Der letzte Mohikaner
Zum Tod von Krzysztof Penderecki: Einer seiner Schüler erinnert an den jüdischen Komponisten.
Am 29. März 2020 starb in Krakau im 87. Lebensjahr der polnische Komponist Krzysztof Eugeniusz Penderecki. Mit ihm starb der jüngste Exponent der großen Avantgardisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Musikszene so faszinierend neu und stark gemacht hatten. Für zwei Jahre war er (1967-69) mein Kompositions-Lehrer an der Folkwang Hochschule in Essen.
In der Folgezeit entstand eine dauerhafte Verbindung durch gemeinsame Aktionen in Polen, Japan und Israel, schließlich Freundschaft. Die begann schon 1969 in Berlin, wohin ich zu meiner ersten Privatstunde geflogen war. Penderecki lud mich ein zu einem polnischen Originalgetränk genannt "Żubrówka", jenem Wodka mit dem Bisongrashalm.
Ich trank, er nippte aber nur symbolisch.
I.
Pendereckis Lebensweg war von außergewöhnlichem Erfolg begleitet. Erfolge, die für einen Komponisten zeitgenössischer Musik bisher nicht vorstellbar waren. Hier drei vielleicht herausragende Beispiele:
Auf der Weltausstellung in Sevilla 1992 war Penderecki als Komponist und Dirigent der Vertreter und das Aushängeschild Polens.
Als Israel die 3000-Jahr-Feier beging, komponierte Penderecki anstelle des kurz zuvor verstorbenen Leonard Bernstein die Festmusik in Gestalt des sinfonischen Oratoriums "Seven Gates of Jerusalem" für drei Chöre, Solisten und zwei Orchester. Uraufgeführt wurde sie am 9. Januar 1997 in der riesigen Halle Binyanei Hauma in Jerusalem. Es dirigierte Lorin Maazel.
Und drittens scheint die Zahl der Verleihungen der Ehrendoktorwürde an ihn schier unglaublich – es sollen um die 40 sein.
II.
So viel Erfolg birgt Rätsel, denn die Musik nach dem Zweiten Weltkrieg war ja kein Massen-Konsumartikel, wie die moderne Rock- und Popmusik, sondern eher eine Angelegenheit für elitäre intellektuelle Zeitgenossen.
Hatte Penderecki einen Zaubertrick gefunden, sich einem großen Publikum angenehm zu machen? Verhielt er sich gar "affirmativ", wie neidische Kollegen und nörgelnde Kritiker grollten? Das Gegenteil ist der Fall! Er war immer ein Nonkonformist. Er komponierte nur das, woran er glaubte. Auch hierfür gibt es Beispiele:
- Im kommunistischen Polen, das bekanntlich antireligiöse Propaganda im Programm hatte, schrieb er großbesetzte Werke geistlicher Musik, etwa die Lukas-Passion und das Polnische Requiem.
- Im Polen war auch Anti-Judaismus angesagt, er aber schrieb sein Oratorium "Für die Opfer von Ausschwitz". Und später ein großes Kaddish, das jüdische Totengebet, in Originalsprache.
- Zeitgleich ist im Westen und vor allem in den USA Kritik an der atomaren Aufrüstung nicht gerne gesehen. Penderecki komponierte sein "Threnos" für die Opfer von Hiroshima.
- Und in den Jahren, als fast alle Avantgardisten die Zukunft der Musik in der elektronischen Tonerzeugung sahen, schrieb Penderecki sein "Stabat Mater" für 48 Singstimmen, also ohne Synthesizer, ohne Ringmodulatoren, ohne Tonband, ohne dröhnende Verstärkerboxen nur für einen Chor von 48 unbewaffnet singenden Menschen.
Einmal sagte Penderecki zu mir: "Kunst ist nicht für jeden, und Musik schon gar nicht". Das sagt keiner, der nach Erfolg schielt.
In der Essener Zeit schockierte er mit dem Statement: "Ich komponiere nur bis Vierzig. Dann studiere ich Philosophie, mich interessiert nicht nur Musik."
III.
Penderecki war ein unermüdlicher Arbeiter. Er dirigierte an großen Plätzen in den USA, in China, der UdSSR, Israel, aber auch an Orten, die nicht in aller Munde sind, zum Beispiel in Neuss, Düsseldorf, Duisburg, Bonn und Leverkusen, um nur einige Beispiele aus Nordrhein-Westfalen zu nennen. Er dirigierte nicht nur Penderecki. Ich habe von ihm Beethovens Sinfonien gehört und Sinfonien von Dvorak, Schostakowitsch und Arthur Honegger. Seine Proben begannen und endeten pünktlich. Er schaffte sein Pensum, notfalls mit Toleranz und Humor: "Closer to the notes, please!" So geschehen in der Rebecca Crown Hall in Jerusalem 1993, als Penderecki sein Polnisches Requiem dirigierte. Ich hatte zufällig zur selben Zeit ein Jerusalem-Stipendium.
Er unterrichtete nach der Zeit in Essen in Krakau, dann in den USA und China. In Krakau leitete er die Hochschule und initiierte dort Kompositions-Wettbewerbe und Orgelbauten.
Er verströmte eine ansteckende Konzentration auch im Kompositions-Unterricht. Manchmal verweilte er minutenlang bei einem Takt, bis er herausfand, wie es "besser klingeln" würde.
Er nahm mir auch die Angst vor den Bass-Oktaven, die von Schoenberg bis Boulez strikt verboten waren. Als ich ihn fragte, wie er seine Konzentration befördere, war seine Antwort: "Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich gehe zu meinen Bäumen." Nicht Philosophie, sondern Dendrologie war sein zweiter Dämon geworden. In seinem Landsitz Lusławice hat er gut 3000 Bäume gepflanzt und dazu ein Labyrinth und einen weitläufigen japanischen Garten angelegt.
IV.
Polen hat nach dem Krieg eine Reihe von Helden aufzuweisen: Kardinal Wojtyła (der spätere Papst), dann den Arbeiterführer Lech Wałęsa und den Märtyrer Jerzy Popiełuszko. Penderecki war für mich auch so eine herausragende Figur, im Grunde der spirituelle König Polens. Sein Bekenntnistext aus dem Jahr 1997 gibt eine gute Selbstbeschreibung:
"Meine Kunst, die aus tiefen, christlichen Wurzeln gewachsen ist, hat zum Ziel, den metaphysischen Raum des Menschen, der durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerstört wurde, wiederherzustellen".
Pendereckis Tod bedeutete, auch für mich, eine Zeiten- und Klimawende. Ich verlor einen verehrten Lehrer, ein Vorbild und einen Freund, dem ich viel verdanke, darunter auch die Aufführung meiner II. Sinfonie "Jerusalem" 1997 auf dem "World peace prayer meeting" in Osaka.
Im Laufe der Zeit habe ich ihm einige Stücke zugeeignet, darunter das "Canticum simeonis" für acht Singstimmen a cappella, 1968, die dritte Sinfonie "Immanuel-Kant" zu Pendereckis 60. Geburtstag und die Fanfare für zwölf Blechbläser zu seinem 80. Geburtstag. Und jetzt das Orgelstück "Pièce symphonique – Krzysztof Penderecki grata salutatione". Dieses Stück ist im Grunde jenes, um das ich Penderecki gebeten hatte und das er nun nicht mehr schreiben kann. Es war gedacht zur Feier des Jubiläums "30 Jahre deutsch-polnische Grenztraktate§ und sollte aufgeführt werden anlässlich des Beginns der Restauration der historischen Wilhelm-Sauer-Orgel im Dom zu Kwidzyn/Marienwerder am 25. Juni 2021 – am Tag der seligen Dorota. Dem Meister Penderecki gewidmet, der für die deutsch-polnische Friedensbeziehung sehr bedeutsam ist.
Einmal sagte der Meister in kleiner Runde folgendes: "Ich bin der letzte Mohikaner". Damit meinte er, er sei der letzte, der sich um die sinfonische Form gekümmert habe. Jetzt hat diese Äußerung eine andere Bedeutung bekommen.
Zichrono livracha – Ehre seinem Andenken!
Oskar Gottlieb Blarr
RC Düsseldorf-Pempelfort