Titelthema
Riesling – eine Rebe erfindet sich neu
Spricht man über deutschen Weißwein, ist das Thema Riesling nicht fern. Die Nummer eins unter unseren Rebsorten gilt auch international als deutsches Aushängeschild. Doch wo steht der traditionsreiche Klassiker heute tatsächlich?
Viele Wanderer, die die Weinberge des schönen Wonnegaus besucht haben, sind an ihm vorbeispaziert. Ein trutziger Turm aus Naturstein, errichtet am Kamm eines gut 30 Grad geneigten Weinbergs. Aber nur wenige wissen, was es damit auf sich hat.
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Die Gedenktafel gibt einen Hinweis, aber sie enthüllt nicht dessen tiefere Bedeutung: "Im Zauber großer Hubacker-Weine vereinen sich ihre Rieslingreben von der Mosel mit der urwüchsigen Kraft des Hubacker-Felsens." Es ist eine Erinnerung an Hedwig Keller, die früh verstorbene Mutter des Winzers Klaus-Peter Keller im nahen Flörsheim-Dalsheim. Und zugleich ist es ein Ort, der wie kein zweiter in Deutschland für das sogenannte deutsche Weinwunder und die Renaissance des deutschen Rieslings steht.
Frankreich als Vorbild
Dass der deutsche Wein – und mit ihm der Riesling − schon einmal nahe dem Abgrund stand, daran erinnern sich heute nur noch wenige. Und kaum jemand weiß noch, dass deutsche Spitzenweine vor 120 Jahren gleichberechtigt mit Bordeaux-Weinen und Burgundern auf den Weinkarten der Welt standen. Doch durch falsche Weichenstellungen, an deren Ende das fatale deutsche Weingesetz von 1971 stand, gelangte der deutsche Weinbau um 1985 an einen historischen Tiefststand. Damals band man die Qualität des Weines an den Zuckergehalt und nicht an Rebsorten und Herkunft. Einige verbliebene Qualitätswinzer leiteten schließlich die Wende ein. Der traditionsreiche Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) organisierte sich neu und beschloss 1994 die Klassifikation der deutschen Weinbergslagen nach französischem Vorbild. Ein Modell, das dann 2021 vorbildlich für das neue deutsche Weingesetz werden sollte.
Bei den Winzern im Wonnegau hatte diese Mentalität schon lange Fuß gefasst. Auch Klaus-Peter Keller schätzt die Impulse, die aus dem Nachbarland kommen. Aber es war das Erbe seiner von der Saar stammenden Mutter, die von dort alte, aus Feldselektion gewonnene Rebstöcke nach Dalsheim mitgebracht und 1978 im Hubacker angepflanzt hatte, das den wohl entscheidenden Impuls zu einer der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten im deutschen Weinbau geliefert hat. Heute ist Klaus-Peter Keller die wohl leibhaftigste Verkörperung des deutschen Weinwunders – nicht nur durch seinen Aufstieg aus dem einstmals unbedeutenden rheinhessischen Hinterland in die erste deutsche Winzerliga, sondern auch durch die stellaren Preise seiner Weine. Sein Großes Gewächs aus dem Oberen Hubacker ist auch international ein begehrtes Sammlerstück.
China und Rumänien lieben den Riesling
Von Flörsheim-Dalsheim in den Baden-Badener Ortsteil Varnhalt sind es nur knapp 130 Kilometer, dennoch liegen die Weingüter von Klaus-Peter Keller und Sven Nieger in unterschiedlichen Weingalaxien. Nieger hat 2012 seinen ersten Wein gemacht und im Jahr darauf sein Weingut gegründet. Die Kämpfe des VDP für das Große Gewächs waren nicht die seinen. Seine Generation ist geprägt vom Widerwillen gegen Konformität und den Druck der Konventionen. Weil Winzer wie er sich nicht den Kriterien der amtlichen Qualitätsweinprüfung unterwerfen wollen, füllen sie ihre Weine als einfache Landweine ab – eine Kategorie, unter deren Banner sie sich heute als "Landweinbewegung" versammeln. Niegers Rieslinge tragen Namen wie Underdog, Unbezähmt oder Unbestechlich. Sein "UFO" ist ein Unfiltered Orange Wine, ein Riesling, der für 24 Tage auf der Maische vergoren und danach ungeschönt und unfiltriert abgefüllt wurde. "Untypisch badisch" sollen seine Weine sein, meint der Winzer. Faszinierende Rieslinge sind sie vielleicht gerade deswegen.
Doch Riesling gehört nicht nur nach Deutschland. Sein Ursprung lag zwar im deutschsprachigen Kulturraum, und so brilliert die Rebe neben Deutschland traditionell im Elsass und in Österreich. Aber heute finden Weinfreunde die Rebe in der ganzen Welt. Mit wachsendem Erfolg: Noch 2006 wuchsen in Deutschland 61 Prozent des Rieslings weltweit, 2022 waren es nur noch gut 40 Prozent. Und das trotz eines Wachstums hierzulande in den letzten acht Jahren um gut 13 Prozent. Aber Länder wie China und Rumänien umarmen derzeit geradezu die Rebsorte. Und dann ist da noch Australien: Vielleicht nirgendwo außerhalb Mitteleuropas entstammen Spitzen-Rieslinge ähnlicher Größe – aber kein anderes Land verbindet auch eine ungewöhnlichere Geschichte mit dem Riesling.
Deutsch-polnischer Weinbau in Australien
Der "Polish Hill" vom Weingut Grosset stammt aus dem Clare Valley in Südwestaustralien. Die Region gilt als "Cool Climate"-Zone. Wegen der Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht haben die Trauben eine lange Vegetationsphase, ideal für spät reifende Weißweine. Deshalb hatte Winzer Jeffrey Grosset 1996 auf gut 470 Meter Höhe einen acht Hektar großen Weinberg auf sogenanntem Hartgestein mit Riesling bepflanzt. Er war am "Polish Hill" freilich nicht der Erste, der das tat. Tatsächlich finden sich in der Region viele Spuren polnischer Einwanderer aus dem damaligen Westpreußen östlich der Oder. Sie hatten Rieslingreben in ihrem Gepäck – tatsächlich war die Region um Grünberg (Zielona Góra) im 19. Jahrhundert ein bedeutendes Weinbauzentrum. Bei der Bestockung des "Polish Hill" griff Grosset neben zwei modernen deutschen Klonen auch auf lokales Pflanzenmaterial zurück, das auf die Rebstöcke aus dem 19. Jahrhundert zurückgeht. Heute ist der Wein aus dieser Lage international einer der renommiertesten Rieslingweine überhaupt. Aber kaum jemand weiß, dass sich hinter ihm ein mittlerweile fast vergessenes Kapitel deutsch-polnischen Weinbaus verbirgt.
In vielen Weinbauregionen dieser Welt verdanken sich mit Riesling bepflanzte Weinberge Auswanderern aus dem deutschen Kulturraum im 19. und 20. Jahrhundert. In Washington State, im Nordwesten der USA, waren es deutsche Winzer der Weinwunderjahre nach 1990, die aus lokalen Anfängen einen regelrechten Rieslingboom auslösen halfen. Den vielleicht kultigsten Rieslingwein weltweit erschuf dann aber der ehemalige Rockband-Manager Charles Smith. Der hatte 1999 begonnen, in Washington State hochwertige rebsortenreine Rotweine zu produzieren. Im Anschluss an einen Filmabend mit asiatischen Martial-Arts-Filmen kam ihm die Idee zu einem "Knock-out-Riesling", der zu asiatischen Gerichten passen sollte. 2006 kam der erste Kung-Fu-GirlRiesling auf den Markt – sofort ein enormer Erfolg. Heute kann man den Wein auch in Deutschland kaufen, und er überzeugt auch eingefleischte Riesling-Traditionalisten. Sicherlich nicht mit einem deutschen Großen Gewächs zu vergleichen – aber eben auch um einiges cooler.
Buchtipp
Stefan Pegatzky
Champagner. Die 100 wichtigsten Maisons, Winzer und Kooperativen
Tre Torri Verlag 2021,
240 Seiten, 69,90 Euro
Stefan Pegatzky ist 2014 aus dem Verlagswesen in den Weinjournalismus gewechselt. Heute schreibt er vor allem über Fine Wine und Champagner, aber auch über die wirtschaftlichen Aspekte der Branche.