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Buch der Woche

«Pulverfass Pakistan»

Jörg Mittelsten Scheid fördert es mit seinem Buch einmal mehr zutage: Pakistan ist derzeit eines der gefährlichsten Länder der Welt. 2014 ziehen die Nato-Truppen aus der Region ab. Was bedeutet das für unseren globalen Frieden? Der Autor gibt Antworten.

27.09.2013

9. Oktober 2012

Maulana Fazul, einer der gefürchtetsten Führer der sogenannten pakistanischen Taliban, setzt zwei Killer auf ihr nächstes Ziel an. Noch am selben Tag wird die erst 14-jährige Mala Yousafzai auf dem Heimweg ausgesondert und niedergeschossen, weil sie sich – wie ein Talibansprecher erklärt – öffentlich wiederholt für ein Recht von Mädchen auf (westliche) Erziehung ausgesprochen hatte. Das aber ist für die radikalen Taliban ein Verbrechen gegen ihre verzerrte Auffassung der Scharia, des islamischen Rechts.

27. August 2012

Aus Afghanistan berichtet The Telegraph (World), dass in der nördlichen Provinz Hellmand 17 Gäste einer fröhlichen Tanzparty von Taliban überfallen, geschlagen und enthauptet wurden. Musik und Tanz gilt bei den fanatischen Gotteskriegern als Verbrechen.

Etwa zur gleichen Zeit könnte sich eine Truppe junger Männer im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan auf ihr Ausbildungslager zubewegen. Es sind durchweg Ausländer aus Asien, dem Mittleren Osten oder Europa – auch aus Deutschland. Sie wollen sich in terroristischen Fertigkeiten für einen asymmetrischen Krieg gegen den Westen ausbilden lassen. Dazu gehören die Herstellung von Bomben und der Gebrauch von Waffen etc. Doch sie erhalten nicht nur darin Unterricht: Mullahs schwören sie begeistert auf den Heiligen Krieg ein. Das Geld für diese Lager stammt, wie die fanatischen Mullahs, aus Saudi-Arabien, soweit es nicht aus dem schwungvollen Drogenhandel stammt, den die Taliban seit 2001 betreiben. Nach der Ausbildung werden viele in ihre Heimatländer zurückreisen, um dort aktiv neue Anhänger zu gewinnen, Anschläge zu planen oder als Schläfer auf ihren Einsatz zu warten.

Soweit es sich um Ausländer handelt und nicht um pakistanische oder afghanische Freiheitskämpfer, ist der pakistanische Geheimdienst zeitweise bereit, mit ausländischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. Aus dieser Quelle erhalten auch die deutschen Behörden gelegentlich Hinweise. Nach Angaben des baden-württembergischen Verfassungsschutzes leben 3000 bis 5000 Salafisten (fundamentalistische Muslime) in Deutschland. Davon allein etwa 1000 in Nordrhein Westfalen.

Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz schätzt, dass etwa 100 von ihnen gewaltbereit sind.

Wie kam es zu dieser antiwestlichen Hassentwicklung?
Seit die Sowjets 1979 Afghanistan besetzten, regte sich Widerstand gegen die »ungläubigen« Besatzer. Freiheitskämpfer gegen die sowjetische Besatzung, die sich Mudschahedin nannten, wurden vielfach in Pakistan mit amerikanischer und saudi-arabischer finanzieller Unterstützung ausgebildet.

Besonders der amerikanische Geheimdienst CIA arbeitet eng mit dem pakistanischen Inlandsgeheimdienst ISI zusammen. Unter ihrer Mitwirkung wurden militante religiöse Organisationen wie die Taliban, und unter anderem auch Al Kaida, gegründet. Nach zehn Jahren – 1989 – verließen die Sowjets das Land. Stammeskriege flackerten in Afghanistan auf zwischen den Stämmen im Norden und den Taliban im Süden, die sich meist aus Paschtunen rekrutieren, die beiderseits der afghanisch-pakistanischen Grenze wohnen. Pakistan war daran interessiert, die Politik Afghanistans mithilfe der Taliban zu beeinflussen und unterstützte deren Kampf gegen die Nordallianz mit bis zu 28.000 Mann starken regulären Truppen, was allerdings in Pakistan bestritten wird. Da Indien gute Beziehungen zur Nordallianz unterhielt, fürchteten die pakistanischen Machthaber, dass Indien bei einem Obsiegen der Nordallianz Einfluss auf das politische Geschehen in Afghanistan gewinnen könnte und Pakistan sich plötzlich von indischen Truppen umzingelt gesehen hätte. Es gelang allerdings nicht, die nördlichen Stämme in ihren Gebieten zu besiegen.

Die Freiheitskriege entwickelten mehr und mehr fundamentalistische, terroristische Tendenzen. Rasch vertrieben die Taliban die sich bekämpfenden Mudschahedin-Gruppen und setzten mit Härte und Grausamkeit ihre Auffassung von der Scharia durch. Unter ihrem Führer Mullah Omar entstand ein rigides, fundamentalistisches System nach dem reaktionären wahhabitischen Vorbild Saudi-Arabiens.

Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 entschlossen sich die Amerikaner, zusammen mit Truppen der Nato in Afghanistan einzumarschieren und gegen Terroristen der Al Kaida und ihre Ausbildungslager vorzugehen. Die westlichen Kampftruppen waren aber in den Augen der dort lebenden Muslime ebenfalls Ungläubige, und so begann ein neuer Befreiungsfeldzug. Die militanten »Freiheitskämpfer« nannten sich nun Taliban (von Talib = Schüler) und wurden, wie zuvor auch in Pakistan, durch den pakistanischen Geheimdienst und mit Geld aus Saudi-Arabien ausgebildet und mit Waffen und Rückzugsgebieten versorgt. Der hier von den Mullahs, den muslimischen Geistlichen, gelehrte Islam ist rückwärtsgewandt und auf die Zustände zu Lebzeiten des Propheten ausgerichtet. Dazu gehören die drastische Unterdrückung der Frauen (weit über das hin- ausgehend, was Mohammed vorgesehen hatte, dessen Lehre in dieser Hinsicht eher fortschrittlich war), ferner Auspeitschungen, das Abhacken von Händen als Strafe für Diebstahl oder das Steinigen von Ehebrechern. Aber vor allem richteten sie sich gegen den Westen und den schädlichen Einfluss, den dieser angeblich auf den gegenwärtigen Islam ausübt.

Damit wandten sich die Kampfhandlungen nicht mehr nur gegen die »ungläubigen« Besetzer Afghanistans, sondern gegen den Westen überhaupt. Anschläge im Westen, das heißt in den USA und Europa, und das Töten von »Ungläubigen« wurden als verdienstvolles Ziel aus- gerufen. Der Terrorismus wurde international und betrifft auch uns in Europa.

Laut FAZ vom 19. Juli 2012 berichtete die britische Regierung, dass jeder zweite in Großbritannien aufgedeckte Anschlagsversuch in Pakistan ausgeheckt oder mit pakistanischer Hilfe geplant worden sei. Schon 2009 hatte Al Kaida ein Video veröffentlicht, dessen Drohung sich ausdrücklich an Deutschland richtete. Auch wir sind daher in un- serem Land durch diesen Terrorismus bedroht. Am 25. Februar 2013 wurden in Berlin ein Deutscher und ein Österreicher zu langen Haftstrafen verurteilt. Beide haben sich in Pakistan in einem Al-Kaida-Ausbildungslager kennengelernt und sollen sich in Europa für Anschläge bereitgehalten haben.

Bedenkt man, dass in Pakistan Atomwaffen lagern, ist das Land tat- sächlich der bedrohlichste Gefahrenherd der gegenwärtigen Welt. Während die westliche Öffentlichkeit mit Sorge das Heranreifen Irans zur Atommacht beobachtet, wird oft vergessen, dass Pakistan schon heute über Atomwaffen verfügt. Nach Schätzungen amerikanischer Wissenschaftler wird der Bestand an Atomwaffen heute auf etwa 2000 Stück geschätzt. Zwar sind die pakistanischen Atomwaffen extrem gesichert; 1000 Elitesoldaten sind zu ihrer Bewachung abgestellt. Die Waffen selber sind in Einzelteile zerlegt, die an getrennten Orten aufbewahrt werden. Nicht zuletzt sind mit amerikanischer Hilfe alle technischen Schutzvorrichtungen modernisiert worden. Dennoch ist diese Sicherheit relativ. Sympathisanten, die als Schläfer in die Bewachungssysteme eingeschleust werden oder fanatisierte Massen, die gleichzeitig mehrere Anlagen angreifen, könnten die Sicherheitssysteme überwinden und nukleare Waffen könnten so in die Hände von Al Kaida oder den Taliban gelangen – ein Alptraum für uns alle!

Amerikanische Wissenschaftler schätzen neben dem Bestand an Atomwaffen einen beträchtlichen Vorrat an Raketen mit Reichweiten bis zu 3000 Kilometern (Hatf-IV-Shaheen-1A) und Marschflugkörpern (Babur und RA’AD). Es ist daher berechtigt, die Frage zu stellen, wie stabil das politische System ist, wie zuverlässig die Armee und wie explosiv die Zukunft sein könnte.

Quelle: Jörg Mittelsten Scheid: Pulverfass Pakistan. Eine Gefahr für den globalen Frieden? Nicolaische Verlagsbuchhhandlung, Berlin 2013. 168 Seiten, 22,95 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 12 bis 15.

Auf Fußnoten, die im Original angegeben werden, wird bei dieser Online-Ansicht verzichtet.