Buch des Monats
Wellness-Reise mit Mark Twain
Literatur kann heilen, behauptet Rainer Moritz (RC Hamburg-Dammtor), Leiter des Literaturhauses Hamburg. Er erklärt, welche Texte welches Leid lindern. Und es sind nicht immer die stilistischen Meisterwerke, die helfen
Fragen Sie nicht Ihren Arzt oder Apotheker, lesen Sie ein Buch. Das empfiehlt Rainer Moritz, promovierter Germanist und Leiter des Literaturhauses Hamburg. „Bücher leisten Erste Hilfe“, behauptet Dr. Moritz und hat „Die Überlebensbibliothek“ aufgeschrieben. Auf 352 Seiten empfiehlt er ausgewählte Texte als Heilmittel gegen Welt- und Liebesschmerz, gegen Gier und Völlerei, gegen Burn-out und andere tatsächliche oder eingebildete Wehwehchen. Aber keine Bange, er versteht seine Vorschläge nicht „als von den Krankenkassen anerkannte Therapieform“. Moritz möchte „glückliche Momente ins Gedächtnis rufen“; Literatur vorstellen, „die in bestimmten Lebenslagen hilfreich werden könnte“.
Fühlen sich manche Menschen mitunter nicht so wie das hässliche Entlein in Christian Andersens Märchen? „Ich bin so hässlich, dass selbst der Hund mich nicht beißen mag“, jammert das Entlein und versucht dann doch, darin noch Positives zu entdecken und daraus Selbstbewusstsein zu schöpfen: Mein Aussehen ist mein Schutz. Und als das angebliche Entlein zu einem königlichen Schwan erwächst, wird es nicht übermütig. Es verliert nicht seine Demut, diagnostiziert Moritz. Zudem warnt das Märchen vor Vorurteilen und vorschnellen Urteilen, denn was zunächst wie ein hässliches Entlein erscheint, entpuppt sich ja als prächtiger Schwan.
Moritz’ Buch ist auch eine Reise durch die Literatur. Auf Theodor Fontanes „Stechlin“ geht er ebenso ein wie etwa auf Mark Twains „Tom Sawyer“ und Brigitte Kronauers „Verlangen nach Musik und Gebirge“. Befremdlich wirkt in einer „Überlebensbibliothek“ zunächst Goethes „Werther“, da dem Romanhelden im 18. Jahrhundert viele unsterblich Verliebte in den Freitod folgten. Aber Moritz will ja auf Werke hinweisen, die „verstören, verblüffen, verwirren oder bereichern“. Denn „Texte, die uns kaltlassen, bewegen uns nicht“, begründet er seine Auswahl. Und die zeugt von profundem Wissen.
Bevor Moritz 2005 die Leitung des Hamburger Literaturhauses übernahm, arbeitete er in mehreren Verlagen, zuletzt bei Hoffmann und Campe. Auch als Autor ungewöhnlicher Werke fiel der 57-Jährige auf. So beschrieb er schon „Die schönsten Buchhandlungen Europas“ oder ging auf „eine literarische Stellensuche: Wer hat den schlechtesten Sex?“.
Schwaigers Schocktherapie
Es sind nicht nur die Edelfedern, die bewegen und verstören. Wer immer wieder den gleichen Fehler begeht und von einer Abhängigkeit in die nächste stolpert, dem rät Moritz zu Brigitte Schwaigers Roman „Wie kommt das Salz in das Meer“. Für den Germanisten „kein Meilenstein der deutschsprachigen Literatur“, aber ein pointiertes Stück über eine junge Österreicherin, die nach Freiheit strebt, Freiheit von den Eltern, Freiheit vom Ehemann, und nach Auszug, Scheidung und Suizidversuch bilanziert: „Es geht mir gut. Andere Frauen haben keinen Küchenbalkon.“
Eine Erkenntnis, die schockiert. Vielleicht ein heilsamer Schock.
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