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Stress

"Ich schaffe das nicht"

Multitasking, Hetze, Angst zu versagen - immer mehr Menschen leiden unter Stress. Aber er lässt sich heilen, noch besser ist: vorbeugen.

31.08.2016

In der nüchternen Übersetzung des Wortes Stress geht es um Druck und Anspannung: Wir reden über Stress, wenn wir uns gehetzt fühlen. Wir lassen uns jagen, sehen Gefahren, wir stöhnen und erschrecken. Wir fühlen das Gegenteil von dem, was Bundesklanzlerin Angela Merkel mit ihrem berühmten Satz „Wir schaff en das“ gesagt hat: „Ich schaff e es nicht“. Viele Situationen im Leben lösen das Gefühl aus, eine Herausforderung nicht zu bewältigen. Kommt dann alles auf einmal, muss der Schrei nach Hilfe erhört werden. In vielen Fällen wird sie notwendig. In solchen Situationen wird ein Mechanismus im Körper ausgelöst, der sich in Schweiß und Zittern äußert und zu einem entsprechenden Verhalten führt.

Stress als Last und Belastung zu erfahren ist die eine Seite, die andere ist der oft willkommene Kick, die Suche nach Adrenalinstößen und die mögliche Sucht nach diesen. Der amerikanische Extremsportler Luke Aikins hat das im Juli über der kalifornischen Wüste demonstriert, als er sich aus 7600 Metern Höhe ohne Fallschirm in ein 30 mal 30 Meter großes Netz stürzte. Er hatte den Adrenalinstoß, und viele Fernsehzuschauer hatten dabei ihr eigenes individuell dosiertes Stresserlebnis.

Der Kick, nach dem – bewusst oder unbewusst – gesucht wird, steht damit im Gegensatz zur belastenden Form von Stress. Er wird positiv empfunden und praktisch zum Freizeitvergnügen. Nichts anderes ist der Bungee-Sprung, die anspruchsvolle Klettertour in höchsten Graden oder schlimmstenfalls das illegale Autorennen, bei dem die Fahrer nicht nur das eigene Leben risktieren, sondern sogar das anderer Menschen. Hier gibt es nichts zu bewältigen, sondern etwas zu verhindern.

Als dritte Erscheinung gelten Stressreaktionen als anregende und leistungssteigernde Form der Grenzbelastung. Diese ist immer wieder im Berufsleben zu beobachten. Forscher der Universität Basel haben nachgewiesen, dass der Druck, mehrere Aufgaben gleichzeitig lösen zu müssen, auch positiv auf ein Ergebnis wirken kann. Die Wissenschaftler haben festgestellt, dass in diesem Fall die Vorgehensweise gewechselt wird. Entscheidungen fallen dann mit Hilfe von Ähnlichkeitsstrategien statt anhand üblicher Regeln.

Die Psychologin Bettina von Helversen, die an der Baseler Studie mitgearbeitet hat und heute Urteils- und Entscheidungsprozesse erforscht, berichtet in der Fachzeitschrift Psychological Science von einer Vergleichsstudie. Danach hatte eine Gruppe Aufgaben mit einer Ähnlichkeitsstrategie zu lösen, eine andere Gruppe musste parallel dazu weitere Anforderungen erfüllen. Die Probanden waren somit einem Multitasking ausgesetzt. Die Psychologin konnte nachweisen, dass der Druck leistungssteigernde Eff ekte erzeugt hatte. Unverändert gehen andere Experten jedoch davon aus, dass Menschen mehr Fehler machen und schneller ermüden, wenn sie mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen sollen.

Damit wird bestätigt, dass Stress und Stressempfindungen subjektiv erscheinen und dabei unterschiedliche körperliche und seelische Reaktionen auslösen.

Unfähig zum Handeln

„Man hat in der Stress-Forschung lange Zeit angenommen, dass die biologische Stress-Antwort nur von der objektiven Qualität des Stressors abhängig wäre. Das stimmt aber nicht, weil auch die kognitive Bewertung durch das betroff ene Individuum eine Rolle spielt. Ich kann dieselbe Belastungssituation mehr als Bedrohung und Überforderung empfinden oder als Chance und zu meisternde Herausforderung. Moderne Stressmodelle berücksichtigen auch diese individuellen Unterschiede und führen sie auf die jeweiligen Vorerfahrungen mit dem eigenen Bewältigungspotenzial zurück“, erklärt Joachim Klosterkötter, der ehemalige Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Köln.

Was passiert im Körper? Die erlebte Schrecksekunde wirkt sich in der Regel als momentane Unfähigkeit zum Handeln aus, weil der Stoffwechsel plötzlich einbricht. In der folgenden Phase entwickelt der Körper zusätzliche Energie, indem Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin schlagartig wirken. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, und Abwehrkräfte werden mobilisiert. Jetzt wird der gestresste Mensch aktiv: Flucht, Abwehr oder - etwa im Straßenverkehr – Bewältigung einer heiklen Situation an der Gefahrengrenze. Nach Ablauf dieser Phasen beginnt in der Regel die Erholung aus einer Erschöpfung heraus, der Hormonspiegel pendelt sich wieder ein; der Körper wechselt in seinen gewohnten Betrieb.

Nach aller Erfahrung wird es dramatisch, wenn diese Erholung nach einer plötzlich aufgetretenen Stress-Situation ausbleibt. Das wäre dann der Wechsel in den Dauerstress - und eine Ursache möglicher weiterer Erkrankungen. Sie können von den bekannten Herzkreislauferkrankungen wie Bluthochdruck und Rhythmusstörungen bis zum Infarkt reichen; oder den Verdauungstrakt mit Durchfall, Übelkeit und Erbrechen erfassen; letztlich können Erscheinungen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Migräne ausgelöst werden. Dazu gibt es viele weitere Krankheitsbilder, die auf Stress-Situationen und Dauerstress zurückzuführen sind. Am Ende stehen auch seelische Erkrankungen
wie Depressionen, Burnout, chronische Angst oder permanente Unruhe.

Der Kölner Mediziner Klosterkötter sagt über die Reaktionen und die möglichen Folgen für den menschlichen Körper: „Dauerhafte oder wiederholte Stressreaktionen fordern vom Organismus Kosten für die längerfristig aufrechterhaltenen Anpassungsreaktionen. Dieser sogenannte Allostatic Load lässt sich auch messen und zeigt uns in einem Globalscore die Anfälligkeit für stressassoziierte Erkrankungen in der jeweiligen Lebensphase an. Ausschlaggebend für die Entstehung der Krankheiten sind Ab-und Umbauvorgänge in bestimmten Hirnregionen, dem Frontalhirn, dem Hippokampus und den Amygdala, die durch die häufige oder chronische Ausschüttung von Stresshormonen, vor allem Cortisol, hervorgerufen werden und sich störend auf verschiedene Organe und Funktionssysteme auswirken, vor allem auf Gehirn, Herz, Magen-Darm, Stoffwechsel und Infektabwehr. Wer beispielsweise in die erste Phase der heute so viel diskutierten Burnout-Problematik gerät und auf die Herausforderungen am Arbeitsplatz mit überhöhtem Energieeinsatz, zunehmendem Ärger und aggressiven
Impulskontrollverlusten reagiert, sollte an seine dem beruflichen Dauerstress bereits gezollten Kosten denken.

Schon die nächste Burnout-Phase des reduzierten Engagements, des Vermeidungsverhaltens und der gesuchten Distanz geht nämlich in aller Regel schon mit krankhaften körperlichen und seelischen Störungen einher, bevor es in der dritten Phase der Passivität und Isolation dann oft zum Vollbild einer Depression, zu Angst- oder Suchterkrankung kommt“, erläutert Klosterkötter.

stress-situationen erkennen

Der Blick auf die Folgen von Stress zwingt dazu, sich frühzeitig oder bei ersten Wahrnehmungen von Stress mit Vermeidungsstrategien zu befassen. Hier beginnt die Frage, die in der Regel nicht ohne Rat von außen zu beantworten ist: Was kann ich selbst vorbeugend unternehmen, um gar nicht erst in diese Lage zu kommen?