Titelthema
Leipzigs Botschaft

Der Neubau der katholischen Propsteikirche Leipzig ist eine architektonische wie christliche Spurensuche – und reagiert auf Strömungen der Zeit.
Seit Jahrhunderten waren Kirchenbauten stilbildend in der Architektur- und Kunstgeschichte. In Zeiten, in denen Kirchen geschlossen, aufgegeben und sogar abgerissen werden, ist diese Funktion eher in den Hintergrund getreten. Umso mehr war man vor wenigen Jahren in Leipzig in der Pflicht, bei der Gestaltung der neuen katholischen Propsteikirche an diese alte Tradition anzuknüpfen. Die Ausgangslage war ungewöhnlich: Ganz gegen den gesamtkirchlichen Trend sollte im Herzen dieser ostdeutschen Großstadt eine neue Kirche errichtet werden – und damit an einem Ort, an dem sich nur vier Prozent der Einwohner zum katholischen Glauben bekennen und insgesamt bloß knapp 20 Prozent überhaupt einer Religionsgemeinschaft angehören. Zudem war der Bauplatz kaum prominenter denkbar: Genau gegenüber dem Neuen Rathaus am innerstädtischen Ring gelegen, galt es, eine der letzten durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Baulücken in der Leipziger Innenstadt prominent mit einem sogenannten "Sonderbau" zu schließen.
Welche Botschaft sollte der Kirchenbau in dieser besonderen Situation zum Ausdruck bringen und sowohl für glaubende wie nicht glaubende Menschen erlebbar machen?
Da die Stadt Leipzig kein städtebaulich einheitliches Erscheinungsbild hat, sondern eher von einem Mix der verschiedenen Baustile der letzten Jahrhunderte lebt, gab es wenige Vorgaben, die aus der Umgebungsbebauung erwuchsen. Auch kann man meines Erachtens derzeit nicht von einer allseits eindeutigen Formensprache in der Architektur am beginnenden 21. Jahrhundert sprechen, die der Gestaltung von Bauwerken gewisse "Regeln" vorgeben würde, wie es zum Beispiel in der Gotik oder dem Barock üblich war. Wir befinden uns eher in einer Suchbewegung nach der zur Gegenwart passenden baulichen Ausdrucksweise. Die einzige wirkliche Vorgabe war, dass man als Kirche in der Stadt selbstbewusst, aber nicht dominant, geschweige denn "protzig" in Erscheinung treten wollte.
Der Entwurf der neuen Kirche, der aus einem Einladungswettbewerb mit 20 beteiligten nationalen und internationalen Architekturbüros als Sieger hervorging, nutzt diese wenigen bindenden und verbindlichen Vorgaben und buchstabiert einen Gedanken durch, der sich zentral in der christlichen Botschaft wiederfindet. Es gehört ja zu den Besonderheiten des Christentums, dass die zentralen Glaubensaussagen in einem Spannungsverhältnis des "Sowohl-als-auch" formuliert sind. Es wird der eine Gott bekannt, aber in drei Personen. Jesus Christus wird sowohl als (wahrer) Gott als auch als (wahrer) Mensch gefeiert. Und die Kirche versteht sich als sowohl heilig als auch sündig.
Die Architektur der neuen Propsteikirche in Leipzig greift dieses Grundprinzip auf. Ein paar Beispiele, nicht vollständig, aber illustrierend, seien an dieser Stelle erlaubt. Der postmodernen und in vielen Teilen der Welt erlebbaren Formensprache des Bauwerkes wird ergänzend das Mauerwerk aus Rochlitzer Porphyr hinzugefügt, einem regionalen Stein, der in der Baugeschichte der Stadt und Region eine lange Tradition hat. Es treffen damit sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit, sowohl eine weitverbreitete Ausdrucksform als auch die lokale Tradition aufeinander – und verschmelzen in dieser Differenz trotzdem zu einer Einheit.
Ein spannendes Sowohl-als-auch bildet ebenso der 22 Meter hohe Kubus des eigentlichen Kirchenbaus, der nach außen mit nur einem einzigen schaufensterähnlichen Kirchenfenster und dem verglasten Eingangsbereich in Erdgeschosshöhe sehr geschlossen wirkt. Die Architekten, die Brüder Ansgar und Benedikt Schulz, sprechen bei diesem Erscheinungsbild gern von einer "hermetischen Offenheit". Der Bau bietet mit seiner betonten Geschlossenheit in der doch eher hektischen, lauten und unruhigen Innenstadtlage schon optisch einen Ruheplatz an, einen Rückzugs-, vielleicht sogar Schutzraum, um durchzuatmen, Kraft zu schöpfen und abschalten zu können. Betritt man dann den Innenraum der Kirche, wird man überrascht von einem durch das große Oberlicht über der 14 Meter hohen Altarwand herrührenden lichtdurchfluteten Raum, der einlädt, sich berühren zu lassen von der wohltuenden Atmosphäre, diese in sich nachklingen zu lassen und sich zu öffnen für das Geheimnisvolle. Damit bringt die Architektur sowohl notwendige und hilfreiche Geschlossenheit als auch anregende und belebende Offenheit miteinander in Verbindung – ein Spannungsverhältnis, das der moderne Mensch für sich persönlich nahezu tagtäglich zu gestalten hat.
Der Neubau der Propsteikirche betont außerdem seine Einmaligkeit, indem er optisch einen markanten und unverwechselbaren Solitär darstellt, der auch städtebaulich – nicht zuletzt durch die Einbeziehung der Fußweggestaltung ringsherum – wie auf einer Art Insel gegenüber der Umgebungsbebauung steht. Zugleich spielt der Bau auch mit genau dieser Umgebungsbebauung, zum Beispiel indem der Kirchenturm auf der gleichen Höhe zum gegenüberliegenden Rathausturm steht und mit ihm zusammen für die Nutzer des Innenstadtrings wie eine Art "Tor" erlebbar ist. Damit betont der Neubau sowohl selbstbewusste Eigenständigkeit als auch die Beteiligung am gesamtstädtischen Erscheinungsbild. Auch das steht symbolisch für den aktuellen Anspruch der christlichen Glaubensgemeinschaft: das Spezifische bewahrend, gestaltend und lebend, aber nicht im Rückzug auf das Eigene, sondern als wichtiger Teil im stadt- und zivilgesellschaftlichen Kontext.
Ob der Neubau der katholischen Propsteikirche in Leipzig, der 2015 eingeweiht wurde, einmal architekturgeschichtlich als relevant betrachtet wird, bleibt sicher den späteren Generationen überlassen. Das Projekt war jedoch ein Versuch, in den heutigen Suchbewegungen sowohl der zeitgemäßen architektonischen Formensprache als auch im heutigen Erscheinungsbild des Christentums einen markanten Beitrag zu leisten.
Gregor Giele wurde 1966 in Dresden geboren und ist seit 1993 katholischer Priester. Von 2008 bis 2024 war er Pfarrer in Leipzig (seit 2015 Propst), seit 2024 ist er Pfarrer in Zwickau.