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Von der Seele eines Flusses

Eine Spurensuche an der Elbe

Die Schlagzeilen zur Flutkatastrophe an Donau, Elbe, Saale, Mulde und Elster in diesem Sommer zeugten nicht nur von Entsetzen und Fassungslosigkeit, sondern auch von – zumindest teilweisem – Unverständnis des Themas. Flüsse sind komplexe ökologische Systeme. Sie sind aber auch weit mehr als bloße Wasserstraßen: Als Transportwege und Siedlungsräume sind sie seit Jahrhunderten die Lebensadern unserer Zivilisation.

Uwe Rada15.07.2013

Ganz selbstverständlich reden wir von dem Rhein, von der Donau und von der Elbe. Was aber ist es, was einen Fluss als Ganzes ausmacht? Vom Kalten Krieg war noch nichts zu spüren, als der US-Leutnant Albert L. Kotzebue am 26. April 1945 in Torgau an der Elbe den Rotarmisten Alexander Olschanski traf. Anfangs verlief die Begegnung, schrieb Kotzebue in seinen Erinnerungen, noch etwas förmlich. Doch dann „wurden wir lockerer, lächelten und machten uns gegenseitig Komplimente“. Ein Happy End an der Elbe: „In jedem von uns lebte der festliche Geist der Elbe, der Geist der Kameradschaft, des Gedenkens an die Opfer auf beiden Seiten, des Glücks und der Erleichterung, dass der Krieg bald zu Ende sein würde.“

Der 26. April 1945 hat als „Handschlag von Torgau“ seinen festen Platz in den Geschichtsbüchern, auch wenn das Foto, das damals um die Welt ging, nachgestellt war. Die Botschaft aber war klar: Einig in der Freude über den Sieg gegen Hitlerdeutschland treffen sich Rotarmisten und US-Soldaten, feiern den „Geist der Elbe“ und legen den Grundstein für Torgau als grenzüberschreitenden Erinnerungsort. Lange währte dieser Geist freilich nicht. Schon vier Jahre später wurde der Fluss auf 94 Kilometern zur innerdeutschen Grenze und zum Symbol der Teilung Europas. Was also ist der Geist der Elbe tatsächlich? Gibt es so etwas überhaupt: den Geist oder die Seele eines Flusses?

Fluss-Marken

Auch Flüsse haben ein Image. Vorm Rhein verneigen wir uns ehrfürchtig als Vater, die Donau wiegt uns in den Walzerschritt. Hölderlin und Schlegel übten sich am Neckar im Fluss der Worte. Demgegenüber ist die Elbe geradezu ein Fluss ohne Eigenschaften. Schön ist sie, gewiss, aber leider auch etwas langweilig. Ein Fluss für Liebhaber; in den Olymp der deutschen Ströme wird sie es nie schaffen.

Gar etwas Mitleid muss der Volksschriftsteller Paul Keller mit der Elbe empfunden haben, als er 1905 sein „Märchen von den deutschen Flüssen“ verfasste. In diesem Märchen finden sich, auf Einladung der Elbe, die deutschen Flüsse zu einer Gesellschaft ein und nehmen dabei geradezu menschliche Charakterzüge an. Über den Pregel rümpft Keller die Nase: „Er kam in Lederhosen, in juchtenen Halbstiefeln (…). Dazu war er gänzlich unrasiert.“ Über die Donau lästert der Main: „In Deutschland ein schmuckes, aber etwas tölpisches Bauernmädel, in Wien eine Operettenfigur, in Budapest eine reich gewordene, faule, fette Magyarin; die Balkanstaaten machen das Maß ihres fragwürdigen internationalen Personale voll.“ Ganz anders dagegen Vater Rhein, der in Kellers Märchen als geselliger König die Bühne betritt: „König Rhein ist ja recht leutselig, zumal wenn er (im Vertrauen gesagt) ein Gläschen zuviel getrunken hat; aber König ist König.“ Mit den Charaktereigenschaften, die Keller den Flüssen zuschrieb, schuf er ein Bild der Vielfalt Deutschlands und ein Plädoyer für Toleranz. Erstaunlich ist allerdings, dass die Elbe, die Keller mit der Gastgeberrolle in den Mittelpunkt dieses Flüssegipfels stellte, seltsam blass bleibt. Keller, von einem Millionenpublikum gelesen, entschuldigt das im Märchen mit ihrer geografischen Lage: „Das ist ja das Schreckliche für Frau Elbe, dass sie so in der Mitte wohnt. Sie möchte es nach rechts nicht verderben und auch nicht nach links“. Für Keller ist die Elbe, wie später für den US-Leutnant Kotzebue, damit die Mittlerin zwischen Ost und West. Gleichzeitig, und damit endet das Märchen von den deutschen Flüssen, markiert sie auch eine kulturelle Grenze: „So war die Hausfrau glücklich, dass alles gut abgelaufen war. Wohlig dehnte sie ihre Glieder in ihrem breiten, weichen Bett und schlief ein. Und zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken, in Ostelbien und Westelbien, schliefen brave Kinder.“

Die Elbe als Grenze

Westelbien, Ostelbien – die Elbe als Grenze: Da hat sich etwas eingeschrieben in die deutsche Wahrnehmung des mit 1094 Kilometer Länge drittgrößten deutschen Flusses. Etwas, gegen das der Handschlag von Torgau nicht viel ausrichten kann. Viel stärker als der Geist der Elbe als Versöhnerin ist im kollektiven Gedächtnis das Trennende, wie es sich im herablassenden Spott des Rheinländers Konrad Adenauer äußert, der auf der Bahnfahrt nach Berlin die Vorhänge im Abteil zuzog, wenn der Zug die Elbe überquerte. Er wollte, so hieß es, die „asiatische Steppe“ nicht sehen. Ist Torgau ein Erinnerungsort, der verbindet, wollte Adenauer die Elbe in den Dienst der Spaltung nehmen. Ein ganz anderes Bild als das von der Kulturgrenze hat Christian Graf von Krockow für die Elbe parat. In seinem Essay „Die Elbreise“ schlägt er, um die Seele der Elbe zu begreifen, einen Ausflug in die fernöstliche Philosophie vor: „Fast möchte man meinen, dass zwei menschliche Grundhaltungen zu ihrer Gestalt gekommen sind. Yin und Yang, um es mit der chinesischen Weisheit zu sagen: das Weibliche und Weiche auf dem einen, das Männliche, Harte auf dem anderen Pol. Oder: Liebe und Pflicht, Schönheit und Macht.“ Krockows Vorstellung rührt vom Gegensatzpaar Sachsen und Preußen, lässt sich aber auch auf Böhmen erweitern: am Oberlauf die barocke, sinnesfreudige Elbe, die unterhalb Sachsens in die preußisch, nüchterne, hanseatische Elbe übergeht. Nicht mehr der Fluss ist hier die Grenze; vielmehr durchmisst die Elbe auf ihrem Lauf Kulturlandschaften, die sie, trotz aller Gegensätzlichkeit, miteinander verknüpft. „Fließende Räume“ nennt das die Erfurter Historikerin Susanne Rau. Im Bild von Yin und Yang finden sie zur Einheit in Vielfalt.

Tatsächlich eröffnen diese fließenden Räume einen ganz anderen Blick auf die Flüsse und ihre Geschichte als denjenigen, den das 19. und 20. Jahrhundert hinterlassen haben. Namentlich in Tschechien, wo bis heute fast trotzig die Elbe als „deutscher Fluss“ tituliert wird, demgegenüber die Moldau als der nationale Fluss der Tschechen steht, lohnt ein Blick auf die vornationale Zeit. Karl IV. etwa, der große europäische Kaiser, der Prag im 14. Jahrhundert zum caput regni, zur Hauptstadt des Heiligen Römischen ausgebaut hat, war ein Freund der Elbe. In Tangermünde ließ er seine Zweitresidenz bauen, in Hamburg einen Pfingstmarkt abhalten, auf dem die Waren seines Reiches, das ihm auch ein Elbreich war, verkauft wurden. Der Geist der Elbe in Tschechien ist eindeutig: Über die Elbe hielt und hält Böhmen Verbindung mit dem Meer und damit zu Europa. Die Moldau dagegen ist etwas für romantische Träumer und jene Patrioten, die nicht über den Rand des Böhmischen Beckens hinaus schauen.

Verbindende Gemeinsamkeiten

Und in Deutschland? Was ist das Gemeinsame zwischen so verschiedenen Kulturlandschaften wie dem Elbsandsteingebirge, der Auenlandschaft an der mittleren Elbe und der von den Gezeiten geprägten Tideelbe unterhalb von Geesthacht? Oder bleibt die Elbe hierzulande ein Puzzle, in dem der Geist von Torgau nichts anderes ist als eine kleine Episode im Lauf ihrer Geschichte?

Spürt man nach dem Ende der Teilung Europas dem Geist der Elbe nach, stößt man unweigerlich auf Benjamin Henrichs. 1991 hat der in Stuttgart geborene Theater- und Literaturkritiker einen bemerkenswerten Elbverriss verfasst: „Der Fluss Elbe ist eine Zumutung für Geist und Auge. (…) Das Ufer-Theater, das die Elbe dem Flussreisenden bietet, ist ein karges, von allerdings majestätischer, man getrost sagen, magischer Monotonie (…) Da ist nichts, und da kommt nichts.“ Da war er also wieder, der Fluss ohne Eigenschaften, der Langeweiler unter den deutschen Flüssen. Doch dieses Image verblasst langsam, ebenso wie das des Grenzflusses. Die Elbe trägt die festgefahrenen Bilder fort wie unnützes Sediment. Hervor kommt ein ganz anderer Blick auf den Strom. Freier Fluss und Freizeitfluss ist er nun, weil gerade die ungebändigte Elbe jenen Moment des Innehaltens bietet, den wir sonst so sehr vermissen. Denn das ist ja der Grund, warum wir die Flüsse derzeit neu entdecken: In den verwinkelten Räumen von Globalisierung und Bindestrich-Identitäten bieten sie offenbar jenes Maß an Orientierung, das im Alltag verloren gegangen ist.

Zum andern lösen die europäischen, grenzüberschreitenden Erinnerungsorte die Monumente nationaler Geschichtspolitiken ab, die im 19. und 20. Jahrhundert mit Vorliebe an die Ufer der großen Ströme gesetzt wurden. Der Händedruck von US-Leutnant Kotzebue und Rotarmist Olschanski war also nicht umsonst. Und eine „Zumutung für Geist und Auge“ ist die Elbe nur dem, der sich, den Blick immerzu auf den Olymp gerichtet, nicht aufs freie Fließen einlassen kann. Allen anderen öffnet sie durch ihre Weite den Horizont.

Uwe Rada
Uwe Rada ist Redakteur der „taz“ und koordiniert das Online-Dossier „Geschichte im Fluss“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei Siedler veröffentlichte er eine Flüsse-Trilogie: „Die Oder. Lebenslauf eines Flusses“ (2009), „Die Memel. Kulturgeschichte eines europäischen Stromes“ (2010) sowie „Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss“ (2013). Als Herausgeber veröffentlichte er zuletzt zusammen mit Dagmara Jajesniak-Quast „Die vergessene Grenze: Eine deutsch-polnische Spurensuche von Oberschlesien bis zur Ostsee“, (Bebra Verlag, 2018).
uwe-rada.de

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