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Buch der Woche

»Die Fabrikation des Feindes«

Wozu braucht man Feinde? Dieser Frage geht Umberto Eco unter anderem in seinem neuen Essayband nach. Unser Buch der Woche

16.04.2014

Vor Jahren bin ich in New York an einen Taxifahrer geraten, bei dem es mir schwerfiel, seinen Namen auf dem Schild am Armaturenbrett zu entziffern, und da erklärte er mir, er sei Pakistaner. Er fragte mich, woher ich käme, und als ich sagte, ich sei Italiener, wollte er wissen, wie viele wir sind, und war erstaunt über unsere geringe Zahl und dass unsere Sprache nicht Englisch ist.

Schließlich fragte er mich, wer unsere Feinde seien. Auf mein »Wie bitte?« erklärte er mir geduldig, er wolle wissen, mit welchen Völkern wir seit Jahrhunderten im Krieg lägen, wegen territorialer Ansprüche, ethnischer Aversionen, ständiger Grenzkonflikte und so weiter. Ich antwortete ihm, dass wir mit niemandem im Krieg lägen. Geduldig setzte er mir auseinander, er wolle wissen, wer unsere historischen Feinde seien, unsere Erbfeinde, also diejenigen, die uns umbrächten und wir sie. Ich wiederholte, dass wir keine Erbfeinde hätten, dass wir den letzten Krieg vor über fünfzig Jahren geführt haben und dass wir dabei am Anfang einen anderen Feind hatten als am Ende.

Er war nicht zufrieden. Wie kann es sein, dass ein Volk keine Feinde hat? Als ich ausstieg, gab ich ihm zwei Dollar Trinkgeld, um ihn für unseren trägen Pazifismus zu entschädigen, danach fiel mir ein, was ich ihm hätte sagen sollen, nämlich dass es nicht stimmt, dass die Italiener keine Feinde haben. Sie haben keine äußeren Feinde, jedenfalls können sie sich nie darüber einigen, welche das sein könnten, weil sie pausenlos gegeneinander Krieg führen: Pisa gegen Lucca, Guelfen gegen Ghibellinen, Norditaliener gegen Süditaliener, Faschisten gegen Partisanen, die Mafia gegen den Staat, die Regierung gegen die Richterschaft – und leider gab es damals noch nicht den Sturz der beiden Regierungen Prodi, sonst hätte ich dem Mann besser erklären können, was es heißt, einen Krieg durch friendly fire zu verlieren.

Bei genauerem Nachdenken über dieses Erlebnis bin ich jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass eines der Missgeschicke unseres Landes in den letzten sechzig Jahren gerade darin bestand, dass wir keine richtigen Feinde hatten. Die Einheit Italiens war dank der Präsenz der Österreicher zustande gekommen, Mussolini hatte sich den Konsens des Volkes sichern können, indem er es auf rief, Rache für den verstümmelten Sieg zu nehmen, für die in Dogali und bei Adua erlittenen Demütigungen, für die ungerechten Sanktionen, die uns die jüdischen »Demoplutokratien« auferlegt hatten. Bedenken wir nur, was mit den Vereinigten Staaten geschehen ist, als das Reich des Bösen verschwunden war und der große sowjetische Feind sich aufgelöst hatte. Sie riskierten den Verlust ihrer Identität, bis ihnen Bin Laden, zum Dank für die Wohltaten, die er für seine Hilfe gegen die Sowjetunion empfangen hatte, mitleidig die Hand reichte und Bush die Gelegenheit bot, sich neue Feinde zu schaffen, um das nationale Identitätsgefühl zu stärken und seine Macht zu festigen.

Einen Feind zu haben ist nicht nur wichtig, um die eigene Identität zu definieren, sondern auch, um sich ein Hindernis aufzubauen, an dem man das eigene Wertesystem demonstrieren und durch dessen Bekämpfung man den eigenen Wert beweisen kann. Deshalb muss man, wenn man keinen Feind hat, sich einen fabrizieren. Erinnern wir uns nur daran, mit welcher Flexibilität sich die Skinheads von Verona jeden zum Feind erkoren, der nicht zu ihrer Gruppe gehörte, solange sie nur selbst als Gruppe er kennbar waren. Daher geht es mir hier nicht so sehr um das quasi naturgegebene Phänomen der Identifizierung eines Feindes, der uns bedroht, sondern um den Prozess der Konstruktion, Fabrikation und Dämonisierung des Feindes.

In seinen Reden gegen Catilina hätte Cicero es nicht nötig gehabt, ein Feindbild zu zeichnen, denn für Catilinas Verschwörung hatte er die Beweise. Doch er fabriziert es, als er den Senatoren in seiner zweiten Rede ein Bild der Anhänger Catilinas ausmalt, um den Widerschein ihrer moralischen Perversität auf den Hauptangeklagten fallen zu lassen:

Individuen, bei Gastmählern liegend, in den Armen unzüchtiger Weiber, benebelt von Wein, vollgestopft mit Speisen, bekränzt mit Blumen, von Salben triefend, entkräftet durch Hurerei, empfehlen uns rülpsend, die Wohlgesinnten zu massakrieren und die Stadt anzuzünden. [...] Ihr habt sie vor Augen: das Haar gestriegelt und glänzend, entweder bartlos oder mit gepflegtem Bart, in langärmeligen und bodenlangen Tuniken, in Tücher gehüllt, nicht in die Toga. [...] Diese so zierlichen und feinen Knaben verstehen es, nicht nur zu lieben und sich lieben zu lassen, zu singen und zu tanzen, sondern auch Dolche zu schwingen und mit Gift umzugehen. ( II, 5 und 10 1 )

Ciceros Moralismus wiederholt sich später bei Augustinus, der die Heiden brandmarkt, weil sie im Unterschied zu den Christen in Zirkus- und Theatervorstellungen gehen und orgiastische Feste feiern. Die Feinde sind anders als wir und richten ihr Verhalten nach Sitten und b räu - chen, die nicht die unseren sind.

Ein Andersartiger par excellence ist der Fremde, der Ausländer. Bereits in den römischen Flachreliefs erschei - nen die b arbaren als bärtige und stumpfnasige Wesen, und schon die Bezeichnung »Barbaren« insinuiert ja bekanntlich einen Defekt in der Sprache und somit im Denken. Doch von Anfang an werden nicht nur diejenigen Andersartigen, die uns direkt bedrohen (wie angeblich die Barbaren), als Feinde aufgebaut, sondern auch diejenigen, bei denen jemand ein Interesse daran hat, sie als bedrohlich hinzustellen, auch wenn sie uns nicht direkt bedrohen, mit der Folge, dass nicht so sehr ihre Bedrohlichkeit ihr Anderssein unterstreicht, sondern ihr Anderssein zum Zeichen ihrer Bedrohlichkeit wird.

Sehen wir nur, was Tacitus über die Juden sagt: »Profan ist bei ihnen alles, was bei uns heilig ist, und was bei uns Frevel ist, ist bei ihnen erlaubt« (man denkt unwillkürlich an die angelsächsische Abscheu vor den französischen Froschessern oder an die deutsche vor den knoblauchversessenen Italienern). Die Juden sind »Fremde«, weil sie kein Schweinefleisch anrühren, ungesäuertes Brot essen, am siebten Tage ruhen, nur untereinander heiraten, sich beschneiden lassen (aber wohlgemerkt nicht, weil es eine hygienische oder religiöse Norm wäre, sondern »um als andersartig erkannt zu werden«), wegen der Art, wie sie ihre Toten begraben, und weil sie nicht unsere Kaiser verehren. Hat man einmal vorgeführt, wie andersartig manche Sitten und Bräuche sind ( Beschneidung, Sabbatruhe), kann man die Andersartigkeit noch dadurch unterstreichen, dass man nur gerüchtweise behauptete Bräuche ins Bild einfügt (sie verehren die Figur eines Esels, sie verachten ihre Eltern, Kinder, Brüder, das Vaterland und die Götter).

Plinius findet für die Christen keine signifikanten Anklagepunkte, da er zugeben muss, dass sie nicht bestrebt sind, böse Dinge zu tun, sondern nur gute Taten zu vollbringen. Er verurteilt sie dennoch, weil sie dem Kaiser nicht opfern, und diese hartnäckige Verweigerung einer so selbstverständlichen und natürlichen Sache bezeugt eindeutig ihr Anderssein.

Zu einer neuen Art von Feind kommt es mit Zunahme der Kontakte zwischen den Völkern: Feind wird jetzt nicht nur derjenige, der draußen lebt und seine Fremdartigkeit aus der Ferne bezeugt, sondern der drinnen lebt, unter uns, wir würden heute sagen: der Immigrant aus Afrika oder Nahost, der sich in mancher Hinsicht anders als wir verhält oder unsere Sprache schlecht spricht und der in Juvenals Satire der schlaue und schurkische graeculus ist: unverschämt, lüstern und fähig, die Großmutter seines Freundes flachzulegen.

Am fremdartigsten von allen ist, und zwar wegen seiner andersgearteten Hautfarbe, der Neger. Unter dem Stichwort »Negro« las man in der amerikanischen Erstausgabe der Encyclopædia Britannica von 1798:

In der Pigmentierung der Neger begegnen wir verschiedenen Nuan cen; doch alle unterscheiden sich auf dieselbe Weise von den anderen Menschen in allen Gesichtszügen. Runde Wangen, hohe Jochbeine, leicht erhöhte Stirn, kurze, breite und flache Nase, dicke Lippen, kleine Ohren, Hässlichkeit und unregelmäßige Züge charakterisieren ihr Aussehen. Die Negerfrauen haben sehr ausladende Hüften und sehr dicke Gesäßbacken, die ihnen die Form eines Sattels verleihen. Die bekanntesten Laster scheinen das Schicksal dieser unglücklichen Rasse zu sein; man sagt, dass Müßiggang, Verrat, Rachsucht, Grausamkeit, Schamlosigkeit, Diebstahl, Lüge, unflätige Rede, Zügellosigkeit, Engstirnigkeit und Ausschweifung die Prinzipien des Naturgesetzes ausgelöscht und die Mahnungen des Gewissens zum Schweigen gebracht haben. Jedes Mitgefühl ist ihnen fremd, und sie stellen ein schreckliches Beispiel für die Verderbtheit des Menschen dar, wenn er sich selbst überlassen bleibt.

Der Neger ist hässlich. Der Feind muss hässlich sein, weil man das Schöne mit dem Guten identifiziert (kalokagathia ), und ein Grundzug der Schönheit war seit jeher das, was man im Mittelalter integritas nannte (Vollständigkeit, in dem Sinne, dass man alles hat, was erforderlich ist, um ein durchschnittlicher Vertreter seiner Spezies zu sein, weshalb bei den Menschen diejenigen als hässlich gelten, denen ein Glied oder ein Auge fehlt, die kleiner als der Durchschnitt sind oder eine »nichtmenschliche« Hautfarbe haben). So erklärt sich, dass wir im einäugigen riesen Polyphem ebenso wie im Zwerg Mime auf Anhieb das Identifikationsmodell des Feindes erkennen. Im 5. Jahrhundert n. Chr. beschreibt Priskos von Panion den Hunnenkönig Attila als kleinwüchsig, mit breiter Brust und großem Kopf, kleinen Augen, dünnem graumeliertem Bart, platter Nase und – grundlegender Zug – dunkler Hautfarbe. Bemerkenswert ist jedoch die Ähnlichkeit von Attila mit dem Teufel, wie ihn mehr als fünfhundert Jahre später Rudolfus Glaber sieht: von eher kleiner Statur, mit dünnem Hals, hagerem Gesicht, kohlschwarzen Augen, zerfurchter Stirn, eingedrückter Nase, vorspringendem Mund, geschwollenen Lippen, schmalem spitzem Kinn, Ziegenbart, haarigen und zugespitzten Ohren, aufgerichteten und zerrauften Haaren, Hundezähnen, langem Hinterkopf, geschwellter Brust und auf dem Rücken ein Buckel (Chronica , V , 2).

Bei der Begegnung mit einer noch unbekannten Kultur ist keine integritas zu erkennen – so bei den Byzantinern, wie sie Liutprand von Cremona sah, als er 968 als Gesandter des Kaisers Otto I. nach Konstantinopel kam (Relatio de legatione Constantinopolitana ):

Vor mir stand Nikephoros, ein recht hässlicher Mensch, zwergenhaft mit dickem Kopf und Äuglein wie ein m aulwurf, entstellt durch einen kurzen, breiten, dichten, halbgrauen b art, garstig durch einen zollangen Hals [...] der Hautfarbe nach ein Äthiopier, dem man um m itternacht nicht begegnen möchte, mit aufgeschwemmtem Bauch, magerem Steiß, zu langen Schenkeln für seine kleine Gestalt, kurzen Beinen und Plattfüßen, angetan mit einem Prachtkleid, das aber abgewetzt und vom langen Tragen übelriechend und verblichen war

Übelriechend. Der Feind stinkt.

Quelle: Umberto Eco: Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften. Hanser Verlag, München 2014. 272 Seiten, 16,99 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 8 bis 14. Mehr zum Buch.