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»Es gibt noch mehr falsche Kunsturteile«

Im Gespräch mit dem Juristen Peter Raue, der sich als Anwalt der Künstler versteht und zeitgenössische Kunst sammelt

Peter Raue01.10.2015

Sein Markenzeichen ist die Fliege. Wie viele Peter Raue besitzt, weiß er nicht. Zu groß ist seine Sammlung. Sein Ruf unter Künstlern ist legendär - als Fürsprecher und als Sammler. Davon zeugt auch seine Kanzlei in Berlin. Dort hängen viele der Werke, die er gekauft hat – aus Liebe zur Kunst, nicht als Wertanlage.

Rotary Magazin: Herr Raue, Kunst und Juristerei haben eine Gemeinsamkeit: für beides braucht man gutes Urteils­vermögen. Was ist schwieriger: ein Kunst- oder ein Gerichtsurteil?
Raue: Kunsturteile zu fällen! Es gibt viele falsche Gerichtsurteile, aber noch mehr „falsche“ Kunsturteile. Mich wundert, mit welcher Sicherheit heute der Kunstmarkt die Contemporary Art betrachtet. Historisch gesehen hat sich der Geschmack der Zeitgenossen immer geirrt. Nicht Cézanne und van Gogh oder Gauguin galten zu ihrer Zeit als die Großen, sondern die Leute des französischen Salons oder Anton von Werner. Nach hundert Jahren haben wir bessere Kriterien, um zu erkennen, welcher wahnwitzige Aufbruch in die Moderne das damals war. Je länger es zurück liegt, desto sicherer das Urteil.


Trotzdem sammeln Sie nur zeitgenössische Kunst. Warum?
Ich kaufe ja nicht, weil ich die Kunst für bedeutend halte, sondern weil sie mich überzeugt. Mich interessiert es nicht, Kunst aus vergangener Zeit zu kaufen, Kunstwerke zu erwerben, bei denen der „Wert“ so feststeht wie dessen Preis. Ich habe ausnahmslos Arbeiten von lebenden Künstlern gekauft, wenn auch inzwischen viele verstorben sind. Dem Kauf geht der Dialog mit dem Künstler, das Erkunden seines Werkes, das Abwarten und immer wieder Betrachten voraus. Diese Arbeiten sprechen die Sprache unserer Tage. Das ist „contemporary“. Schauen Sie sich hier im Raum um, das ist alles von Rebecca Horn, die ich kenne und deren Arbeiten ich sammle, seit sie mit dem Studium fertig ist. Von der Kraft und Konsequenz ihres Werkes bin ich überzeugt.


Wann haben Sie ihr erstes Kunstwerk gekauft?
Vor 50 Jahren sah ich in einer Galerie in Steglitz eine „Hommage to the Square“ von  Josef Albers. Ich war gerade mit dem Studium fertig und habe diesen Siebdruck für 100 DM gekauft. Ich habe ihn meinem Stiefvater zu Weihnachten geschenkt. Der hatte es auch eine Zeit lang in München hängen, bis ich es wieder in meinen Bereich zurückgeholt habe nach dessen Tod.


Sie erfuhren erst mit 35, dass Sie gar nicht der Sohn des Architekten Carl F. Raue sind, der in Wirklichkeit ihr Stief­vater war. Haben Sie Ihrer Mutter je vergeben, dass sie die Wahrheit so lange vor Ihnen verborgen hat?
Ich hatte ihr das nie vorgeworfen, denn ich hatte Mitleid mit ihr und eine starke Liebe zu dieser wunderbaren Frau. Nach ihrem Tod las ich ihre Tagebücher und lernte, wie sie gelitten hat unter der Lebenslüge, mir die Wahrheit meiner Herkunft verschweigen zu müssen. Sie schreibt immer wieder, wie gerne sie mit mir über meinen wahren Vater reden würde, aber der Stiefvater hat ihr Schreckliches angedroht, wenn sie mir die Wahrheit erzähle. In den letzten Lebensjahren war sie dement, wohl auch eine Flucht aus ihrer so komplizierten Welt.


Obwohl Ihr Stiefvater Sie schlecht behandelt hat, schenkten Sie ihm das erste Kunstwerk, das Sie in Ihrem Leben kauften?

Das ist ein Kapitel, das niemand erklären kann: Die Eltern können einem Kind antun, was  auch immer, man sucht doch immer deren Liebe! Mir ist zwar nichts „angetan“ worden, ich bin nicht vergewaltigt oder geschlagen worden, mir fehlte nur jede Anerkennung durch meinen vermeintlichen Vater. Aber ich kenne viel schlimmere Fälle, in denen die Kinder trotzdem die Liebe der Eltern suchen.


Wie hat er reagiert?
Gar nicht. Dank gab es nicht. Er hatte keinen ausgeprägten Kunstsinn, hat in seinem Leben nie ein Bild gekauft, aber er besaß ein erstaunliches und bewundernswertes Gespür für Qualität, war ein „self-made-man“ und ein sehr guter Architekt. Dabei kam er aus einfachsten Verhältnissen. Sein Vater war Fahrradmechaniker in Leipzig und ein richtiger Prolet. Das meine ich nicht negativ. Ich mochte ihn. Das war so einer mit Ballonmütze, der unrasiert war und nicht grüßte. Dieser Mann hatte eine sehr noble Ehefrau, die ein Leben lang unter ihm gelitten hat und mit 85 mit akzentfreiem Sächsisch zu mir sagte: "Weeste, Peter, ich hätte auf meine Eltern hören und den Ollen einfach nicht heiraten sollen". Das hat mich beeindruckt. Sie wurde von ihren vermögenden Eltern enterbt, als sie heiratete, weil der zwar gutaussehende, aber „prollige“ Schwiegersohn von der Familie nicht akzeptiert wurde. Sie ist nie ohne Handschuhe und Hütchen aus dem Haus gegangen.


Wann haben Sie beschlossen, Ihr Hobby zum Beruf zu machen und sich auf Kunstrecht zu spezialisieren?
Ich wollte nach dem Jurastudium in Berlin nicht in irgendeiner Behörde oder einem Gericht arbeiten, wollte unabhängig sein und deshalb wurde ich Anwalt. Weil man sich damals nicht gleich spezialisieren konnte (und musste), machte ich erstmal al-les: Scheidungs-, Verkehrs-, Miet-recht. Damals war der führende Urheberrechtsanwalt in Berlin Wilhelm Nordermann, und wenn ich beispielsweise las, dass er die Brecht-Erben in Urheberrechtssachen vertritt, habe ich gedacht: da möchte ich wenigstens auf der Gegenseite stehen! Im Laufe der Zeit lernte ich viele Galeristen kennen und dann auch Künstler wie Wolf Vostell und Edward Kienholz, Gotthard Graubner, Günter Uecker. Wenn die ein juristisches Problem hatten, kamen sie zu mir. Zwei Jahre nachdem ich meine Anwaltszulassung erhalten hatte, wurde ich und blieb es bis heute Justiziar des Bundesverbandes Deutscher Galerien – und heute mache ich nichts anderes mehr als Kunst- und Urheberrecht.


Sind Künstler anders als andere Man­danten?
Ja. Bei Klienten, die auf dem Feld der Kunst rechtliche Probleme haben, entsteht eine sehr andere Beziehung zwischen Anwalt und Mandanten als im übrigen. Man kann in einer Villa leben und Mietrecht machen. Man muss keinen Führerschein haben, um Verkehrsrecht zu machen. Man kann nie einen Arzt konsultiert haben und dennoch Medizinrecht betreiben. Aber wenn ich einen Künstler als Mandanten habe, erwartet der, dass ich einen Sinn für das habe, was er tut.

 

Er erwartet Kenntnisse, zum Beispiel, dass ich eine Lithographie von einer Radierung und Acryl von Ölfarbe unterscheiden kann, wenn ein Bild beschädigt ist. Sie können nicht ein Streichquartett vertreten und fragen: Aus welchen Instrumenten besteht ein Quartett? Und Sie können einen Regisseur nicht vertreten, der sich gegenüber einen in die Inszenierung eingreifenden Intendanten behaupten muss, wenn Sie nicht wissen, von wem z. B. der „Baal“ ist und wo-von das Stück handelt. Nur wenn ein Künstler Scheidungsprobleme hat, ist er ein Mandant wie jeder andere.


Einer Ihrer ersten Fälle war Wolf Vostell, der ein Bild voller Teller hatte, die er für je eine Mark im KDW gekauft hat. Nachdem er das Bild ausgeliehen hatte, waren zwei Teller kaputt und Vostell beauftragte Sie, Totalschaden geltend zu machen. Die Versicherung sagte: Die zwei Mark ersetzen wir Ihnen gerne. Die neuen Teller sind aber fünfzehn Jahre jünger als die originalen, weshalb das Bild aus Vostells Sicht unwiderruflich zerstört war. Also schrieb ich damals – was ich heute nicht mehr täte – an die Versicherung: „Merken Sie sich, Kunst mit Macke ist Kacke”.


Zu Ihren Klienten gehört auch eines der berühmtesten Orchester der Welt: die Berliner Philharmoniker, die gerade in geheimer Abstimmung Kirill Petrenko als neuen Chefdirigenten gewählt haben.Können Sie mir die Wahlordnung der Philharmoniker erklären?  
Ich kann es, aber ich tu's nicht. Nur soviel: Sie ist sehr klug, weil sie sichert, dass der gekürte Musikchef von einer großen Mehrheit mitge­tragen wird.


Kennen Sie einen guten Juristenwitz?
Wir Anwälte sind ja dazu überge­gangen, dass wir unsere Tätigkeit nach Stundensätzen berechnen. Ein Anwalt stirbt mit 43 Jahren, kommt in den Himmel und ist wütend, dass er so früh sterben musste. Er beschwert sich bei Petrus. Petrus schaut im Buch nach und sagt: Wir haben alle Stunden zusammengezählt, die du deinen Mandanten berechnet hast, danach bist Du 83 Jahre alt".


Haben Sie auch mal Kunstfälscher ver-treten?
Nein, das würde ich auch nicht tun. Als der Fälscher Wolfgang Beltracchi jetzt irgendwo seine Bilder ausgestellt hat, wurde ich gebeten, einen einführenden Vortrag zu halten. Das geht gar nicht. Ich verstehe mich als Anwalt der Kunst und der Künstler. Ich halte Beltracchi für einen Verbrecher, er hat 30 Millionen Euro Schaden angerichtet. Daran ändert sich nichts, nur weil er sympathisch ausschaut: Jeder Hochstapler und jeder Heiratsschwindler ist sympathisch, sonst hätte er keinen Erfolg.


Sie sind ein sehr eifriger Theaterbesucher. Was ist die schlechteste Theateraufführung, die Sie je gesehen haben?
Weiß ich nicht, wäre auch nicht fair, eine zu nennen. Ich habe wirklich viel, viel Schrott auf „den Brettern, die die Welt bedeuten“ in meinem Leben gesehen. Es gibt Abende, an denen ich mich wahnsinnig ärgere. Aber auch diese Abende gehören zum Lernprozess. Deshalb gehe ich auch niemals mitten in der Aufführung. Es ist mir auch passiert, dass ich nach einer Inszenierung dachte: das ist gar nicht auszuhalten, was ich da gesehen habe und merke erst später – weil mir Bilder, Szenen nicht aus dem Kopf gehen und immer wieder in den Sinn kommen - dass der zunächst fremde, ja heftig abgelehnte Abend doch gewaltig, vielleicht sogar richtig war. Man muss eben eine neue Sprache der Kunstvermittlung erst lernen, genau wie in der bildenden Kunst.


Gehören Sie zu den Buh-Rufern, wenn Ihnen eine Theaterauffühurng nicht gefällt?
Nein, das kann ich gar nicht. Wenn man diese Buh-Leute schon sieht mit ihren verzerrten Gesichtern – die sehen aus wie Kühe! Ich klatsche dann einfach nicht.


Es heißt, Sie haben mehr als hundert Fliegen im Schrank. Wie entscheiden Sie, welche Sie anziehen?
Das kann ich nicht sagen, aber es ist ein schöner kontemplativer Vorgang, ein Moment am Morgen des Suchens, Innehaltens, Einordnens.


Und wie entscheiden Sie, ob Sie ein Kunstwerk kaufen?
Auch das weiß ich nicht. Es ist ein emotionaler Akt – wie die „Entscheidung“, sich in eine Frau zu verlieben.


Sie pflegen allerdings eine riskante Leidenschaft: Von 1000 Künstlern, die in den Achtzigerjahren von wichtigen Galerien in London und New York verkauft wurden, sind heute nur noch 20 auf vergleichbarem Niveau vertreten.
Raue: Das mag richtig sein. Aber mir sind diese Preisschwankungen vollständig egal. Wenn man Kunst als Wertanlage kauft, ist sie nichts anders als eine Aktie, dann sollen die Leute reinfallen, dass es nur so kracht. Wenn man aber Kunst aus Liebe zum Werk kauft – und anders habe ich nie gekauft – dann spielt es überhaupt keine Rolle, ob ein Werk irgendwann unverkäuflich oder im Preis um ein Vielfaches gestiegen ist.

Peter Raue
Prof. Dr. Peter Raue wurde am 4. Februar 1941 in München geboren, wollte Schauspieler werden, studierte dann aber in Berlin Jura, Theaterwissenschaft und Philosophie. 1971 eröffnete er seine erste Kanzlei und spezialisierte sich früh auf Urheber-, Wettbewerbs- und Presserecht. Von 1977 bis 2008 leitete er den Verein der Freunde der Nationalgalerie. Raue ist Mitglied im RC Berlin-Kurfürstendamm.