere Gesundheitschancen als die übrige Bevölkerung.

Die notwendige Orientierung im Alltag eines fremden Landes lässt die Vorsorge für die eigene Gesundheit oft in den Hintergrund treten. Dies gilt unter den Migranten besonders für alte Menschen, z.B. in der psychotherapeutischen, geriatrischen oder diabetologischen Versorgung. Oftmals können gute Unterstützungsangebote nicht genutzt werden, weil sprachliche Hürden oder kulturelle Unterschiede die Beziehungen zwischen Migranten und Ärzten erschweren. Aber auch Kinder und Jugendliche nehmen nicht in gleichem Maße an den angebotenen Vorsorgeuntersuchungen teil wie ihre deutschen Altersgenossen.

Die Gesundheitsversorgung, die Ärzte und das Pflegepersonal bemühen sich verstärkt, Menschen mit Migrationshintergrund ebenso große Zuwendung zuteil kommen zu lassen, wie der übrigen Bevölkerung. Sie sehen sich jedoch in ihren Bemühungen mit sprachlichen, kulturellen und zuweilen auch religiösen Hürden konfrontiert. Sie benötigen Unterstützung durch Dolmetscher und haben einen großen Bedarf an kulturellen sowie religiösen Hintergrundinformationen.

»Doktor nix verstehen«

Wenn Patienten vor einer Operation nicht über Risiken und Alternativen informiert werden, können sie nicht von unseren fortschrittlichen Patientenrechten profitieren. Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten, die erst vor kurzem zugewandert sind, oder Touristen, die in Deutschland erkranken, benötigen ebenso sprachliche Unterstützung wie das Personal der Gesundheitsdienste, um sich angemessen verständlich machen zu können. Gegenseitiges Nicht- bzw. Missverstehen führt nicht selten zu „Verlegenheitsdiagnosen“. Verlängerte und erschwerte Diagnostik, verspätete Zugänge zu adäquaten Therapien und daraus resultierende lange und oftmals ineffektive Patientenkarrieren lassen dann wiederum sehr leicht den Kostenfaktor solcher Versorgungsdefizite offensichtlich werden.

Deshalb haben das Ethno-Medizinische Zentrum e.V. in Hannover und das Bayerische Zentrum für transkulturelle Medizin e.V. in München gemeinsam einen sogenannten Gemeindedolmetscherdienst aufgebaut. Mit geschulten, medizinisch versierten Dolmetschern wurde ein Angebot für Kliniken, Behörden und Praxen geschaffen, das dankbar und rege angenommen wird. Die Einrichtungen und teilweise die angesprochenen Kommunen bezahlen die Dolmetscherdienste aus ihren eigenen Budgets. Beide gemeinnützigen Zentren vermitteln jährlich gemeinsam über 15.000 Dolmetschereinsätze. Mit 300 Dolmetschern werden 50 Sprachen abgedeckt.

Dass dieser Dienst bisher nicht auf die ganze Bundesrepublik ausgeweitet werden konnte, liegt an der unzureichenden Rechtslage, denn es gibt bislang keinen Rechtsanspruch für Patienten oder Ärzte auf die Kostenerstattung für Dolmetscherleistungen. In den Niederlanden und in Schweden werden die Gemeindedolmetscher hingegen staatlich finanziert. Wenn ein Migrant nicht die gleichen Chancen auf medizinische oder therapeutische Dienstleistungen hat wie ein Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft, dann ist das ein Verstoß gegen das niederländische Diskriminierungsverbot. In Schweden braucht man einfach nur bei „Tolkcentralen“ anzurufen, und schon wird telefonisch ein Dolmetscher zugeschaltet oder bei Bedarf vor Ort bereitgestellt.

Eine vergleichbare Lösung wäre auch in Deutschland wünschenswert. So könnten beispielsweise sprachunkundige Personen von ihren Ärzten wichtige Informationen über den Umgang mit ihrer Diabetes erhalten oder vor einer Operation mitentscheiden, ob sie evtl. eine Alternative präferieren. Sie könnten trotz Sprachbarrieren psychotherapeutische Leistungen erhalten oder über notwendige Impfungen für ihre Kinder informiert werden. Nicht nur Migranten, sondern auch Ärzte und Gesundheitsdienste würden profitieren, beispielsweise wenn ein muslimischer Patient sagt „Doktor, lege Deine Hand auf mein Herz“ oder „Doktor, Maschine kaputt“. Versierte Dolmetscher könnten das übersetzen oder hierzu kulturelle Hinweise geben.

Einflüsse fremder Kulturen

Kulturell und religiös geprägte Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit können sich besonders dann als zusätzliche Verständigungshindernisse auswirken, wenn Patienten aus Gesellschaften kommen, deren kulturelle und religiöse Traditionen sich stark von den abendländischen unterscheiden. Religiosität als innere Stütze und Hilfe im Krankheitsfall hat für die Kranken auch heute noch vielfach eine hohe Bedeutung. Je ernsthafter und lang anhaltender die Erkrankung, desto deutlicher treten Sinnfragen für den Kranken und seine Angehörigen sowie für Ärzte oder Pflegekräfte in den Mittelpunkt. Medizinische Maßnahmen lassen sich vielfach erst verantworten, wenn diese persönlichen Bedürfnisse und Sinnfragen beachtet werden, und sie sind häufig auch erst dann wirksam oder wirksamer.

In zahlreichen muslimischen Gesellschaften und bei vielen muslimischen Menschen in der Migration spielen Spiritualität und familiäre Unterstützung bei der Vermeidung oder Überwindung von Krankheit eine große Rolle. Dies können wir beispielsweise in Kliniken beobachten, wo muslimische Patienten teilweise viel mehr und häufiger Angehörigenbesuche erhalten als Einheimische. Diese Patienten erleben Krankheit oftmals nicht als individuelles, sondern als gemeinschaftliches Ereignis, das nicht allein, sondern nur gemeinschaftlich überwunden werden kann.

Auch wird häufig beobachtet, dass Muslime nicht selten zusätzlich zur professionellen ärztlichen Behandlung nebenbei auch sogenannte Hodjas (religiöse Geistliche bzw. Lehrer) konsultieren – was von deutschen Ärzten oft toleriert wird, zumindest wenn es die ärztliche Therapie nicht behindert und der Einfluss der Geistlichen eher moralisch unterstützender Natur ist und für den Arzt kontrollierbar bleibt. Ein Psychiater berichtete zum Beispiel, dass einer seiner Patienten zusätzlich zur ärztlichen Psychotherapie auch einen religiösen Heiler aufsuchte. In diesem Fall konnte dadurch geklärt werden, dass mit der Äußerung „eine Schlange kriecht durch meinen Körper“ auf das eigene ganzkörperliche, nicht auf ein Organ reduzierbare Schmerzempfinden hingewiesen wurde. Schließlich konnte der Therapeut herausfinden, dass es sich um psychosomatische Aspekte und um eine schwerwiegende Depression handelte.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass in Deutschland die interkulturelle Expertise und der Respekt vor den gesundheitlichen Anliegen der Migranten in den letzten Jahren gewachsen sind. Zahlreiche Kliniken respektieren die Speisevorschriften ihrer muslimischen oder jüdischen Patienten. Sie bieten diesen Mahlzeiten, die Kriterien des „Halal“ oder des „Koscher“ erfüllen. Es ist interessant, dass nicht selten auch deutschstämmige Patienten darauf bestehen, diese Speiseangebote ausprobieren zu dürfen. Andere, oftmals christlich konfessionelle Kliniken bieten Muslimen die Möglichkeit einer muslimischen Leichenwäsche an, was dankbar angenommen wird. Die Medizinische Hochschule Hannover hat in ihrer Pathologie einen interreligiösen Abschiedsraum eingerichtet.

Mit Migranten für Migranten

Die Bemühungen der Gesundheitsversorgung für Migranten sind fruchtbar, können jedoch leichter zum Ziel führen, wenn auch Migranten ihrerseits Verantwortung für ihre gesundheitliche Teilhabe übernehmen. Ein bewährter Weg, Migranten zu informieren, besteht in der Ausbildung von Gesundheitsmediatoren, bzw. Gesundheitslotsen und der aufsuchenden muttersprachlichen Informationsvermittlung in den Lebenswelten der Betroffenen. Hier setzt das MiMi-Projekt „Gesundheit mit Migranten für Migranten in Deutschland“ an. Das Ethno-Medizinische Zentrum schulte im Rahmen dieses Projekts gemeinsam mit Landesregierungen in Niedersachsen, Bayern, Hamburg, Schleswig-Holstein, Hessen und Nordrhein-Westfalen in 59 Städten über 2100 Schlüsselpersonen unter den Migranten zu Gesundheitslotsen.

Den MiMi-Lotsen gelingt es häufig besser als Einheimischen, hier lebende Migranten in Moscheen, Gemeinden, Freizeitzentren, Schulen oder Migrantenvereinen zu erreichen. Sie bieten z.B. in türkischer Sprache Kurse über Diabetes an, in russischer Sprache über Impfangebote oder in spanischer Sprache zur Kindergesundheit. Bisher nahmen über 60.000 Migranten an den Veranstaltungen teil. Zusätzlich werden auch mehrsprachige Gesundheitswegweiser angeboten, in denen sie sich in ihrer eigenen Muttersprache über Gesundheitsdienste, Impfung oder Diabetes in Deutschland informieren können. Über 400.000 dieser Wegweiser fanden bisher ihre Abnehmer.
Ramazan Salman
Dr. Ramazan Salman (RC Hannover-Leineschloß) ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrum e.V. (EMZ). 2009 wurde er zum Sozialunternehmer des Jahres gekürt. Als Mitheruasgeber veröffentlichte er zuletzt „Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund: Ein Leitfaden für die Betreuungspraxis“ (Bundesanzeiger, 2018).  Ethno-Medizinisches Zentrum