Zwischen Arzt und Patient
Keine Zeit zum Verstehen?
Schmerzen seien das eigentlich nicht. Eher ein Druckgefühl. Auch sei es selten vorhanden, schildert Herr Müller (45). Der HNO-Arzt hebt die Computertomographie des Nasennebenhöhlensystems gegen das Fenster, und für Müller sieht das aus wie Serienaufnahmen eines Monsters. „Das müssen wir operieren“, sagt der Doktor und greift zum Hörer, um die Termine in der Klinik zu vereinbaren. Müller denkt, dass der Doktor es schon wissen werde.
Die Gesprächsführung in der Medizin war, nach bisherigen Maßstäben, patriarchalisch geführt. Das bedeutet, dass sich der Arzt als allwissender Experte in keinerlei Diskussionen einzulassen hat, seine Expertenmeinung zählt. Schließlich heißt „Patient“ der „Geduldige“. Mit der Weiterentwicklung von Reflexionsmechanismen in der Medizin scheint man sich wieder Gedanken über das zu machen, was wesentlich ist: das Gespräch. Ärzte wissen eigentlich schon lange Bescheid über dessen heilsame Wirkung. Heile zuerst durch das Wort, dann durch die Arznei, dann durch das Messer, soll Standespate Hippokrates den angehenden Kollegen verordnet haben. Dass dafür wenig Zeit bleibt, liegt in den komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Ökonomie und Medizin verborgen.
Herr Schmidt (97 Kilo, 176 cm) nimmt zwei Bluthochdruckmittel und bisher eine Tablette gegen zu hohe Blutzuckerspiegel – die scheinen aber jetzt nicht mehr auszureichen. Eine Neueinstellung auf Insulin wird erforderlich. Wie lange er wohl brauchen wird, um dies alles Schmidt zu erklären?, fragt sich sein Arzt. Und kann er, darf er überhaupt, hier seinen Patienten mit in die Pflicht nehmen, und ihm erklären, dass auch sein Lebensstil für die Verschlechterung der Stoffwechsellage mit verantwortlich ist? Und welche Konsequenzen hätte dies für Herrn Schmidt?
Die Bedeutung des Wissens
Bei ökonomischen Prozessen ist die Effizienz eine bekannte Größe: Es gilt, mit wenig Mitteleinsatz ein Ziel zu erreichen. In der Gesundheitsökonomie, der Betrachtung von Gesund- und Krankheit unter wirtschaftlichen Aspekten, zeichnet sich ab, dass Information und Wissen von Patienten wesentlichen Einfluss auf wirtschaftliche Parameter nehmen. Eine schlechte Mitarbeit gefährdet oft den Behandlungserfolg. In amerikanischen Studien aus dem Jahr 2007 erreichten nur 30 Prozent der Patienten mit Bluthochdruck trotz andauernder Therapie langfristig die angestrebten Zielblutdruckwerte. Das liegt zum großen Teil an der mangelnden Adhärenz. Dieser Begriff beschreibt, wie sehr das Verhalten eines Patienten mit den Empfehlungen des Therapeuten übereinstimmt. Dabei ist das konstruktive Ergebnis nicht alleine vom Patienten abhängig, Adhärenz wird durch Berücksichtigung individueller Faktoren, von Verständnisproblemen, dem Aufbau eines guten Vertrauens- und Kommunikationsverhältnisses maßgeblich mit bestimmt. Ein guter Arzt versucht eine gute Adhärenz zu erreichen, in dem er die aktiv erfragte Meinung seiner Patienten mit berücksichtigt. Patienten können eine gute Adhärenz erreichen, wenn sie über ihre Erkrankung ein Wissen entwickeln. Dieser Begriff einer Zusammenarbeit spiegelt also die Prozesse einer gemeinsamen Entscheidungsfindung wider, wie sie gerade bei chronischen und komplexen Erkrankungen mit mehreren Therapiealternativen gewünscht ist.
Der ältere Begriff der „Compliance“ meint hingegen das Befolgen einer Empfehlung, die der Behandler seinem Patienten auferlegt hat. Folgsamkeit. Vor allem in einem Beziehungsverständnis, in dem der Arzt als Experte dem Schutzbefohlenen seine Therapie anordnet, wird Compliance erwartet. Das kann durchaus Sinn machen, in akuten und Notfallsituationen, oder wenn die Entscheidungsfindung keine stärkere Beteiligung des Patienten zulässt. Ein solches paternalistisches Arzt-Patientenverhältnis spiegelt für die meisten Mediziner in Deutschland die in ihrer Ausbildung gelernte Kommunikation wider. Sie kennen gar nichts anderes. Sie haben in ihrem Klinikleben strenge hierarchische Strukturen ohne Reflexion von Führungsqualität, Perspektivenwechsel und Mitarbeiterbeteiligung erfahren müssen. Ärzte müssen sich um folgendes kümmern: Anamnese, Befund, Diagnose und Therapie. Diese vier Pfeiler eines klassischen Arztbriefes bestimmen den Großteil der beruflichen Verantwortung. Mit der zunehmenden Ökonomisierung kommen Budget- und Personalverantwortung dazu, Führungsaufgaben, Konflikte auf einer Managementebene. Für die Aufarbeitung eines eigenen ärztlichen Selbstbildnisses bleibt kein Raum.
Die Zweifel des Patienten
Mittlerweile ist Herr Burg (38) beim dritten Orthopäden angelangt. Die Rückenschmerzen sind jetzt fast täglich da. Als Burg auf die Empfehlung zur Bandscheiben-OP hin sagt, dass ein anderer Orthopäde eine OP abgelehnt hätte, antwortet der Arzt, dass ihn bei dem anderen Kollegen gar nichts mehr wundern würde. Burg weiß nicht, wem er vertrauen soll.
Die Frage, welche Therapie bei bestimmten Beschwerden Sinn machen wird, ist eine komplexe Angelegenheit. Für den Patienten ist das Wichtigste, seine Beschwerden loszuwerden. Dass es dabei ganz verschiedene Möglichkeiten gibt, erfährt er selten von ein und demselben Arzt. Denn auch für den ist die Möglichkeit, Komplexität zu reduzieren, die einzige Art und Weise im Alltag zu bestehen. Oft wissen wir nicht, ob für bestimmte Subgruppen von Patienten, die normalerweise Medikament A erhalten würden, Medikament B doch die bessere Wahl gewesen wäre. Und manchmal wissen wir überhaupt nicht, ob ein Medikament überhaupt eine Besserung bringt. Oder ob es nur der natürliche Verlauf einer Erkrankung ist, den Arzt und Patient gemeinsam beobachten. Die Vielzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen ist nicht zu überblicken. Die Information durch Ärzte ist im Regelfall nicht ausreichend: bei der Verschreibung eines neuen Medikamentes erklärten nur die Hälfte der Kollegen, wie viel und wann die Tabletten eingenommen werden sollen und nur in einem Drittel der Fälle wurden Nebenwirkungen besprochen.
Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen zeigen erstaunlich wenig Interesse an der sprechenden Medizin – Abrechnungsziffern und somit Anreizsysteme sind größtenteils in der instrumentellen Apparatemedizin hinterlegt. Das könnte sträflich sein: gute Patienteninformation kann mehr Sparpotenziale erbringen als komplizierte Rabattverträge für Medikamente. An solchen Erkenntnissen müssen alle Akteure im System schnell dazu lernen. Lernprozesse sind aber nur möglich, wenn man sich konzentrieren kann. Bei dem Getöse, das Interessensgruppen und Politik hier veranstalten, ist das schwer möglich. Als Moderations- und Diskussionsplattform versagen die Medien komplett.
Dr. Wels ist Manager. Und hat keine Zeit. Deshalb ist die Erkältung, die ihn jetzt seit einer Woche beeinträchtigt, schlechter geworden. Jetzt lange es, glaubt er und sagt dies zu seinem Hausarzt. Ein Antibiotikum müsse her. Etwas müsse doch helfen. Der Mediziner ist überzeugt, eine viral ausgelöste Atemwegsentzündung vor sich zu haben. Er will dies seinem Patienten erläutern, dieser fällt ihm ins Wort, dass es ihm zu lange dauern würde. Der Kollege ist müde und will Wels nicht verlieren. Er rezeptiert ein Breitspektrumantibiotikum. Er hat ein schlechtes Gewissen.
Wenn Patienten meinen, eine Behandlung sei teuer, lassen die Schmerzen schneller nach. Wir erwarten einen Effekt von medizinischen Maßnahmen, auch wenn keinerlei Begründung für einen solchen besteht. Dieser Erwartungsdruck und Nachfragesog der „Kundschaft“ ist, weil er Opfer gezielter Beeinflussungsmaßnahmen ist, ein qualitätsmindernder und kostentreibender Faktor. Es ist bekannt, dass die Erwartungshaltung der Patienten das Verschreibungsverhalten der Ärzte maßgeblich beeinflusst. Es gab Untersuchungen, bei denen Schauspieler ihre Kopfschmerzen einmal nüchtern und ein andermal verängstigt ihren Ärzten schilderten: nicht verwunderlich, dass die ängstlichen Scheinpatienten sehr viel öfter an teure Zusatzuntersuchungen überwiesen wurden. Darf das so sein, müssen Ärzte ihren Patienten folgen? Und dürfen Patienten so etwas verlangen? Eine kommunikative Herausforderung, die sich stark auf Qualität und Effizienz auswirkt.
Um dieser zu begegnen, wäre eine offene, interessensarme Information der Patienten erforderlich. Und eine authentische Widergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse, die alle verstehen können – Ärzte, Patienten, Versicherungen. Die im gemeinsamen Diskurs erlebt werden kann. Fast 70 Prozent aller Patienten würden sich wünschen, dass ihr Arzt mit ihnen diskutieren und man zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen würde.
Es ist wichtig, dass das Arzt-Patienten-Gespräch, eine ureigene ärztliche Aufgabe und Kompetenz, mehr beachtet wird – von Versicherungen, Ärzten, Patienten, Politikern. Und dass wir lernen, wie eine seriöse wissenschaftliche Information aller Beteiligten funktioniert. Medizin fängt bei der Beratung an.