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„Geh ins Offene“

Forum - „Geh ins Offene“
Februar 1991: Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen und Jugend, steht am Schreibtisch in ihrem Büro in Bonn © Picture Alliance/Svensimon

Angela Merkel und ich saßen jahrelang im selben Büro. Dann fiel die Mauer. Ich widmete mich der Kultur und dem Schreiben, sie wurde Kanzlerin. Persönliche Erinnerungen von Michael Schindhelm

Michael Schindhelm01.12.2024

Als ich Angela Merkel im Winter 1983 kennenlernte, arbeitete sie in einem einstöckigen, wackligen Bungalow, in einem lauschigen Winkel auf dem Gelände der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin-Adlershof. In den mannshohen Schlehenbüschen zeterten Spatzen. Feldhasenspuren verliefen über den Schnee. Irgendwo hinter einem verrosteten Maschendrahtzaun begann die Brandenburgische Steppe. Die Zufahrtsstraße endete kurz hinter dem Campus in der Mauer. In den folgenden Jahren saßen Merkel und ich im selben Büro und fuhren oft gemeinsam vom Prenzlauer Berg mit der S-Bahn zur Arbeit. Vom Zug aus sah man an mehreren Stellen hinüber auf die Dächer und Schrebergärten von Kreuzberg und Neukölln. Auf das für uns unerreichbare Jenseits der anderen Stadthälfte. Es herrschte die soziale Apathie der sterbenden DDR.

Davon ließen wir uns aber nicht anstecken. Vielleicht lag es an der ähnlichen Sozialisierung (protestantisches Elternhaus), dass wir keine Bedenken hatten, offen miteinander zu sprechen. Angela Merkel, die einzige Frau in diesem Zirkel von (außer mir) ehrwürdigen Wissenschaftlern einer anderen Generation, hatte ihre Neugier für das Fremde nicht verloren. Von mir wollte sie vor allem über die Perestroika und Gorbatschow hören, denn ich hatte gerade fünf Jahre in der Sowjetunion verbracht. Sie schloss sich auch einem Team von jungen Wissenschaftlern aus der Tschechoslowakei und Polen an, um aus dem ostdeutschen Trott rauszukommen. Zusammenarbeit mit dem Westen war für unsereinen außer politischer Reichweite.

Sie blieb nicht drüben, sie kam zurück

Obwohl es ihr mit der Wissenschaft ernst war, interessierte sie sich (auch) für die Künste. Manchmal gingen wir zusammen ins Konzert. Oper hatte es ihr schon damals angetan. Gab es im Ostberliner Babylon eine Retrospektive von Filmen aus dem Westen (meist Vorkriegsware wie Der andalusische Hund und dergleichen), die man ansonsten nicht zu sehen bekam, dann war Angela dabei. Meistens sah man sie in Jeans und Pullover, ein schlankes Mädchen mit großen, wachen Augen, die an freien Wochenenden gerne in der Mark Brandenburg und an der Ostsee Rad fuhr und die für die Männer im Büro den Kaffee türkisch kochte. Ihr Freundeskreis bestand vor allem aus ihresgleichen, jungen Akademikern, von denen die meisten nicht zur Partei gehörten, sondern der evangelischen Kirche nahestanden. Dort hat sie begonnen, sich politisch zu engagieren.

In den späten 1980ern durfte sie zum ersten Mal in den Westen reisen, ein Verwandtschaftsgeburtstag. Sie kam zurück, im Unterschied zu vielen Ostdeutschen in dieser Zeit. Sie sagte mir, dort sei zwar das gelungenere Deutschland, aber ihr Lebensmittelpunkt sei nun mal hier. Lebensmittelpunkt: Das waren Joachim Sauer, ihre Familie, ihre Freunde, offenbar die Akademie.

Dann kam die friedliche Revolution, es fiel die Mauer. Alles wurde anders. Merkel ahnte das. Der Lebensmittelpunkt würde sich verschieben. Unvorstellbare Dinge würden passieren. Bald zog sie in Kohls erstes gesamtdeutsches Kabinett ein.

Als Anfang 2000 mein erster Roman Roberts Reise erschien, hatte sie gerade in der FAZ den offenen Brief an Helmut Kohl veröffentlicht, der zu seinem Sturz und ihrem Aufstieg führte. Sie erkannte sich in einer Figur von Roberts Reise wieder: Renate. Der Erzähler schenkt Renate in der Geschichte zum Abschied ein Buch. Das Buch enthält die Widmung: „Geh ins Offene“. Ein paar Monate später wurde Angela Merkel von einer Männerriege rheindeutscher Konservativer zur Vorsitzenden gewählt. In ihrer Antrittsrede auf dem CDU-Parteikongress rief sie den Delegierten den mir vertrauten Satz zu: „Geht ins Offene!“ Es war der Beginn einer neuen Ära. Nicht nur für die CDU, wie sich bald zeigen würde.

Nicht greifbar, schwer einzuordnen

Ich hatte Renate und die Widmung erfunden. Merkel nahm sie trotzdem ernst. Am 3. Oktober 2006 erinnerte sich Merkel in ihrer ersten Rede als Bundeskanzlerin zum Tag der Deutschen Einheit an die Wende in der DDR und an diese fiktive Widmung: „Sie ist für mich wie die Überschrift über all meine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte dieser Zeit. Geh ins Offene. Das war mit das Schönste, was man mir zu dieser Zeit sagen konnte. Und wie ich losmarschiert bin!“

Der Weg von dem inzwischen abgerissenen Bungalow in Adlershof an die Spitze der Bundesregierung und zu 16 Jahren Kanzlerschaft war Merkels langer Marsch. Unzählige Kommentare haben ihren Marsch begleitet. Aber die Persönlichkeit Merkel ist für viele so etwas wie ein Rätsel geblieben, und es bleibt abzuwarten, inwiefern ihre Autobiografie zur Lösung beiträgt oder sie weiter verschlüsselt.

Das Rätsel liegt vermutlich darin begründet, dass Merkel in keine Schublade passt, und das nicht nur weil sie eine Frau und eine ehemalige Naturwissenschaftlerin ist. Sie gehörte in der DDR weder der SED noch einer Blockpartei an und kann auch nicht als eine Aktivistin des Widerstands bezeichnet werden. Im ersten Jahrzehnt der deutschen Einheit – bis zum Ende der Ära Kohl – könnte man ihr politisches Agieren als eher unauffällig bezeichnen.

Dieses schwer Einzuordnende an Merkel hat immer wieder und vor allem unter den westdeutschen Eliten zum Teil abenteuerliche Spekulationen aufkommen lassen. Die Unternehmensberaterin Gertrud Höhler machte Merkel zu einer „Fremden aus Anderland“ (womit zugleich und beiläufig die Meinung der renommierten Publizistin über die neuen Bundesländer zum Ausdruck kommt) und kam zu dem Schluss: „Die schwer lesbare Bundeskanzlerin lebt tendenziell immer undercover.“

Selbst wer in diesem und ähnlichen Statements über Merkel eine Polemik des konservativen Establishments liest, wird anerkennen müssen, dass Merkel vielleicht nicht unbedingt „schwer lesbar“ gewesen ist, aber immer wieder für eine Überraschung gut.

Besonders in Erinnerung geblieben ist das längst geflügelte Wort „Wir schaffen das!“ und die Konsequenzen, die Merkels Ausspruch auf der Bundespressekonferenz vor neun Jahren im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise ausgelöst hat. Unter anderem die Zeit-Journalistin Tina Hildebrandt stellte damals sofort den Zusammenhang mit einem anderen Zitat her: „Geh ins Offene“, Worte, mit denen ein Alter Ego Merkels in meinem Roman ein Buch geschenkt bekam.

Merkel erfand sich neu

Merkel selbst kam immer wieder während ihrer Kanzlerschaft darauf zurück. Nicht nur in Deutschland. In ihrer viel beachteten „Commencement Address“ an der Harvard-Universität im Mai 2019 gab sie eine Beschreibung ab, die beinahe genau der betreffenden Passage aus Roberts Reise entspricht: „My first job after graduation was as a physicist in East Berlin at the Academy of Sciences. I lived near the Berlin Wall. On the way home from my institute I walked past it every day. Behind it lay West Berlin, freedom. And every day, when I was very close to the Wall, I had to turn away at the last moment – and head towards my apartment. Every day I had to turn away from freedom at the last minute. (…) Then came the year 1989. (…) The moment had come for me, too, to step through that door. I did not have to turn away from freedom at the last minute any longer. I could cross that border and venture out into the great, wide open.“

Mir geht es hier nicht darum, Urheberrechtsfragen zu klären. Als ich in den letzten Monaten von Merkels Kanzlerschaft gefragt worden bin, was mir zu diesen Jahren einfällt, da schien es mir wichtig, einen Zusammenhang herzustellen: jenen von 1989 und was diese politische Wende für Menschen unserer Generation (Merkels und meiner) aus dem Osten Deutschlands bedeutet hat.

Die Erfahrung des Zusammenbruchs eines das eigene Land beherrschenden Regimes und schließlich eines weltpolitischen Systems mag entweder zu Lähmungserscheinungen führen oder zu radikaler Selbstmotivation. Viele in Ostdeutschland und möglicherweise auch in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks haben die Lähmung nur zögerlich oder gar nicht überwunden. Angela Merkel gehörte zu jenen, die sich neu erfunden haben.

In den häufigen Gesprächen, die ich vor allem mit Menschen aus den USA, Frankreich oder Großbritannien über Merkel geführt habe, überwog die Bewunderung für genau diese Eigenschaft des Sichneu-Erfindens. Für Journalisten aus dem Westen, die sich viel mit Merkel und ihrer Politik beschäftigt haben (in der Regel Frauen), war Merkel vor allen anderen Aspekten zunächst einmal eine mutige Frau.

Sie zeigte, was möglich war

Dass man aus größerer Nähe – in Deutschland – die Dinge anders beurteilt (hat), ist mir nicht entgangen. Doch da ich selbst seit bald 30 Jahren im Ausland lebe und Merkels Ära eher von außen erlebt und beobachtet habe, lese ich die politische Karriere der Angela Merkel als eine Erfolgsgeschichte sowohl für Merkel selbst als auch für das Land, in dem sie 16 Jahre regiert hat. Die persönliche Biografie Merkels verstehe ich als eine Ermutigung an eine junge Generation von heute, deren berufliche und soziale Chancen vielleicht oft nicht viel besser stehen als einst für unsere Generation hinter dem Eisernen Vorhang. Dass eine Außenseiterin wie Merkel die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland werden konnte, spricht am Ende doch dafür, dass es in diesem Land mehr soziale Mobilität gibt, als die Schwarzmaler der deutschen Einheit wahrhaben wollen.


 

Angela Merkel, Beate Baumann

Freiheit

Kiepenheuer & Witsch,

736 Seiten, 42 Euro,

erschien weltweit am 26. November 2024

 

Michael Schindhelm

Michael Schindhelm wurde 1960 in Eisenach geboren, ist ehemaliger Quantenchemiker und Theaterintendant, heute Filmemacher, Autor und Kurator. Er wohnt im Tessin und in Singapur. 

© Aurore Belkin

michaelschindhelm.com
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