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Schwerpunkt Bildung

Die Inkarnation der Poesie

Schwerpunkt Bildung - Die Inkarnation der Poesie
Weltpolitik einmal anders: Matrjoschkas bei einem Straßenhändler © Daniel Biskup (3)

Bis Ende März war in Moskau eine Hommage an Rainer Maria Rilke zu sehen – die Ausstellung „Rilke und Russland“. Sie belegt die Verbundenheit des großen Dichters mit dem Land

Andrej Archangelskij01.05.2018

Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe“, sagte Rainer Maria Rilke einst über das Land, das für ihn zeitlebens ein Sehnsuchtsort war. Der Dichter wurde 1875 in Prag geboren, er war österreichischer Staatsbürger, schrieb auf Deutsch, lebte und arbeitete in Triest, Paris und in der Schweiz. Der Dichter hat gleichsam viel früher als andere den baldigen Zerfall der Imperien im 20. Jahrhundert erahnt und eine heute bekannte Sehnsucht nach der im Zuge der geopolitischen Veränderungen verschollenen „großen Heimat“ gespürt.

Doch dieser Schwebezustand „zwischen den Welten“ eröffnet dem Menschen gleichsam auch neue Möglichkeiten. Österreich-Ungarn, wo Rilke geboren ist, war einer der ersten „Schmelztiegel“ Europas, in dem die Menschen erstmals ihre Identität nach der Sprache, der Kultur und dem Geburtsort eigenständig wählen konnten. Die erste Parallele, die sich im Zusammenhang mit Rilke aufdrängt, ist natürlich die Biografie von Franz Kafka. Der eine wie der andere haben zur gleichen Zeit und sogar in derselben Stadt, Prag, qualvoll nach der eigenen Identität gesucht und dann als „Heimat“ die Sprache und die universellen, allgemein menschlichen Werte gewählt.

Rilke wurde in der Familie eines Bahnbeamten und der Tochter eines kaiserlichen Rats geboren. 1886 schickte Vater Rilke seinen Sohn auf eine Militärrealschule. Doch bald schon wurde René (diesen Vornamen erhielt er bei seiner Geburt) krankheitshalber für dienstuntauglich befunden. Rilke ging an ein Gymnasium und schrieb sich 1895 an der Prager Universität ein. Bereits mit 16 Jahren, 1891, veröffentlichte er seine ersten Gedichte in Prager Zeitungen. Einer seiner ersten Gedichtbände, „Larenopfer“, ist ein eigenwilliger lyrischer Spaziergang durch Prag. Er wurde gleichfalls zu einem symbolischen Abschied des Dichters von der Stadt seiner Jugend. Im Jahr 1896 brach Rilke mit seiner Familie und musste Prag unfreiwillig verlassen.

„Pilgerfahrten“ nach Russland
Die nächsten Jahre verbrachte Rilke auf Reisen. Er fuhr nach München, wo er Philosophie studierte, dann nach Berlin und nach Italien. Ein besonderes Kapitel sind seine zwei Reisen nach Russland – Rilke nannte sie „Pilgerfahrten“ – in den Jahren 1899 und 1900. Nur wenige Dichter von Weltruf waren Russland so zugetan. Dafür schätzt man Rilke dort besonders. Dieses Interesse wurde von einer faszinierenden Frau geweckt, Lou Andreas-Salomé, Tochter eines russischen Obersts und in der Vergangenheit die Freundin von Friedrich Nietzsche. Sie war die „ideale Geliebte“ für Rilke. Sie pflanzte dem Dichter die Liebe zur russischen Kultur ein.

Er lernte sogar die Sprache. Während seiner ersten Reise nach Russland im Frühjahr 1899 waren sie bei Leo Tolstoi in Jasnaja Poljana zu Gast. In Moskau lernte der Dichter die Maler Leonid Pasternak und Ilja Repin kennen. Ein Jahr später unternahm Rilke seine zweite Russland-Reise und traf wiederum Tolstoi. Viel weniger bekannt ist eine weitere Begegnung, jene mit dem Bauerndichter Spiridon Droschin. All das machte auf Rilke einen ungeheuren Eindruck und fiel zusammen mit seiner schöpferischen Hoch-Zeit. Rilke versuchte sogar, in russischer Sprache zu schreiben.

In seinen Gedichten zeichnete er einen „Bauern“ mit einem „weiten Gesicht“. In einem Brief an Leopold von Schlözer vom 21. Januar 1920 bekennt er: „Russland hat mich zu dem gemacht, was ich bin, von dort ging ich innerlich aus, alle Heimat meines Instinkts, all mein innerer Ursprung ist dort!“ Rilke übersetzte Lermontow, eben jenen Droschin, das „Lied von der Heerfahrt Igors“ (Igorlied), Konstantin Fofanow und die Prosa von Fjodor Sologub. Einer Legende nach soll es sogar eine Übersetzung der „Möwe“ von Tschechow aus seiner Feder gegeben haben.

Verarbeitung der Eindrücke
Seine Eindrücke der zwei Russland-Reisen verarbeitete Rilke im Sammelband „Das Stundenbuch“, 1899–1903. Dort sind die philosophischen Ansichten des jungen Rilke mit seinen persönlichen Eindrücken eins geworden. „Das Stundenbuch“ ist als Tagebuch eines orthodoxen Mönchs geschrieben. Russland ist für Rilke vor allem eine Form des undogmatischen und direkten Umgangs mit dem Gott der Zukunft. Es ist das erste philosophische Werk Rilkes. Sein lyrischer Held entdeckt Gott in den kleinsten Dingen und Erscheinungen. In Rilkes Briefen an Lou Andreas-Salomé finden sich die folgenden Zeilen über Russland: „… ich habe das Gefühl, als hätte ich das Werk des Schöpfers gesehen“. 1902 schrieb Rilke dem Verleger Alexei S. Suworin, dass er nach Russland übersiedeln wolle.

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Er war der Meinung, dass nur in Russland der „unverdorbene Mensch“ erhalten geblieben sei, der die Harmonie mit der Natur und Gott nicht verloren hat. Natürlich ist dies ein idealisiertes Russland, wie es viele Ausländer in jenen Jahren gesehen haben. Gefährlich ist, wie sich gezeigt hat, die Utopie, die bald darauf in tragischen Ereignissen Widerhall findet. Doch in jenem Moment fiel die Vorstellung von einem „idealen Land der Zukunft“ mit der philosophischen Suche Rilkes selbst zusammen, der in Russland, wie ihm schien, eine Bestätigung für die in jenen Jahren modernen Theorien sah. Lou Andreas-Salomé machte ihn möglicherweise mit einer Idee bekannt, die in der Folge zu einem Allgemeinplatz in der europäischen Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde.

Dieser These begegnet man auch bei Nietzsche und sie lebt später bei Oswald Spengler in seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“ wieder auf. Russland (wie auch Indien) verstehen die Denker als Zivilisation, in der „die Geschichte noch nicht begonnen hat“, wo sie gleichsam schlummert und somit das Potenzial für eine zukünftige Entwicklung hat. In einem Brief an Lou schreibt Rilke: „Womöglich hat der Russe dafür auch die menschliche Geschichte an sich vorbeiziehen lassen, um später zu einer Harmonie der Dinge durch sein jubelndes Herz zu gelangen.“ Das vorgeburtliche Chaos, von dem Rilke schreibt, ist auch der eventuelle Punkt, von dem aus die Weltgeschichte neu beginnen kann.

Suche nach bleibender Identität
Rilkes Leidenschaft für Russland, anders kann man es nicht nennen, erklärt sich auch mit den Versuchen, für sich eine neue, „bleibende“ Identität zu finden, irgendetwas Unerschütterliches, auf das man sich stützen kann. Sein halbes Leben hat Rilke auf Reisen zugebracht. Im Laufe seines Lebens hat er mehr als hundert Mal seinen Wohnort gewechselt. Er war auch in Ägypten und in Nordafrika. Ja, man kann sagen, dass er vor sich selbst davonlaufen wollte. Er hat Stabilität dort gesucht, wo sie nicht sein konnte. Doch letztendlich ist die deutsche Sprache, in der er geschrieben hat, zu Rilkes wahrer „Heimat“ geworden.

1926, kurz vor seinem Tod, entspann sich ein reger Briefwechsel mit Marina Zwetajewa, von der er aus einem Brief von Boris Pasternak erfahren hatte. Dies ist wiederum ein einzigartiger Fall in der Literaturgeschichte, eine Dreierkorrespondenz zwischen drei großartigen Dichtern. Zwetajewas Briefe an Rilke könnte man als das seltene Genre einer „poetischen Fernliebe“ bezeichnen, was sie im Übrigen nicht daran hinderte, Rilkes Talent zu schätzen. Im Brief von 12. Mai 1926 vergleicht sie Rilke mit einem Wunder, das rational nicht zu begreifen ist, denn sein Talent kann man nur „sehen“.

„Sie sind die Inkarnation der Poesie“, schreibt Zwetajewa an Rilke. Durch den Tod Rilkes am 26. Dezember 1926 kam es nicht mehr zu einem Treffen der beiden Dichter. „Mein Geliebter, ich weiß, du liest meine Briefe schon, bevor ich sie überhaupt geschrieben habe“, bekennt Zwetajewa in einem Brief an den heimgegangenen Dichter (31. Dezember 1926). Die russische Sprache wurde die erste Fremdsprache, in die Rilkes Werke übersetzt wurden. Der Dichter Aleksander Bisk (1883–1973) war einer der ersten, der Rilke bereits im Jahr 1906 übersetzte. Boris Pasternak, der Sohn des Malers Leonid Pasternak, bekannte, dass er wegen Rilke Schriftsteller geworden ist.

In hundert Jahren hat sich eine so enorme Zahl von Rilke-Übersetzungen ins Russische angesammelt, dass man das Gefühl hat, jede neue Übersetzung gerät mit der vorherigen in Widerstreit. Kein anderer fremdsprachiger Dichter ist in Russland mit einer derartigen Menge von Übersetzungsvarianten derselben Texte präsent. Darin liegt eine gewisse tragische Ironie. Das neue Sowjetrussland (das Rilke übrigens nicht akzeptiert hat) hat einem der einflussreichsten Dichter der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts für lange Zeit das Schicksal eines „reaktionä- ren Dichters“ zugedacht. Aleksander Fadejew schrieb 1950 in der Prawda: „Wer ist dieser Rilke? Ein extremer Mystiker und Reaktionär in der Dichtkunst.“

Der Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitung Petersburger Dialog entnommen.

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