Über Richard Wagners Verständnis des Musiktheaters als Bühne für Theoriekonzepte
Musik ist höher denn alle Vernunft
Die sommerliche Festspielzeit hat begonnen. Die Bayreuther Wagner-Festspiele gelten trotz oder wegen aller Mythen, Krisen und Skandale, die sie umtosen, als Inbegriff der sommerlichen Musikfestspiele, die auch von vielen Rotariern gerne besucht werden. Kein zweiter Komponist polarisiert so wie Richard Wagner. Dabei wird in Debatten um Wagners Werk häufig die Einsicht verstellt, dass Wagner ein ambitioniertes Projekt verfolgte: Er verstand ausgerechnet das Musiktheater als Bühne für Theoriekonzepte.
Wagners Musik ist besser, als sie klingt – so lautet ein viel zitiertes, Mark Twain zugeschriebenes Bonmot. Es ist weniger kalauerhaft, als es seinerseits klingt. Denn der ebenso kluge wie nüchterne Mark Twain ahnt immerhin, dass Wagners romantische Opern und Musikdramen sich trotz all ihrer überwältigenden Suggestivität, gegen die sich viele aufgeklärte Köpfe geradezu instinktiv verwehren, nicht beim ersten Hören erschließen, weil sie auf buchstäblich unerhörte Einsichten verweisen. Wagners Werke sind starke Attacken auf die mentale, kognitive und intellektuelle Integrität ihrer Hörer. Doch sie sind keineswegs antiintellektuell: So viel Lust an theoretischen, theologischen, kulturanalytischen, ökonomischen, psychologischen und philosophischen Einsichten, wie sie in Wagners Werken zum Ausdruck kommt, ist in der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte (mit der halben Ausnahme der Zauberflöte und mit der Viertelausnahme der Libretti, die Hugo von Hofmannsthal für Richard Strauss schrieb) bis heute einzigartig. Wagner wird, wie schon Nietzsche feststellte, von seiner Theorie- und Philosophielust, wenn nicht Theoriesucht umgetrieben; unablässig und eindringlich will er etwas zeigen, beweisen, demonstrieren, vor Augen und Ohren führen.
Man muss sich den irritierenden Grundimpuls der Gesamtkunstwerke Richard Wagners vergegenwärtigen: Sie streben ernsthaft nach der Vermittlung von theorienahen Einsichten und Erkenntnissen, die sich aber gängigen Theorieformen entziehen. Wagners Musikdramen sind wundersame Erkenntnisdramen, weil sie ihre Theorielastigkeit in musikalischer Lust aufheben. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, lautet eine ebenso apodiktische wie pathetische Wendung Nietzsches, der sich zeitlebens von Wagners Werken faszinieren, aber auch irritieren ließ und schließlich vom klügsten Wagner-Bewunderer zum entschiedensten Wagner-Kritiker (nicht nur) seiner Zeit mutierte. Mit dieser hochambivalenten Reaktion auf Wagners Werk steht Nietzsche nicht allein. Die Reihe der Wagner-Bewunderer, die zugleich scharfe Wagner-Kritiker waren, ist lang. In diese Reihe gehören, um nur einige wenige zu nennen, Mark Twain und George Bernard Shaw, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, Thomas Mann und Marcel Proust, Luchino Visconti, Hans-Jürgen Syberberg, Manfred Frank, Alain Badiou und Slavoj Zizek. Die Schar der Wagnerianer, die den Meister kultisch verehren und jede Kritik an ihm als Sakrileg empfinden, ist nicht geringer. Sie ist abschreckend, gehören zu ihr doch neben liebenswert exotischen und exzentrischen Gestalten wie dem bayerischen König Ludwig II. auch wüste Antisemiten wie Houston Steward Chamberlain und kaltblütige Massenmörder wie Adolf Hitler. Es dürfte bis heute kein zweites künstlerisches Werk geben, das so sehr polarisiert wie das Richard Wagners. Gerade weil dies so ist, haben die ritualisierten Argumente für und gegen den (nach Thomas Manns viel zitierten Worten) „schnupfenden Gnom mit dem Bombentalent und dem schäbigen Charakter“ wenig Überraschendes zu bieten. Überfällig aber ist der Versuch, den Poeta doctus, den ambitionierten Theoretiker, den passionierten Debattierer Richard Wagner ernst zu nehmen, der auf Augenhöhe mit Philosophen wie Kant, Hegel, Feuerbach, Schopenhauer, Marx und Nietzsche – Musikdramen komponierte und dem es dabei gelang, noch das auszudrücken, worüber andere Ausdrucksformen nur schweigen können. „Wagner kann alles“, stellte Thomas Mann lakonisch fest. In seinem Brief an Marie von Sayn-Wittgenstein vom 28. Mai 1854 aus Zürich hat Wagner für diesen seinen Impuls eine glückliche Formel gefunden. Sprach er doch von einem „melodischen Gedanken“, der sein Werk und paradigmatisch den Ring des Nibelungen durchzieht. Man muss sich die Pointe dieser Formulierung vergegenwärtigen. Sie lässt die alte, aber nach wie vor gängige Suggestion hinter sich, Musik sei eine Gefühlsangelegenheit und Emotionsäußerung, die antithetisch zur Sphäre des Denkens und der Gedanken steht. Und sie artikuliert die weitreichende These, dass Töne, welche höher sind denn alle Vernunft, dennoch beziehungsweise gerade deshalb gedankenvoll sein können, und dass Gedanken, so sie denn gehaltvoll sein sollen, musische Qualitäten aufweisen müssen.
„Das Rheingold ist fertig. / Als ich es begann, stand ich noch ganz im Zauber der Erinnerung an unsere Pariser Fahrt: alle Martern des Daseins haben sich bis heute wieder um das Vorrecht auf meine Empfindungen gestritten ... / Es gibt einen recht traurigen Zug, der durch meine Musica geht: ,Nur wer der Minne Macht versagt‘, heißen die Worte der schauerlich tiefen, oft herzzerreißenden Klage; derselbe melodische Gedanke bildet sich aber auch zu dem ,Weibes Wonne und Wert‘ um; er half mir, dem armen Fasolt eine rührende Verklärung zu geben ... Lächeln Sie mir, liebes Kind, zum Lohn meiner Mühe.“ Um das „Vorrecht auf (Wagners) Empfindungen“ streiten sich, seiner hellsichtigen Selbstdiagnose zufolge, „alle Martern des Daseins“. Richard Wagner ist und erfährt sich selbst als ein Besessener. Obsessiv kreisen seine romantischen Opern, Musikdramen, Essays und Abhandlungen eben nicht nur um Stimmungen, Emotionen und Affekte, sondern auch um „melodische Gedanken“ und um Denkbilder, die sein Werk leitmotivisch grundieren. Was hat es mit Familienbanden auf sich; warum sind Menschen erlösungsbedürftig; sind Götter gar noch mehr auf Erlösung angewiesen als Menschen; was verbindet ökonomische Erlöse mit religiösen Erlösungsversprechen, was Schulden mit Schuld; ist Endlichkeit und Sterblichkeit eine Zumutung oder ein Geschenk; kann, soll, muss jemand ein anderer werden und sein; wann sind Führergestalten Heils- und wann sind sie Unheilbringer; (wie) passt Heterosexualität zu Männerbünden; (wie) kann man frühe Traumatisierungen überwinden; muss man zugrundegehen, wenn man letzte Gründe erschließen will; warum ist Inzest ein ästhetisch unwiderstehliches Motiv; kann und soll man der Entsagung entsagen? Fragen wie diese treiben Wagners Werke immer erneut und stets in obsessiver Weise um. Sie durchziehen leitmotivisch nicht nur je eines seiner Werke, sondern sein Werk insgesamt. Auffallend ist dabei, dass die Subtilität seiner Kompositionen ungleich größer ist als die Komplexität seiner Essayistik – Letztere ist ein klassischer Fall von (interessanter, aufschlussreicher!) Selbstunterbietung.
Konstellationen der Moderne
Im Mittelpunkt von Wagners Werk, im exzentrischen Zentrum „(s)einer musica“ und seiner „melodischen Gedanken“ steht, nein: kreist die Einsicht, dass Erotik, Theologie und Ökonomie in der Moderne eine eigentümlich dreieinige Konstellation bilden, die ausdifferenzierten wissenschaftlichen Diskursen wie der Psychologie, der Theologie und der Ökonomie intransparent bleiben muss, die sich aber musikdramatisch erschließen lässt. Wagner bringt die tradierten Konstellationen von Werten und Wonnen, Weibern und Männern, Göttern und Menschen, Gründen und Abgründen, Minne und Musik zum Erklingen und zum Tanzen. Wagner selbst hat im zitierten Brief den Kern seiner musiktheatralischen Theorie benannt: Ihr geht es um „Weibes Wonne und Wert“. „Nichts ist so reich, / als Ersatz zu muten dem Mann / für Weibes Wonne und Wert!“ Diese dichten Worte erklingen in Wagners Musikdrama Rheingold aus dem Mund eines Gottes, dessen Name bereits zu erkennen gibt, dass er der klügeren Götter einer ist: Loge. Der dem Logos und dem logischen Denken verschriebene Gott stellt nicht weniger als eine weitreichende, wenn nicht allumfassende These auf, die stark genug ist, eine ganze Theorie in sich zu bergen, deren Entfaltung lohnt. Und die lautet: „Weibes Wonne und Wert“ haben nicht ihresgleichen. Für sie gibt es keinen Ersatz, kein Äquivalent. „Weibes Wonne“ ist ein Wert dies- und jenseits aller Werte, buchstäblich ein absoluter, von allen Vergleichskontexten ab-solvierter, los-gelöster Wert. Weibes Wonne erlöst Männer von all ihrer Fixierung auf Erlöse, auf Werte wie Reichtum, Prestige oder Macht. Weibes Wonne und Wert erlösen von der Logik des Erlöses und der Werte, die Ersatz für anderes sein könnte. Weibes Wonne ist kein Wert wie andere, sondern der Wert an sich. Weibes Wonne meint die spezifische Lust, die Frauen (anders als Männer) erfahren, und die Wonne, die sie Männern gewähren; Weibes Wert meint den intrinsischen wie den in jedem Wortsinne objektiven Wert, der Frauen zu Objekten für andere macht. Wagner gelingt es nicht nur hier, in einer Formel - „Weibes Wonne und Wert“ – ein Problemparadox zu verdichten, das der Analyse wert ist: auch absolut gesetzte Werte sind relative Werte. Mit der dichten Alliterationsformel „Weibes Wonne und Wert“ ist nicht nur Wagners musikdramatische Kunst, sondern die Oper überhaupt im exzentrischen Zentrum ihrer Stärke angekommen. Denn das, was Loge da verkündet, ist der heiße Kern der spezifisch musischen und opernhaften Vernunft bzw. Unvernunft bzw. Vernunftkritik. Dieser Glutkern macht die Musik und die Oper zumal für viele so unwiderstehlich und faszinierend. Musik beschert Wonne – aber sie beschert eben auch und zumal dann, wenn sie mit Wagner zum Musikdrama wird, Einsichten, welche höher sind denn alle konventionelle, sei’s gesunde Alltags-, sei’s wissenschaftliche, sei’s theologische Vernunft.
Der Text geht zurück auf das vor kurzem erschienene Buch von Jochen Hörisch und Klaus Arp „Weibes Wonne und Wert. Richard Wagners Theorie-Theater“, Die Andere Bibliothek, Berlin 2015.