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Offenheit darf und muss sein

Rotary Aktuell - Offenheit darf und muss sein
Offenes Eingeständnis einer zeitweiligen Schwäche: Beim Empfang im Hof des Bundeskanzleramtes im August blieb Angela Merkel während der Nationalhymne sitzen, der britische Premier Boris Johnson taktvollerweise auch. © Stefan Boness / Ipon

Der Umgang mit Krankheiten ist schwierig – für die Betroffenen, aber auch für das Umfeld. Transparenz hilft dabei, Rückzug in sich selbst nur bedingt.

Ute Kretschmer-Risché01.12.2019

Wie geht es Ihnen?“ ist vielleicht die meistgestellte Frage der Welt. Zumindest aber die Frage, auf die es die wenigsten tiefschürfenden Antworten gibt. Wissen wir jetzt, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihren Zitteranfällen im Sommer geht? Und müssen wir es wirklich wissen? Gedanken zum Umgang mit Krankheiten.

Wie viel Offenheit ist vertretbar?
Als mir vor drei Jahren mitgeteilt wurde, dass mich die Rotarier Baden-Baden-Merkur gerne in ihren Reihen hätten, stellte ich mir zwei Fragen: Passe ich da rein? Und kann ich meinen Beitrag überhaupt leisten? 2011 hatte ich die Diagnosen Multiple Sklerose und Diabetes erhalten, bald darauf folgte Krebs. Die Krankheiten stören und ängstigen. Mal mehr, mal weniger. Was darf ich davon preisgeben? Haben mich die Rotarier nicht ausgewählt, weil ich aktiv, erfolgreich und strahlend bin – oder zumindest so wirke? Andersherum: Kann das offene Eingestehen einer schwerwiegenden Krankheit im Business nicht schwerwiegende Folgen haben? Kriselnde Unternehmen werden im Ranking abgestraft, kränkelnde Unternehmerinnen womöglich gleich aus der Wahrnehmung gestrichen.
„Wie geht es dir?“ Mein Umfeld fragt mich nicht mehr. Ich nenne es die verbotene Frage. Was soll ich antworten? Als Ruhrgebietsmensch bin ich sehr offen. Die Antwort käme einem Bulletin gleich. Dafür ist weder Zeit noch Notwendigkeit. Was ist die gängige Alternative? „Danke, gut. Und dir?“ Knapp, aber mitunter unaufrichtig. Bei uns Rotariern ist die Frage nach dem Wohlbefinden mehr als gesellschaftliche Konvention. Nach längerem krankheitsbedingten Fehlen bei unseren Meetings ist das kein einfacher Übergang, kein business as usual. Aber wer von uns kann wirklich gut mit Krankheiten umgehen? Wer selbst betroffen ist, muss erst mal mit sich klar kommen: Wie geht es weiter? Wer ist der beste Arzt für mich? Was macht meine Krankheit mit meiner Familie? Wie lange falle ich voraussichtlich aus? Wie bin ich finanziell versorgt? Durchaus Themen im Austausch mit Rotariern.

Von 1000 auf null
Als ich meine Diagnosen bekam, war ich geplättet. Von gefühlten 1000 Prozent Einsatz für Beruf, Familie und Ehrenämter bin ich auf null runtergekracht. Zunächst unfähig, mit jemandem zu reden, mich den Problemen selbst zu stellen. Doch kein Verweilen! Als Selbstständige musste ich mich meinen Mitarbeitern und Kunden erklären. Viele waren genau wie ich überfordert. „Können wir uns überhaupt noch auf die verlassen?“ In einem großen Unternehmen läuft die Maschinerie mit Vertretung und Kommunikation an. Bei damals 18 Mitarbeitern hatte ich es bedeutend schwerer. Wenn ich für mich selbst viele offene Fragen habe, wie soll ich sie denn anderen zufriedenstellend beantworten? Wie werden sie reagieren? Mit Kündigungen bzw. keinen neuen Aufträgen? Das geht an die Substanz, und die heißt Existenz. Ein DAX-Unternehmen muss Auskunft zu Entwicklungen geben. Ein US-Präsident ist zur Information verpflichtet. Aber muss das auch stimmen? Fußballer Leroy Sané hat sich mit seiner Verletzung und dem ungewissen Heilungsverlauf erst mal den Transfer zu Bayern München verbaut. Das wurde schonungslos medial offengelegt. Und was ist mit der Kanzlerin? Das Fernsehvolk erschrak, als ihre Souveränität im Zittern unterging. Wir wollen immer wissen: Was ist die Ursache? Wann ist das vorbei? Bitte um genaue Angaben … Viel erfahren haben wir bei Angela Merkel nicht. Vielleicht hat sich das Problem auch schon erledigt. Gut, wenn es so wäre! Ich bin versucht zu schreiben: Jeder hat das Recht auf Krankheit. Zumindest auf Rekonvaleszenz. Aber auch auf Ruhe und Diskretion!

Alles, bloß kein Mitleid
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hat ihren Brustkrebs per Pressekonferenz erklärt. Um Verständnis für Ruhephasen gebeten und verkündet, sie wolle kämpfen. Gegen ihre Krankheit und für ihr Amt. Das kam glaubwürdig rüber und löste Sympathien aus. Alles, bloß kein Mitleid! 
Respekt bekommt, wer nicht jammert und lamentiert, sondern sich dem Leben positiv stellt. Dazu gehört für mich der offene Umgang mit eigenen Krankheiten. Wir Betroffenen können Gesunden Ängste nehmen, Fragen anders als Ärzte beantworten. Nur die Reaktionen darauf haben wir nicht im Griff. Kann die das noch? Im Falle von „Deutschlandchefin“ Merkel heißt das wohl: Hat sie noch die Kraft, sich gegenüber Trump und Putin zu behaupten? Wir denken dabei eher an uns, das Volk, als an die Person Angela Merkel. Schauspieler Ulrich Matthes sagt in der ZEIT (Nr. 41): „Nach all den langen Jahren im Amt zittert die Kanzlerin mal – und da müsste doch die erste Reaktion ausschließlich Empathie sein.“

Nicht nur betüdelt zu werden tut gut
Fehlt noch die Frage: Wie gehen wir selbst, die akut oder chronisch Kranken, mit unserem Thema um? Häufige Reaktion: Rückzug. Die Konzentration auf sich selbst spart Kraft. Eines sollten wir Betroffenen aber nie vergessen: Nicht nur der Körper entscheidet über die Genesung. Jedes Aufraffen zum Meeting ist ein Erfolg. Jeder geistige Input stärkt die seelische Immunabwehr. Rotarische Treffen als indirekte Krankenpflege. Oder nennen wir es besser: Gesundheitspflege. Mit der eigenen Maxime: So wie wir kein Mitleid wollen, gehört Wehklagen nicht zum guten Ton. Hier bin ich Mensch, hier darf ich Rotarier sein. Aufgenommen und gewertschätzt. Da ist die rotarische Familie weniger betüdelnd als die eigene zu Hause. Tut gut.
Natürlich frage ich mich: Was kann ich noch? Oft überschreite ich meine Grenzen. Aber wer legt diese fest? Mein Körper? Mein Arzt? Mein Umfeld? Bloß nicht die eigenen Geschicke ausschließlich in andere Hände geben. „Das tut dir nicht gut!“ Jeder muss für sich selbst herausfinden, was machbar ist. Das gilt ja nicht nur bei Krankheiten, sondern zum Beispiel auch im Alter. Lassen wir uns bloß nicht abschreiben! Natürlich weiß ich, dass ich an keinem Ironman mehr teilnehmen kann, aber das konnte ich auch vor den Krankheiten nicht. Aber es gibt noch 1000 andere Optionen. Ich rede nicht davon, was ich nicht (mehr) kann, sondern von meinen Plänen und Aktionen. Zur Umsetzung dieser imaginären Liste muss ich 100 werden! Ein wichtiger Schritt dahin: nicht um sich selbst kreisen! Ehrenämter und unsere rotarischen Projekte tun gut. Das weckt die Lebensgeister. 
Ich habe mit meinem Club Baden-Baden-Merkur sehr viel Glück. Präsident und Freunde haben mir nach der letzten Krebs-OP signalisiert, dass ich ihnen fehle, dass sie an mich denken, und sie haben mir die Frage gestellt: „Was können wir für dich tun?“ Eine schöne Frage. Für mich angenehmer als „Wie geht es dir?“. Es signalisiert: Wir sind für dich da! Ein wunderbarer rotarischer Gedanke.