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Buch der Woche

Das Schicksal von Kindern berühmter Eltern

Anatol Regnier beleuchtet in »Wir Nachgeborenen. KInder berühmter Eltern« die Schicksale von Menschen, die aus berühmten Familien stammen und angesichts bedeutender Vorfahren einen eigenen Weg finden müssen.
Wie gehen die Töchter und Söhne mit ihrem Erbe um, das ihnen eine Ausnahmeposition zuweist, die nicht die eigene ist? Ist ein berühmter Name Türöffner oder Hindernis? Wieviel Mut erfordert es, sich auf Gebiete zu wagen, auf denen die eigenen Eltern oder Großeltern Bedeutendes geleistet haben? Und wieviel innerer Größe bedarf es, einzusehen, dass das eigene Talent nicht ausreicht?

23.12.2014

EIN BESUCH IN GARMISCH

Am Dienstag, dem 15. Mai 1945, von Leoni am Starnberger See kommend, vorbei an St. Heinrich, wo seine ehemalige Braut Pamela Wede - kind wohnt und ihr fünfmonatiger Sohn Anatol in seinem Wäschekorb liegt, fährt Klaus Mann, achtunddreißig Jahre alt, in amerikanischer Uniform, von einem Armeeangehörigen chauffiert, nach Garmisch. Vor einer knappen Woche ist er über Florenz, Bologna, Verona und Innsbruck aus Rom gekommen, hat Hitlers zerbombten «Berghof» am Obersalzberg besichtigt und sich in Rosenheim im Büro der US -Militärzeitung «The Stars and Stripes» gemeldet, für die er als Korrespon dent unterwegs ist. Nach zwölfjähriger Abwesenheit hat er seine zerstörte Geburtsstadt München wiedergesehen. Hauptbahnhof und Odeonsplatz waren kaum zu erkennen, den Englischen Garten musste er suchen. Dann stand er vor seinem Elternhaus, Poschingerstraße 1 im Herzogpark, sah eingestürzte Decken und einen seltsam kleinen Raum, der einmal das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen war, und erfuhr von einer im Obergeschoss hausenden jungen Frau, dass früher hier ein Schriftsteller gewohnt und später die «Lebensborn»-Bewegung eine Zeugungsanstalt unterhalten habe. Zurück in Rosenheim, ist ihm Curt Riess über den Weg gelaufen, jüdischer Buchautor und Journalist aus Würzburg, Emigrant und uniformierter amerikanischer Kriegsberichterstatter wie er selbst. Der sitzt jetzt neben ihm im Jeep.

Der Wagen hält in Garmisch vor dem schmiedeeisernen Tor des Anwesens Zoeppritzstraße 42. Auf einem parkähnlichen, nach hinten leicht ansteigenden Grundstück liegt eine im Stil der Jahrhundertwende erbaute Villa mit Loggia, Erkerturm und Walmdach. Von Krieg und Zerstörung ist hier nichts zu merken. Die Besucher geben sich als two American Correspondents aus, wie sie ihr gutes Deutsch erklären, ist nicht bekannt. Der Eigentümer der Villa, ein rüstiger alter Herr, empfängt sie freundlich und ohne sichtbares Misstrauen. Es ist der Komponist Richard Strauss. Klaus Mann will ihn fragen, was er alle hiergebliebenen Deutschen fragen will: Wie fühlt man sich im Katzen jammer? Hat man sich nicht doch geirrt, als man Hitler zugejubelt und im Chor «Sieg Heil!» gebrüllt hat? War es in Ordnung, der Entrechtung und Vertreibung jüdischer Mitbürger zuzusehen, sich an ihren zwangs - weise zurückgelassenen Besitztümern zu bereichern, ihre Posten zu besetzen? Was sagt man jetzt, da man weiß, dass sie nicht nur vertrieben, sondern ermordet wurden? Klaus Mann erwartet nichts Gutes von seinem Gegenüber: Gestern hat ihm in Augsburg Hermann Göring versichert, von Auschwitz nichts gewusst zu haben, sonst wäre er, Göring, natürlich sofort eingeschritten. Richard Strauss war immerhin Präsident der «Reichsmusikkammer» und allem Anschein nach eine einflussreiche Persönlichkeit im Nazi-Reich – was hat er wohl zu sagen?

Was Richard Strauss sagt – und wie er es sagt –, wissen nur die Beteiligten. Was er laut Klaus Mann gesagt haben soll, ist dem Artikel zu entnehmen, der am 29. Mai in «The Stars and Stripes» erscheint: Strauss Still Unabashed About Ties With Nazis, by Cpt. Klaus Mann, Staff Correspondent. Darunter ein Foto von Richard Strauss, die Augen geschlossen, den rechten Arm erhoben, als leiste er einen Schwur oder dirigiere eine Militärkapelle, mit der Unterschrift: HIS HEART BE AT IN NAZI - TIME , Richard Strauss, an old opportunist who heiled Hitler. Klaus Mann beschreibt ihn als vollkommen uneinsichtig, dabei von klarem Verstand. Baldur von Schirach sei a very nice chap gewesen, Hans Frank habe einen delicate artistic taste gehabt und der «Führer» gute Musik geschätzt. Lediglich die Absetzung seiner Oper «Die schweigsame Frau» wegen des jüdischen Librettisten Stefan Zweig, den er gern behalten hätte, sei ihm aufgestoßen, und das Ansinnen der örtlichen Gauleitung, Ausgebombte in seiner Villa einzuquartieren. Abgesehen davon sei er gut behandelt worden. Warum ist er nicht emigriert? Warum sollte er – er hat hier seine Einnahmen. Warum hat er ein Dirigat Bruno Walters übernommen, das dieser als Jude nicht ausführen durfte? Warum nicht? Hätte seine Absage Bruno Walter ge nützt? Antisemitismus, folgert Klaus Mann, stört Richard Strauss nur, wenn es um eigene Interessen geht. Es sei sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Curt Riess habe sich ein signiertes Foto erbeten, er selbst habe kei - nes gewollt. An ignorant little newspaperman who doesn’t appreciate genius, habe Richard Strauss wahrscheinlich gedacht. Klaus Mann berichtet seinem Vater brieflich von der Begegnung, in englischer Sprache, wie es die Armee-Vorschrift verlangt: Die selfishness und naiveté von Richard Strauss seien absolutely staggering, er sei just about the most rotten character one can possibly imagine – dumm, selbstzufrie - den, geizig, eitel, completely lacking in the most fundamental human impulses of shame and decency. In dem im New Yorker «Esquire» im Januar 1946 erschienenen Aufsatz «Three German Masters», der auch Berichte über seine Besuche bei Franz Lehár und Emil Jannings ent - hält, schildert er die Episode ein weiteres Mal.

Wie hätte Richard Strauss reagiert, wenn er gewusst hätte, wer da vor ihm stand? Wäre er vorsichtiger gewesen? Hätte er sich verweigert? Verlegenheit gespürt? Hätte Klaus Mann ihn anders beurteilen können, als er es tat? Was ist beider Vergangenheit, was beider Zukunft? Und welche Rolle spielt Thomas Mann als Dritter im Bunde?

Thomas Mann und Richard Strauss verbindet eine lange Bekanntschaft, aber keine Nähe. Zu unterschiedlich sind die Temperamente, die Herkunft, das Auftreten, der persönliche Stil, der «Stallgeruch», der besonders dann relevant wird, wenn Konkurrenz im Spiel ist. Und Konkurrenz gibt es, obwohl oder vielleicht gerade weil beide in unter - schiedlichen Künsten unterwegs sind. Thomas Mann ist, so heißt es, der musikalischste aller Dichter. Ich mache so viel Musik, als man ohne Musik füglich machen kann, sagt er von sich. Kann man das: Musik ohne Musik machen? Ist das nicht ein ewig unerlöster Zustand? Eine Quelle der Sehnsucht und des Leidens? In der Novelle «Tristan» spielt Gabriele, die «Gattin Herrn Klöterjahns», trotz ärztlichen Verbots Klavier, in einem Sanatorium, überredet und verführt vom Dichter Spinell, einem schwachen und hellsichtigen Menschen. Sie weiß: Sie darf nicht spielen, es schadet ihrer Gesundheit, aber sie erliegt der Versuchung, spielt ein Chopin’sches Nocturne, ein zweites, ein drittes, spielt das ganze Heft, kann nicht aufhören und spielt, da die Noten zufällig vorhanden, die ersten beiden Akte aus «Tristan und Isolde» und erlebt in einem schwelgerischen Thomas-Mann-Text eine Liebesglut, die zum Tod führen muss, ohne körperliche Berührung, allein befeuert durch die Kraft der Musik – mehr Musik ohne Musik zu machen, ist füglich kaum möglich. Plötzlich fragt sie Herrn Spinell: «Wie kommt es nur, daß Sie, der Sie es so gut verstehen, es nicht auch spielen können?» Die Frage bringt ihn außer Fassung. Er errötete, rang die Hände und versank gleichsam mit seinem Stuhle. «Das trifft selten zusammen», sagte er endlich gequält. «Nein, spielen kann ich nicht.» Herr Spinell soll ein unvorteilhaftes Porträt des Schriftstellerkollegen Arthur Holitscher sein, aber natürlich spricht Thomas Mann auch über sich selbst: Er hat als Kind das Geigenspiel erlernt und bis zu einer gewissen Fertigkeit entwickelt, es aber aufgegeben, vermutlich weil es dem eigenen An - spruch nicht mehr genügte. Seitdem gilt: Er kann nicht spielen.

Aber kann es Gabriele? Zwar weiß sie das mittelmäßige Piano mit sicherem Geschmack zu behandeln und zeigt einen nervösen Sinn für differenzierte Klangfarbe, aber sie ist keine Musikerin, hat mit ihrem Vater nach der Art höherer Töchter Hausmusik betrieben und, wie sie Herrn Spinell sagt, alles verlernt. Und jetzt ein ganzes Heft Chopin’scher Nocturnes? Und zwei Akte einer Wagner-Oper aus dem Klavierauszug? Kann sie tatsächlich die einsame und irrende Stimme des «Sehnsuchtsmotivs» zum Klingen bringen, mit wundervollem Sforzato das «Liebesmotiv» gestalten? Als Hobby-Pianistin auf einem mittel - mäßigen Sanatoriums-Klavier? Nein, verehrter Thomas Mann, das ist nicht möglich! Thomas Mann bringt die eigene Beschränkung literarisch auf den Punkt: Um Musik zu machen, muss man es auch können. Nicht umsonst ist Herr Spinell eine traurige Figur.

Richard Strauss spielt Skat. Warum? Weil es, wie er sagt, die einzige Zeit ist, in der er nicht an Musik denkt. Was denkt er, wenn er an Musik denkt? An metaphysische Zusammenhänge, schicksalhafte Verknüpfungen? Vielleicht. Aber auch, darf man annehmen, an die Frage, ob ein Akkord so oder so aufzulösen, ein Motiv so oder so zu entwickeln und statt den Holzbläsern vielleicht doch den Streichern zuzuordnen sei. Thomas Mann redet über Musik, Richard Strauss macht sie. Das ist der Unterschied, und er fällt, was den musikalischen Gedanken be - trifft, zu Gunsten Richard Strauss’ aus. Er ist die glücklichere Natur. Während Thomas Mann mit höchstem Bedacht Seite auf Seite schichtet, in einer Selbstknechtung des Willens, die Nerven oft bis zum Schreien angespannt, sagt Richard Strauss von sich selbst: «Ich komponiere wie die Kuh Milch gibt.» Und tut es nur im Sommer – die Winter verbringt er mit Reisen, Dirigieren, Orchestrieren, Letzteres eine handwerkliche Tätigkeit, bei der ihn häusliches Leben nicht stört, in starkem Gegensatz zu Thomas Manns geheiligten Arbeitsstunden. Dessen Vorträge sind bis auf das Komma ausgefeilt, Richard Strauss sagt zu einer Stu - dentin, die ihm die Noten umblättern soll: «Schauen Sie nicht zu ge - nau hin, ich spiele manchmal etwas ganz anderes.» Mitten in einer Mozart-Oper steigt er vom Dirigentenpult und improvisiert das Conti - nuo auf dem Cembalo, unerschütterlich sicher, stilgerecht und spa - ßeshalber mit Zitaten aus eigenen Werken geschmückt. Kaum denk - bar, dass jemand, der seine Kunst so spielerisch leicht und dabei so selbstbewusst und erfolgreich ausübt, nicht Thomas Manns Bewunderung, Kritik und Neid erweckt haben sollte, wie es um 1914 sein Bruder Heinrich getan hat, der vergleichsweise schnell und mühelos schrieb und damals obendrein erfolgreicher war.

Was Richard Strauss von Thomas Mann gelesen hat, ist nicht bekannt, aber gemocht hat er ihn nicht. Der zugereiste Wahlmünchner, der sich gern über Musik äußert, obgleich er, streng genommen, nichts davon versteht, ist ihm unsympathisch. Es verdrießt ihn, dass Thomas Mann seinen Konkurrenten Hans Pfitzner in den Himmel hebt, mit dem ungeliebten Bruno Walter Freundschaft pflegt und überhaupt zu allem und jedem «seinen Senf dazugeben muss». (Richard Strauss tut das auch, aber praktischer, direkter, weniger geschwurbelt.) In einem Brief an den Dirigenten Clemens Krauss klagt er, dass eine Radiosendung, die er hören wollte, ausgefallen ist, weil Thomas Mann zu lang über Goethe gequatscht hat. Richard Strauss ist Bayer, Thomas Mann Hanseat, in bayerischen Augen also Preuße, mit allen schlechten Eigenschaften, die ein Preuße haben kann: Hochgestochenheit, Um - ständlichkeit, Vornehmheit, gedrechselte Ausdrucksweise und, das Allerschlimmste, «geschwollenes Daherreden». Geschwollenheit war es auch, die Thomas Mann im April 1933 in einem «Protest der Richard-Wagner-Stadt München» vorgeworfen wurde, nachdem er im Audimax der Universität seinen Vortrag «Leiden und Größe Richard Wagners» gehalten hatte. Prominentester Unterzeichner war damals Richard Strauss gewesen. Seitdem sind die Fronten klar: Thomas Mann wähnt Richard Strauss dem Ungeist verfallen, fühlt sich mora - lisch überlegen, künstlerische Rivalitäten treten zurück. Was Richard Strauss zur Unterzeichnung bewogen hat, weiß er vielleicht selbst nicht genau, Opportunismus und Berechnung waren vermutlich dabei, vielleicht auch die instinktive Abneigung des Bayern gegen das Norddeutsche oder latent Homosexuelle. Von Curt Riess auf den Vorfall angesprochen, zuckt er mit den Schultern und meint, er habe den fraglichen Aufsatz gar nicht gelesen. Thomas Mann bescheinigt ihm daraufhin phänomenale Wurschtigkeit – und wählt, als Meister der Charakterisierung, einen bayerisch gefärbten Ausdruck. Ihm selbst verursachte der Angriff aus der Stadt, in der er vierzig Jahre lang gelebt hatte, einen Choc von Ekel und Grauen . Er befürchtete, in Schutzhaft genommen zu werden, und sah seine lang gehegte Ahnung bestätigt, dass Musik, die deutscheste aller Künste, den deutschen Geist, und damit die deutsche Nation und das Deutschtum schlechthin, sowohl in sublimste Höhen, als auch in die Barbarei führen könne – im «Doktor Faustus» wird er darauf zurückkommen (und Richard Strauss ei - nen begabten Kegelbruder nennen). Richard Strauss, solchen Überle - gungen abhold, ist überzeugt, dass Musik, schöne, kunstvolle, aufregende und süße Musik, wie Mozart sie schrieb und er selbst sie zuweilen hervorbringt, fern aller Politik wichtigste Bewahrerin der Kultur ist. Er soll seine Unterschrift im Nachhinein bedauert haben. Es sei eine «dumme G’schicht» gewesen. Seinem Ansehen schadet sie bis heute.

Die Liste der gegen Strauss erhobenen Vorwürfe ist lang, und wer sie bestätigt sehen will, findet Belege genug, vom Telegramm an Goebbels nach dessen Rede gegen «atonale» Komponisten im Dezember 1934 (Begeisterte Zustimmung, in treuer Verehrung, Heil Hitler, Richard Strauss) über die Komposition und das öffentliche Dirigat der Olympia-Hymne 1936 bis zum selbst getexteten Kanon für «Generalgouverneur» Hans Frank vom Herbst 1943 (Wer tritt herein so fesch und schlank? Es ist der Freund Minister Frank) . Richard Strauss, so heißt es immer wieder, sei grob, geldgierig und gewissenlos gewesen, nur auf den eigenen Vorteil bedacht und allzeit bereit, seine Interessen durch - zusetzen. Den Nazis habe er sich angedient, trotz seines Alters und seines Ruhms, in der Hoffnung, sie würden ihm seine Stellung als größten lebenden Komponisten zurückgeben. Und Antisemit sei er gewesen, trotz seines Eintretens für Stefan Zweig, das zwar ehrenhaft war, aber doch nur halbherzig und vielleicht nur das Ziel hatte, ihn als Librettisten zu behalten. Sein Leben lang habe er auf Juden geschimpft, ihre Verfolgung und Ausrottung durch die Nazis habe ihn kaltgelassen, sonst hätte er sich äußern müssen, die Nazis hätten ihn nicht ange - rührt, dazu war er zu berühmt, aber einen öffentlichen Protest von ihm habe es nicht gegeben.

Richard Strauss weiß, was man über ihn denkt, weiß um die eigene sperrige Persönlichkeit – oder er weiß es nicht und ist einfach so, wie er ist. Mit Sängerinnen und Textdichtern, die seine Erwartungen enttäuscht haben, ist er hart ins Gericht gegangen. Auch ein harter Verhandler ist er gewesen, hat während der Inflation Dollargagen verlangt und sich, als alle anderen kein Geld hatten, ein prächtiges Haus in Wien bauen lassen, das die Ärmeren dann das «Strauss-Schlössl» nannten. Er ist Pragmatiker. Gute Sängerinnen, meint er, müssen gut honoriert werden, sonst wandern sie nach Amerika ab, und mit schlechten will er nicht arbeiten. Den «Allgemeinen Deutschen Musikverein», die spätere GEMA , hat er mitbegründet, damit auch weniger erfolgreiche Kollegen einen Teil des Kuchens abbekommen, aber da er erfolgreicher ist als die meisten, ist sein Kuchenstück auch besonders groß, das wird jeder einsehen. Als Kultur-Funktionär der Nazis war er darauf bedacht, Entwicklungen in eine nach seiner Meinung förderliche Richtung zu steuern, manche seiner Briefe und Ergeben - heitsadressen sind hieraus zu erklären (und atonale und besonders serielle Musik findet er in der Tat abscheulich). Ja, er ist in Nazi-Deutschland häufig aufgeführt worden, Gott sei Dank, könnte er sagen, Goethe, Schiller, Shakespeare und Mozart wurden es auch – muss nun ausgerechnet er sich dafür entschuldigen? Für den Nazi-Bockmist, der sonst gespielt wurde, kann er nichts. Er hat sich für Qualität eingesetzt, das kann jeder nachlesen, für Paul Dukas und dessen «Blaubart» zum Beispiel, und ist dem Hamburger «Tonkünstlerfest» 1935 ferngeblieben, weil man Dukas als Juden ablehnte, auch das ist amtlich. Es stimmt, er hat Stefan Zweig, als dieser sein kulturpolitisches Verhalten in Nazi-Deutschland rügte, in einem unwirschen Brief jüdischen Eigensinn, Rassestolz und Solidaritätsgefühl vorgeworfen, aber wer den Brief genauer liest, findet auch freundschaftliche Töne: Weder fühle er sich als Germane, noch habe Mozart bewusst «arisch» komponiert, Menschen seien entweder talentiert oder nicht, und ob ein Publikum aus Chinesen, Oberbayern, Neuseeländern oder Berlinern bestehe, sei ihm egal, wenn die Leute nur den vollen Kassenpreis bezahlt haben. Geld ist ihm wichtig, denn Geld bedeutet Aufstieg, und er will sich um keinen Preis unter Wert verkaufen. Wer ihn dafür eigen - süchtig und geltungsbedürftig nennt, soll das tun – andere, weniger Begabte sind es auch. Antisemitismus war in seiner Jugend weit verbreitet. «Du eilst wie ein Jude», sagte man, wenn jemand zu schnell spielte. Juden galten als fremd, unheimlich und allzu erfolgreich, es war ein konventioneller, bürgerlicher Antisemitismus, Nährboden für Späteres vielleicht, aber vom Rassenwahn der Nazis weit entfernt. Er selbst hat mit jüdischen Menschen jahrelang gut zusammengearbei - tet, allen voran mit seiner Schwiegertochter Alice, die ihm als Verwal - terin seiner Korrespondenz und seiner Archive unentbehrlich ist. Sie galt es zu schützen, desgleichen seine «halbjüdischen» Enkel Richard und Christian, das hat Kompromisse erfordert. Seinen Besuch in The - resienstadt, bei dem er Verwandte der Schwiegertochter freizubekommen versuchte, will er nicht erwähnen, auch die Episode im Propagandaministerium nicht, als Goebbels ihn herunterputzte, ihn einen Mann von gestern nannte, der nicht begreife, dass Musik volksnah und nicht kunstvoll zu sein habe. Wer wissen will, wie es in ihm aussieht, soll sich seine «Metamorphosen für 23 Solostreicher» anhören, kurz vor Kriegsende komponiert, ein Klagelied auf den Niedergang der europäischen Kultur, deren Teil er war.

Wie sah der zweiundvierzig Jahre jüngere Klaus Mann sich selbst? Als Jugendlicher talentiert und schön, hatte er mutig seine Homosexu - alität vertreten und Skandälchen entfacht, aber war bei alledem doch immer nur Sohn, Sohn, Sohn gewesen. Das Schreiben war ihm in die Wiege gelegt, aber nicht von einer gütigen Fee, sondern von einem ei - fersüchtigen Großmeister, der ihn wahrscheinlich lieber als Arzt oder Rechtsanwalt gesehen hätte und seine Schreibversuche gern als «Takt - losigkeiten» abtat – gibt es ein vernichtenderes Urteil? Als er sich den - noch literarisch in die Öffentlichkeit wagte, hat sich eine Meute von Rezensenten auf ihn gestürzt, ihn «Männchen», «Wunderkind ohne Zukunft» und «Homunculus als Literat» genannt, ohne je zu konzedieren, dass hier ein begabter und fleißiger junger Mensch seinen Weg zu finden versuchte, den man als Sohn eines Gastwirts oder Hausmeis - ters vielleicht gefördert hätte, aber nicht als Sohn Thomas Manns. Was immer er tat, welch zweifelhafte Berühmtheit er in der Weimarer Re - publik erlangte – ernst genommen hat man ihn nie. Erst der Kampf gegen die Nazis hat ihm Eigenständigkeit und Profil gegeben, ihn zum politischen Schriftsteller gemacht. Er schrieb Texte für die «Pfeffermühle», das politische Kabarett seiner Schwester Erika, und sagte im Mai 1933 Gottfried Benn in einem Brief präzise voraus, was ihn unter Hitler erwarten und wohin der Nazismus führen würde. In Amsterdam hat er mit der Zeitschrift «Die Sammlung» Exilautoren ein Forum ge - schaffen, in New York mit der Zeitschrift «Decision» ähnliches versucht. In zahllosen Aufsätzen hat er den Faschismus gegeißelt, hat gewarnt, polemisiert, die Mutlosen ermutigt, immer häufiger auf Englisch, das er inzwischen fast wie seine Muttersprache beherrscht. Sein zögerlicher, zu keiner klaren Haltung bereiter Vater war zeitweise mehr Belastung als Bedrohung, und dass dieser schließlich doch ein deutig gegen die Nazis Stellung bezog, war nicht zuletzt Klaus’ Verdienst – der damit freilich die eigene Unterlegenheit erneut zementiert hat. Denn im Exil wurde Thomas Mann zur Welt-Autorität. Präsident Roosevelt suchte seinen Rat, die Presse hofierte ihn, er wurde mit Ehrungen überhäuft, seine Radioansprachen hatten breite Wirkung. Was waren dagegen die Bemühungen von Klaus? Sponsoren, die er drin - gend brauchte, interessierten sich vor allem für seinen Vater, und nannte man seinen eigenen Namen, dann selten ohne den Zusatz son of Nobelprize-winning Author Thomas Mann oder Ähnliches. Viele seiner Projekte scheiterten, und bei allem Fleiß konnte er von seiner Arbeit nicht leben. Die US -Armee hatte ihm Freiraum verschafft, aber das Ende seines Dienstes rückte näher, danach war es nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Vater wieder um Geld bitten müsste. Klaus Mann ist als Sieger nach Deutschland gekommen, aber mit schwerem Herzen. Was soll aus ihm werden? Einst hat er mit ähnlicher Leichtigkeit geschrieben, wie sie Richard Strauss beim Komponieren hat (und sein Vater nie haben wird). Aber mit Hitlers Ende sind ihm die Themen aus gegangen – den Feind, der ihn angetrieben hatte, gab es nicht mehr. Der neue Roman seines Vaters würde sicher wieder ein Welterfolg werden, er selbst stand vor dem Nichts. Dem daheimgebliebenen, sa - turierten Richard Strauss in diesem Zustand unvoreingenommen zu begegnen, war zu viel verlangt.

«Also auf den bin ich ganz schlecht zu sprechen! Der hat sich unter falschem Namen bei uns eingeschlichen und alles Mögliche über uns verbreitet. So etwas tut man nicht.»

Ich sitze im Garmischer Haus von Dr. Christian Strauss, dem Enkel des Komponisten. Die berühmte «Strauss-Villa» ist nur einen Stein - wurf entfernt. Die Episode mit Klaus Mann liegt mehr als fünfundsechzig Jahre zurück, aber ist in der Familie offenbar weder vergessen noch vergeben. Dr. Strauss, geboren 1932 in Wien, ist ein strenger Herr mit der typischen Strauss-Physiognomie. Er kann sich gut an seinen Großvater erinnern, war bei dessen Tod siebzehn Jahre alt. Die Vorwürfe der Nachwelt an ihn hat er vermutlich dutzende von Malen gehört und gelesen – sie werden rund um den Globus in Symposien und Doktorarbeiten untersucht und verhandelt. Eine gewisse Reserve ist zu spüren, eine Art misstrauischen Wachseins – womöglich will jetzt wie - der jemand in der Vergangenheit stöbern und damit punkten, weitere bisher unbekannte Verfehlungen des Großvaters ans Licht geholt zu haben. Meine Herkunft ist meine Eintrittskarte – Richard Strauss und Wedekind sind 1864 im Abstand von wenigen Wochen geboren. Ein Brief des erfolglosen Wedekind an den bereits berühmten Strauss aus dem Jahr 1896 ist erhalten, in dem Wedekind ihm ein Ballett zur Vertonung anbietet. Wir sprechen sozusagen von Enkel zu Enkel. Dr. Strauss nimmt sich Zeit, es gibt Kaffee und Plätzchen. Susann, seine Frau, ist bei dem Gespräch dabei. Er hat sie 1991 ge heiratet, nachdem er 1988 Witwer geworden war. Sie hat sich eingearbeitet und kennt mittlerweile die Strauss-Belange fast so gut wie er selbst.

Wie war es, als Enkel von Richard Strauss in der Nazi-Zeit aufzuwachsen? Wie sieht er dessen Rolle im «tausendjährigen Reich»? Dr. Strauss antwortet, sekundiert von seiner Frau und bestimmt nicht zum ersten Mal, wie es in weniger kritischen Strauss-Biografien zu lesen ist: Hugo von Hofmannsthal hatte Strauss kurz vor seinem Tod mit Stefan Zweig bekannt gemacht, der ihm das Libretto für die «Schweigsame Frau» schrieb. Als prominentesten Musiker seiner Zeit hatte Goebbels ihn zum Präsidenten der Reichsmusikkammer gemacht, Strauss ist dem Ruf gefolgt, weil er für seine Kollegen etwas tun wollte, das konnte man nur in einer Funktion. Unmittelbar vor der Dresdner Uraufführung 1935 sei er beim Skat gesessen (wie immer, wenn er sich ablenken und entspannen wollte) und habe, aus einer Intuition heraus, den Opern-Intendanten aufgefordert, ihm den Programmzettel zu zeigen. Dort stand: «Die schweigsame Frau», Oper von Richard Strauss nach Ben Jonson. Er habe «als eins der wenigen Male» einen «roten Kopf» bekommen und gesagt: «Wenn der Name Stefan Zweig nicht erscheint, wird die Oper nicht aufgeführt.» Der Name wurde genannt, Hitler, schon auf dem Weg zur Premiere, kehrte verärgert um, die Oper, durchaus ein Erfolg, wurde nach drei Vorstellungen abgesetzt. Richard Strauss wurde nahegelegt, als Präsident der Reichsmusikkammer zurückzutreten, was er tat. Später kam die Order: Das Werk von Richard Strauss ist nicht zu beeinträchtigen, aber jeglicher persönliche Kontakt zu höheren NS -Personen hat zu unterbleiben. Das war alles.

Die Frage nach Kindheit und Jugend ist komplexer. Dr. Strauss’ Mutter Alice von Grab-Hermannswörth, böhmische Fabrikantentochter, 1904 in Prag geboren, war Jüdin, er selbst somit «nicht rein arisch». Noch bevor er wusste, was Juden sind, musste er beim Sommeraufent - halt in Garmisch «Judenspucken» – «Man hat Juden durchs Dorf ge - trieben, die Klasse musste sich aufstellen, der Lehrer hat gesagt: ‹Wenn die vorbeikommen, spuckts ...›»

«Das ist unglaublich, dass man ein Kind zu so was veranlasst», wirft Susann ein.

«In Wien kam ich in die DJ wie alle anderen, ein- oder zweimal pro Woche hatten wir Dienst, wie es damals hieß, in irgendeinem Lokal, wir haben Lieder gesungen und sind marschiert, das war natürlich schön, heute tun das die Pfadfinder, wir trugen einen Dolch und eine Uniform, aber als herauskam, dass ich mit Sondergenehmigung da war, habe ich Prügel bekommen. Ich kam dann in die «Rundfunk Spielschar», da wurde gesungen, zum Teil auch im Radio, da war ich aus dem Feuer ...» «Sondergenehmigungen» habe es immer wieder ge - geben, der jüdischen Mutter wegen.

«Meine Mutter hat zwanzig Angehörige in KZ s verloren und irgend - wann über das Thema nicht mehr reden wollen», sagt Dr. Strauss. «Der Opa hat sie schützen können, aber nicht von heute auf morgen. Der Hauptschutz für uns war Baldur von Schirach, seit 1943 persona non grata bei Hitler, der sich aber nicht getraut hat, ihn abzusetzen. Der hat von Wien aus seine Hand über die Familie gehalten. Aber immer wieder hat irgendein Unterscharführer entdeckt, dass da noch eine Jüdin frei herumläuft, dann ging es wieder los, die Wiener Staatsoper wurde angerufen, Karl Böhm eingeschaltet oder Walther Thomas, die rechte Hand von Schirach. Oft genug mussten wir die Mutter auch verste - cken, auf einer Jagdhütte oder an einem ähnlichen Ort, sie war dann halt einmal vierzehn Tage nicht da ...»

Wie war das Leben mit dem Großvater?

«Das Haus in Wien hatte eine gemeinsame Hausmeisterwohnung, im ersten Stock wohnten wir, oben die Großeltern. Während der Schulwoche haben wir den Großvater nicht gesehen, sind nur manchmal raufgegangen. Er war ja auch oft fort. Den Tagesablauf habe ich vor allem nach dem Krieg in Garmisch erlebt. Da war er ein alter Herr. Die Anni, die insgesamt sechzig Jahre in der Familie war, hat ihm das Frühstück ans Bett gebracht, um etwa halb zehn saß er am Schreibtisch, hat erst Briefe erledigt, dann komponiert oder etwas geschrieben. Mittags hat Großmama Pauline ihn rausgejagt, er musste eine dreiviertel Stunde im Garten spazieren gehen, nach dem Mittagessen hat er eine halbe Stunde geschlafen, dann wieder bis halb sieben Schreibtisch, nochmals Spazierengehen, dann Abendbrot. Danach saß er mit Pauline im Arbeitszimmer, hat gelesen, oder die alten Leute haben sich unterhalten. Einmal pro Woche hat er Freunde eingeladen oder ist nach Oberammergau zum Skat gefahren. Um elf oder halb zwölf war Schluss.» Ist er selbst gefahren?

«Nein, obwohl er seit 1910 ein Auto hatte. Ein Chauffeur hat ihn ge - fahren oder mein Vater. Als Operndirektor in Wien hatte er einen Dienst-Fiaker, der hat ihn von zu Hause abgeholt, in unbeobachteten Momenten hat ihn mein Vater requiriert, um mit seinen Freundinnen im Prater spazieren zu fahren.»

Natürlich, es hat ja auch einen Vater gegeben. Wer war er? Franz Strauss, geboren 1897, war der einzige Sohn des Komponisten. Sein Wunsch, Medizin zu studieren, scheiterte am Widerstand seiner Eltern, insbesondere an dem seiner Mutter Pauline, Generalstochter und vor ihrer Heirat gefeierte Wagner-Sängerin. Mediziner würden in der Familie nicht gebraucht, entschied sie, umso mehr Juristen. Der Sohn fügte sich, studierte Jura ohne Leidenschaft, machte seinen Doktor und war mehr als ein halbes Jahrhundert lang des Vaters Schatten, Sekretär und Reisebegleiter, liebevoll «Bubi» genannt und vermutlich auch wirklich geliebt, aber mit Selbstverständlichkeit beansprucht, man könnte auch sagen: ausgenutzt für die Belange des Vaters. «Damals hat man halt gefolgt», meint Christian. Franz Strauss vereinbarte Termine, verhandelte Gagen und Verträge, verfasste Schriftsätze zum Urheberrechtsschutz, verwaltete Einnahmen und Vermögen und putzte die Schuhe seines Vaters, in Amerika, auf dessen Geheiß, denn Schuheputzen kostete einen Dollar, davon konnte man im inflationsgeschüttelten Deutschland zwei Wochen lang leben. Er hätte sich von seiner jüdischen Frau scheiden lassen können, dann wären alle Prob - leme «vom Tisch» gewesen, Nazi-Funktionäre haben es ihm oft genug nahegelegt. Er tat es nicht und begleitete seinen Vater zu Verhandlungen mit Goebbels, Göring und Frank und aß mit ihm an Hitlers Mittagstisch. Nach dem Krieg begann er achtundvierzigjährig ein Medizinstudium, aber brach es ab, die Wissenslücken in Chemie, Phy - sik und Biochemie waren zu groß, und assistierte dem Vater weiter bis zu dessen Tod. 1980 ist Franz Strauss in Garmisch gestorben. War er ein glücklicher Mensch? «Er hat’s genommen, wie es ist», sagt Christian.

Wie war Richard Strauss im Umgang?

«Wir durften bei ihm im Arbeitszimmer Münchner Bilderbogen anschauen, während er Noten schrieb.»

Hat er dann irgendwann gesagt: Jetzt seid’s mal ruhig?

«Wir waren schon ruhig.»

«Respekt hat man noch gehabt», meint Susann.

«Manchmal haben wir gesagt: ‹Großvater, spiel mit uns ein bissel!›, dann ist er herausgekommen und hat mit uns Fußball gespielt, er war schon weit über siebzig. Wenn wir zum Toben angefangen haben, ist er stillschweigend wieder gegangen. Wenn wir ihn gebeten haben, hat er uns auch eine halbe Stunde etwas auf dem Klavier vorgespielt. Und er hat uns die Inhalte der Opern erzählt, nicht nur der eigenen, auf Spa - ziergängen, quasi als Märchen, so dass wir mit zehn, elf Jahren das Repertoire zumindest vom Inhalt her kannten. Das war schon sehr eindrucksvoll. Auf Bildung hat er sehr viel Wert gelegt – wer die «Odyssee» nicht im Original lesen könne, sei kein Mensch.»

Er konnte das?

«Ja.»

Hatte er studiert?

«Ein Semester studium generale an der Münchner Uni.» Geraucht?

«Ja, dünne ägyptische Zigaretten, aber nur bis zum etwa siebzigsten Lebensjahr, danach hat er aufgehört.»

Getrunken?

«Jeden Mittag ein Glas Bordeaux.»

Frauenaffären?

«Null. Der treueste aller Ehemänner. Vierundfünfzig Jahre mit ein und derselben Frau verheiratet.»

Christian sollte auf Wunsch des Großvaters Verleger werden, sein älterer Bruder Richard Regisseur. Der Ältere tat es, wurde Oberspielleiter in Münster, aber erkrankte mit vierundzwanzig Jahren an Knochenkrebs, danach stellte ihn sein Vater «unter einen Glassturz» und ließ ihn erst einmal gar nichts mehr machen. Später wurde er Philatelist, einer der besten Deutschlands, Leiter eines großen Münchner Aukti - onshauses, und hat, als Nachfolger seines Vaters, die Familiengelder verwaltet. 2006 ist er gestorben, seitdem steht Christian der Familie vor. Der hatte keinerlei Neigung zum Verlegertum, der Tod des Groß - vaters kam einem Konflikt zuvor. Er studierte Medizin, wie es sein Va - ter gern getan hätte, arbeitete siebeneinhalb Jahre an der Universitäts - klinik in der Münchner Maistraße, wurde Oberarzt am Klinikum Garmisch und leitete dort als Chefarzt achtundzwanzig Jahre lang die gynäkologische Abteilung. Eine respektable bürgerliche Karriere, bei der ihm der berühmte Großvater weder half noch helfen konnte.

Dass Schöpfer von Bühnenwerken ihren Nachkommen auch nach ihrem Tod ein Einkommen bescheren, weiß ich aus der eigenen Fami - lie – meine Großmutter, Mutter und Tante haben zu einem Gutteil von den Tantiemen gelebt, die Wedekinds Werke einspielten, wobei die größten Batzen stets die Einnahmen aus Alban Bergs Oper «Lulu» wa - ren, die auf Wedekinds Text basiert. Dass die Tantiemen der fünfzehn Strauss-Opern, der Orchesterwerke, der Kammermusik und der Lieder um ein Vielfaches höher sind, ist mir klar, aber ich lasse das Thema unberührt – dergleichen ist nun mal Privatsache. Richard Strauss hat den kommerziellen Aspekt seiner Kunst früh erkannt und entsprechend gefördert – geniale Künstler sind mitunter auch geniale Geschäftsleute. «Wie würdest du dich anders bezeichnen im Vergleich mit deinem Großvater?», fragt Susann.

«Er war fleißiger», sagt Christian. «Im Beruf habe ich sehr viel gearbeitet, wir hatten längere Dienste und weniger Ferien als es heute üb - lich ist, aber seitdem ich in Pension bin, tue ich nicht mehr so viel ...» Wo war er, als der Großvater starb?

«Beim Mittagessen, ehrlich gesagt. Er war schon seit Tagen nicht mehr bei Bewusstsein.»

Die Todesursache?

«Urämie, Nierenversagen. Heute würde man dialysieren.»

Wo ist der Nachlass?

«Zu neunzig Prozent in der Familie.»

Der Forschung zugänglich?

«Zum Teil. Ein bissel eine schwierige Geschichte. Man hat damals nicht telefoniert, er hat seiner Frau jeden Tag ein bis zwei Briefe ge - schrieben, zum Teil sehr private Sachen, wir wollen nicht, dass das alles ausgebreitet wird. Eine kritische Gesamtausgabe wird jetzt vorbereitet.»

Es ist Zeit für ein Foto. Wir posieren auf der Terasse. Ich drehe mich um und erschrecke – was ist das? Zwei riesige Berge, wie schweigende Wächter, schauen auf uns herab. «Das linke ist die Alpspitze, das rechte die Zugspitze», erklärt Dr. Strauss. Ach so. Der eine Berg ist etwas grö - ßer als der andere – ob die sich wohl vertragen?

 

Quelle: Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern. C.H. Beck, 2014. 336 Seiten, 22,95 Euro.