Wie man Flüsse lesen kann
Enzyklopädien des Lebens
Die Flutkatastrophen an Donau, Saale, Mulde, Elbe etc. haben wieder einmal die ungeheuren Kräfte der Natur verdeutlicht. Aus gegebenem Anlass widmet sich das aktuelle Thema des Monats den überwiegend schönen Seiten der Flüsse. Der Historiker Karl Schlögel widmet sich der Frage, wie man Flüsse lesen kann – und was sie uns erzählen.
Flussreisen haben Konjunktur. Hochglanzprospekte und Kataloge so dick wie Telephonbücher lassen keine Wünsche offen. Im Angebot sind die Donau von Ulm bis zum Schwarzen Meer oder auch nur abschnittsweise von Hauptstadt zu Hauptstadt: Wien-Bratislava-Budapest-Belgrad. Der Kunde kann wählen zwischen einer Wolgareise, die in Moskau oder in Sankt-Petersburg oder in Astrachan beginnt. Die Amazonasreise kombiniert das Abenteuer in den Tropen und den Besuch des Opernhauses von Manaus mitten im Dschungel. Jeder, der schon in Amerika war, kann ein Amerika entdecken, das er noch nicht kannte, indem er in St.Louis einen alten Raddampfer nach New Orleans besteigt. Selbst Sibirien, das für die meisten Zeitgenossen im Westen keinen guten Klang hat, zeigt sich im Licht überwältigender Naturschönheit, seit tüchtige Schweizer Schifffahrtsunternehmen regelmäßig den Jenissei oder die Lena bis hinauf zum Polarkreis befahren. Und wer die bizarren Felsbildungen des Jangtsetals bisher nur von chinesischen Tuschzeichnungen kannte, der kann sie jetzt mit eigenen Augen betrachten, inklusive der gewaltigen Schleusen des Drei-Schluchten-Staudamms.
Zeit zur Verlangsamung
Fast sieht es so aus, als seien es nun die Flüsse und Ströme, auf denen man die letzten Entdeckungen machen kann. Was im fin-de-siècle einmal das Privileg einer winzigen Elite war, leistet sich heute auch die Mittelklasse, besonders die Klientel zahlungskräftiger Pensionäre. Dennoch haben Flussreisen noch immer etwas Exklusives. Man ist für die Zeit der Reise irgendwie unter sich. Das wahre Abenteuer der Flussreise ist das Erlebnis der Verlangsamung. Man fliegt nicht über die Landschaft hinweg, sondern sie gleitet an einem vorbei. Die Landschaft, die sich am Ufer zeigt, ist der langsam laufende, angehaltene Film, der dem Betracher, der an der Reling steht, Zeit lässt, hinzusehen und sich Gedanken zu machen. Und doch ist die angehaltene Zeit kurzweilig. Sie wird unterbrochen von überraschenden Ausblicken – die Donau bei Melk, der Rhein am Loreleyfelsen, die Elbe, wenn sie durch das Elbsandsteingebirge bricht –; von den Ausführungen informierter Reiseführer, die alles wissen, was man zu Kultur und Geschichte der vorübergleitenden Landschaft zu sagen hat; und von Landgängen, die für Bewegung und starke Eindrücke sorgen, die abends im Salon reflektiert oder im Tagebuch niedergeschrieben werden. Es liegt auf der Hand, worin das Geheimnis, und damit auch der Schlüssel für das Erfolgsrezept der Flussreisen liegt: in der Verbindung von verlangsamter Bewegung und dem Reichtum starker Eindrücke. Flusslandschaften sind wahre Enzyklopädien, und wer sie zu lesen versteht, kehrt unendlich bereichert zurück.
Dokumente ersten Ranges
Angesichts dessen ist es beinah verwunderlich, dass es – dem Donau-Buch von Claudio Magris und dem Rhein-Buch von Lucien Febvre zum Trotz – so lange gedauert hat, bis Historiker sich der Flüsse als eines eigenen Themas angenommen haben, obwohl sie doch „Dokumente“ ersten Ranges und allerhöchster Aussagekraft sind. An ihnen lässt sich Geschichte ablesen – die der Natur ebenso wie die der menschlichen Arbeit, der Kultur und von Krieg und Frieden. Flussgeschichten sind Geschichten von der Verwandlung von Naturströmen in Kulturströme – und es sind immer wieder Überschwemmungen, Deichbrüche und „Jahrhunderthochwasser“, die über die an den Ufern lebenden Menschen hereinbrechen, die uns daran erinnern, wie unbändig letztlich doch die vermeintlich regulierten großen Gewässer sind.
Schon in der Schule lernen wir, dass Flussnamen für große geschichtliche Ereignisse stehen: für Cäsars „Überschreitung des Rubikon“ im Jahre 49 vor Christus, die zum Synonym für Zuspitzung und riskante Grenzüberschreitung wurde; der Rückzug von Napoleons Grande Armee 1812 über die Beresina, der in einer Katastrophe endet, das „Wunder an der Weichsel“, in der 1920 die Polen die Rote Armee zurückwerfen, oder die Schlacht von Stalingrad an der Wolga, die zu einer Wende im Zweiten Weltkrieg wird. In Kriegen werden „Brückenköpfe“ gebildet und Brücken gesprengt. Die „Brücke von Remagen“ steht in unserem Gedächtnis – vermittelt über den gleichnamigen Film – für den finalen Vorstoß der westlichen Alliierten ins Herz des „Dritten Reiches“. Flussnamen werden zu Namen von Grenzen, Grenzverschiebungen und Demarkationslinien, wie man an der Oder-Neiße-Grenze, die in Potsdam beschlossen wurde, sehen kann, aber auch an der Grenze, die am Rio Grande verläuft und das Sehnsuchtsland USA gegen den Zustrom aus dem Süden abriegeln soll. Flüsse stehen für den Zusammenhang von Herrschaftsterritorien und Imperien wie die Donau-Monarchie.
Flüsse repräsentieren ganze Völker, so „Mütterchen Wolga“ Russland, so der „Ol’Man River“ Mississippi die USA. Flussnamen finden Eingang in die nationalen Erzählungen und in die Selbstfindungsprozesse von Völkern: „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ in Heinrich-Hoffmann-von-Fallerslebens „Lied der Deutschen“ von 1841 bezeichnete einmal die Umrisse der nationalen Erweckungsbewegung der Deutschen, die die Schaffung ihres Nationalstaats noch vor sich hatten. Viele alte Hochkulturen sind an großen Strömen entstanden – Ägypten, Mesopotamien, Indien, China. Große städtische Zentren, auch Hauptstädte liegen an Flüssen, die Schutz, aber auch Zugang zur Welt draußen, Handels- und Transportwege in einem waren.
Natürliche Lebensadern
Nur aus der Perspektive des Eisenbahnzeitalters, der Ära des Automobils und der internationalen Fluglinien scheint es merkwürdig, dass die Gründung und Bildung zivilisatorischer Zentren an Flüsse gebunden ist. Aber in Wahrheit ist es selbstverständlich: In Zeiten der Wegelosigkeit waren sie nicht nur die wichtigsten, sondern oft die einzigen Verkehrswege. Über sie wurde herangeschafft, wovon sich Städte ernähren konnten. Sie waren die „Arterien“, die die wachsenden Siedlungen mit Lebensmitteln versorgten, sie waren die Transport- und Handelswege, über die der Binnen- vor allem aber der transkontinentale Handel abgewickelt wurde. Sie trugen die Flöße, die das Bau- und Heizmaterial aus den Waldregionen in die menschlichen Siedlungen brachten, die Schiffe, die die exotischen Waren aus fernen Ländern trugen.
Viele Städte sind auf die Flüsse hingebaut und die Existenz von Furten und Brücken entschied für Jahrhunderte über Existenz, Wohlstand, Zukunft von städtischen Siedlungen – wie umgekehrt die Sprengung von Brücken eine schwere Störung, vielleicht sogar das Ende bedeuten konnte. Können wir uns die Silhouette von Städten ohne den Blick vom Strom her oder auf den Strom hin überhaupt vorstellen? Den Kölner Dom ohne den Rhein, die Skyline Manhattans ohne den Hudson oder East River? Notre Dame auf der Ile de la cité ohne die Seine, London ohne Tower Bridge, den Blick auf den Kreml ohne die Moskwa oder die Prospekte Leningrads ohne den Spiegel der weiten Wasserflächen der Newa?
Flüsse grenzen ab, aber sie verbinden vor allem. Sie haben eine raumproduzierende Kraft, sie vermitteln die Kommunikation der Menschen, die in Jahrhunderten der Wegelosigkeit ganz auf sich zurückgefallen wären. Aber es sind die Menschen, die sich der Kraft der Flüsse vergewissern und sich ihrer Energie zu bedienen wissen. Sie bauen die Schiffe für den Transport von Menschen und Gütern. Sie errichten die Anlegestellen und Stapelplätze, auf denen die Güter gelagert und weiterverhandelt werden. Sie befestigen die Ufer, die gegen Fluten und Hochwasser schützen. Sie nutzen die Antriebskräfte des Wassers, um Mühlen und später die ganze Industrie betreiben zu können.
Entlang von Flüssen lässt sich die Geschichte des Fortschritts erzählen, der Übergang vom Floß zum Kahn, vom Segelschiff zum Dampfschiff. Flüsse werden aufgestaut, begradigt, eingedeicht, reguliert, um sie zu „ertüchtigen“ und von Navigationsperioden, natürlichen Unregelmäßigkeiten wie Eisgang, Hochwasser, Niedrigwasser unabhängig zu machen. An Flüssen entfaltet sich das Genie der menschlichen Arbeit, aber auch ein Größenwahn, der die Reichweite menschlicher Eingriffe verkennt. Seit es Verkehr auf den Flüssen gibt, modelliert der Mensch das geographische Relief, indem er Flussgebiete durch Kanäle miteinander verbindet. Es ist vor allem die Aufklärung, die in Europa den Wasserbau, das Ingenieurwesen, die Konstruktion von Kanälen und Schleusen zu Höchstleistungen treibt. Für das Genie der Ingenieure scheint es keine Grenzen mehr zu geben: Flüsse werden durch künstliche Wasserstraßen verbunden, Flüsse und Kanäle verbinden Meere – wie der Canal du Midi, der schon im 17. Jahrhundert Atlantik und Mittelmeer verband, oder der Rhein-Main-Donau-Kanal, der Nordsee und Schwarzes Meer verbindet, dessen Uridee aber schon auf Karl den Großen zurückgeht.
Uralte Träume der Verbindung der Meere werden im 19. und 20. Jahrhundert Wirklichkeit. Durch technologischen Fortschritt setzt sich der Mensch in die Lage, die „Natur zu verbessern“, Flüsse zu begradigen, ja sogar umzuleiten – wie das in einem besonderen Fall von Hybris in der Sowjetunion in den 1950er Jahren vorgeführt wurde, als die großen Ströme Sibiriens „angezapft“ und zum Teil umgeleitet werden sollten, um die Wüsten- und Steppengebiete Zentralasiens zu bewässern – ein Projekt, das erst mit dem Ende des sowjetischen Imperiums eingestellt wurde. Symbole der Bändigung und Nutzung der Kraft der großen Ströme in Gestalt gigantischer Staudämme und Kraftwerke sind jedem vertraut: Assuan am Nil, Drei-Schluchten-Staudamm am Yangtse, Hoover Dam am Colorado, die Kaskade von Stauseen und Hydroelektrischen Kraftwerken, die die Wolga aufstauen oder die sibirischen Flüsse. Sie sind großartige Beispiele für das Zusammenspiel von Naturkraft und menschlichem Genie, aber auch für die Gefahr der Selbstüberschätzung dessen, was Menschen vermögen, und für den Preis, den sie entrichten müssen, wenn sie den Gang der Natur missachten.
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