Wegmarken der Geschichte
Wenn Flüsse zum Schicksal werden
Die Schlagzeilen zur Flutkatastrophe an Donau, Elbe, Saale, Mulde und Elster in diesem Sommer zeugten nicht nur von Entsetzen und Fassungslosiskeit, sondern auch von – zumindest teilweisem – Unverständnis des Themas. Flüsse sind komplexe ökologische Systeme. Sie sind aber auch weit mehr als bloße Wasserstraßen: Als Transportwege und Siedlungsräume sind sie seit Jahrhunderten die Lebensadern unserer Zivilisation.
Flüsse können alles Mögliche sein: natürliche Wasserstraßen wie der Rhein und die Donau, Kulturlandschaften wie das Dresdner Elbtal oder Antriebskraft für Wasserkraftwerke wie an der Werra oder am Walchensee. Sie können Lebensadern ganzer Länder sein wie der Nil in Ägypten oder die Themse in England. Mitunter werden Flüsse auch zu Wegmarken der Geschichte.
Allein das Schicksal Napoleons entschied sich gleich mehrmals an den diversen Flüssen Europas. So schloss der französische Kaiser im Juli 1807 im ostpreußischen Tilsit auf einem Floß auf der Memel mit König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. einen Friedensvertrag, der seinen Triumph besiegelte und die weitgehende Besetzung Preußens bedeutete. Der Russlandfeldzug, mit dem der Franzose 1812 seine Vormachtstellung auf dem Kontinent zementieren wollte, begann mit dem Übergang über den Njemen (wie die Memel flussaufwärts heißt); und er kam an der Moskwa zum Stehen, als das kampflos genommene Moskau plötzlich in Flammen stand. Zum nationalen Mythos für beide Völker wurde dann während des hastigen Rückzugs die Beresina: Als hier Ende November 1812 die Grande Armee von den Russen zur Schlacht gestellt wurde, verloren zehntausende französische Soldaten ihr Leben. Immerhin konnte der Korse dabei den Kern seiner Armee retten. Doch ein gutes Jahr später wurde wieder ein Fluss zum schicksalhaften Wendepunkt: Als das preußische Heer unter dem Fürsten Blücher in der Silvesternacht 1813 bei Kaub zum Rheinübergang ansetzt, läutet dies den Siegeszug der Verbündeten gegen Napoleon ein.
Was geschieht, wenn fließende Wasser partout nicht genommen werden können, zeigten die Ereignisse an zwei französischen Flüssen im Ersten Weltkrieg. So blieb im Juli 1916 an der Somme eine britisch-französische Großoffensive gegen das deutsche Heer stecken. Am Ende des folgenden monatelangen Ringens, das keine Seite voranbrachte, hatten rund 1.000.000 Soldaten ihr Leben verloren. Die Somme steht seitdem nicht nur für die verlustreichste Einzelschlacht des Ersten Weltkriegs, sie wurde auch zum Sinnbild des sinnlosen Stellungskrieges insgesamt. Die Marne wiederum wurde gleich zweimal zum unüberwindbaren Hindernis für deutsche Angriffsbemühungen. Im September 1914 kam hier der bis dato ungebremste Vormarsch des deutschen Heeres zum Stehen. Doch da die Kraft der Alliierten nicht ausreichte, um das kaiserliche Heer entscheidend zu schlagen, wurde die Marne nicht zum Symbol des Sieges, sondern ebenfalls eines langen mörderischen Stillstands. Erst als im Juli 1918 wieder eine deutsche Offensive an der Marne scheiterte, wurde der Fluss zum Fanal für den Auftakt der Niederlage des Kaiserreichs.
Auch im Zweiten Weltkrieg entschied sich das deutsche Schicksal mitunter wieder an Flüssen. So verdeckt der Symbolgehalt des Wortes Stalingrad, dass es weniger der Ortsname war, der das Ende der 6. Armee besiegelte, als vielmehr der Umstand, dass diese Stadt an der Wolga liegt. Als Hitler der deutschen Öffentlichkeit im Herbst 1942 die Umzingelung Stalingrads meldete, tönte er, dass die Stadt quasi schon genommen sei, und die Rote Armee teilweise bis auf wenige Dutzend Meter an die Wolga zurückgedrängt sei. Doch genau diese wenigen Meter waren der Grund dafür, dass die Russen fortan nicht mehr zurückwichen: Mit der Wolga im Rücken gab es schlichtweg keinen Ort mehr, wohin sie entfliehen konnten, und deshalb kämpften sie bis zum letzten Mann – und zur Wende. Auch das Ende des Krieges war mit den Namen großer Ströme verbunden. So stoppte die Rote Armee ihre Sommeroffensive 1944 am Weichselbogen, um sich für den Entscheidungskampf vorzubereiten. Als sie dann am 12. Januar 1945 ihre Winteroffensive begann, fand nach wenigen Tagen an der Oder die letzte große Schlacht auf dem Wege in die „Reichshauptstadt“ statt.
In allen Fällen war der Kampf um die Flüsse von Propaganda begleitet, bedeutete ihre Überquerung nach vorne Triumph – und in der Rückwärtsbewegung die Niederlage.
Falsche Symbolik
Über Jahrhunderte hinweg galten die großen Ströme als Bindeglieder: zwischen Fürstentümern und Stadtstaaten wie am Rhein; zwischen den verschiedenen Völkern eines Reichs wie in der Donau-Monarchie; oder zwischen den verschiedenen Völkern verschiedener Reiche wie die Memel, die auf Litauisch Nemunas, auf Russisch Neman und auf Polnisch Njemen heißt. Dass Flüsse Grenzen – und somit Trennlinien zwischen Völkern – sein sollen, ist hauptsächlich ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Wo die Gründung unabhängiger Nationalstaaten zum Ziel erklärt wurde, war die Abgrenzung von den Nachbarn erforderlich. Da diese Trennlinien möglichst „natürlich“ erscheinen sollten, boten sich Flüsse für die Grenzziehung geradezu an. In Hoffmann von Fallerslebens Versen „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ steckt allerdings nicht nur eine geographische Beschreibung Deutschlands, sondern zugleich auch das politische Programm der Einigungsbewegung: nämlich großdeutsch und damit bürgerlich, und eben nicht kleindeutsch-monarchisch, wie es später tatsächlich kam. Auch andernorts wurden Flüsse zu politischen Programmen. So strebte Frankreich danach, den gesamten Rhein zur gemeinsamen Grenze mit Deutschland zu machen (weshalb der „alte Vater“ bei Hoffmann von Fallersleben gar nicht erst auftaucht, da er nach deutschem Verständnis ein reiner Binnenfluss war). Und im Osten träumten panslawistische Bewegungen dermaßen laut davon, ihren Einflussbereich an die Weichsel oder an die Oder zu verschieben, das etwa Karl Marx, der sich mit seinen Vorhersagen sonst meist geirrt hatte, schon Mitte des 19. Jahrhunderts prognostizieren konnte, dass eines Tages die „natürlich erscheinende Grenze Rußlands von Danzig oder vielleicht Stettin bis nach Triest verläuft.“
Tatsächlich wird die Oder zusammen mit der Neiße nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlust des deutschen Ostens lange Zeit zum Knackpunkt des Verhältnisses zwischen Deutschen und Polen (wie es Stalins Kalkül gewesen war). Zwar erkennt die DDR beide Flüsse als „Friedensgrenze“ an (allerdings erst, nachdem ihr die Volksrepublik Polen gedroht hat, alle Kohlelieferungen einzustellen), doch für die Bundesrepublik bilden Oder und Neiße weiterhin lediglich eine Demarkationslinie. Erst das wiedervereinigte Deutschland erkennt die durch Krieg und Nachkrieg geschaffenen Fakten an.
Irrwege
Bekommen ist die symbolische Aufladung den Flüssen freilich nicht, ganz im Gegenteil. Da Flüsse in der Regel eben keine natürlichen Grenzen waren, folgte auf das Markieren der Trennlinien zu ihrer Absicherung oftmals die Errichtung von Stacheldraht und vielfach auch die Vertreibung derjenigen, die auf der „falschen“ Seite zuhause waren.
Erst die Entwicklung der Europäischen Union und insbesondere die Überwindung alter Grenzen durch das Schengener Abkommen ermöglichte in den letzten Jahren eine stille Wiederkehr der großen europäischen Ströme in ihre historischen Zusammenhänge. Da wird der Rheinübergang bei Straßburg und Kehl zur alltäglichen Normalität, die Donau wieder zur Mittelachse des südöstlichen Europas, und auch über Oder und Neiße fährt man inzwischen wieder so, als hätte es die Zeit von 1945 bis 1989 nicht gegeben. Und siehe da: Wo Flüsse zum Bindeglied werden, entwickelt sich nicht nur der freie Personenverkehr, sondern nach und nach auch der Wohlstand.
Doch sollten wir uns hüten, die positive Entwicklung der letzten Jahre gleich wieder mit neuen Botschaften aufzuladen, z.B. Flüsse als Symbole der europäischen Einigung. Stattdessen sollten wir uns einfach an ihrem Anblick – an den kulturellen Reichtümern zu ihren Ufern und an ihren landschaftlichen Reizen – erfreuen. Und manchmal können wir durchaus daran denken, was passiert, wenn Flüsse ideologisch aufgeladen werden.