Titelthema
Ein Haus des Himmels auf der Erde
Menschliche Schönheit im Zeichen göttlicher Schöpfung: Notre-Dame de Paris ist mithilfe künstlicher Intelligenz als analoges Bauwerk renoviert worden, das der Transzendenz Raum gibt.
7. Tag:
Gott vollendete das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte.
Bei der spektakulären Eröffnung der Olympischen Spiele am 26. Juli 2024 stand sie im Schatten. Der Eiffelturm sollte das Wahrzeichen von Paris sein, obgleich er als Symbol des Fortschritts schon in die Jahre gekommen ist. Das schwebende Feuer am Fesselballon in den Tuilerien zog die Blicke auf sich, auch wenn es eine virtuelle Installation war. Die Eröffnungsshow machte die Passerelle Debilly zum Laufsteg für Luxus- und Queer-Mode, bevor sie zur Bühne für ein Bacchanal der Götter wurde, auch wenn manche eine Parodie des Letzten Abendmahls zu erkennen meinten und sich über eine vermeintliche Blasphemie aufregen mussten.
Notre-Dame blieb im Hintergrund. Man sah die Kirche als Schatten bei der Vorbeifahrt der Schiffe mit den Athletiknationen und beim faszinierenden Lauf des künstlichen Pferdes auf der Seine, das die einen an Jeanne d’Arc, die anderen an den ersten der apokalyptischen Reiter erinnerte. Man sah ein kurzes Video der Renovierungsarbeiten. Aber zur Kulisse der Olympischen Spiele wurde die Kathedrale nicht. Aus Missachtung? Eher aus Respekt. Wer sich in Frankreich und Paris auskennt, weiß, wo das Herz der Stadt und des ganzen Landes schlägt: hier, inmitten der Île de France, hoch auf der Île de la Cité.
Ein Zeichen der Hoffnung
Entsprechend groß war das Entsetzen, als am Abend des 15. April 2019 ein Feuer im Dachstuhl ausbrach, das erst am Folgetag gelöscht werden konnte. Von zahlreichen Kameras eingefangen, sah man auf der ganzen Welt die Flammen hoch zum Himmel schlagen. Man sah, wie der hölzerne Vierungsturm einstürzte. Man sah, wie das Gewölbe des Kirchenschiffs an zwei Stellen einbrach. Man ahnte, welch immense Schäden im Inneren des Gotteshauses eingetreten waren, auch wenn Menschen unter Lebensgefahr viele Schätze geborgen hatten.
Der Großbrand von Notre-Dame war für nicht wenige ein Menetekel des christlichen Abendlandes. Man sah aber auch, dass die beiden Türme der Westfassade stehen blieben – ein Zeichen der Hoffnung. Man hörte am folgenden Tag den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, dass umgehend an den Wiederaufbau des Nationalheiligtums zu gehen sei, das seit 1905 im Staatsbesitz ist.
Bis zum letzten Tag
Am 8. Dezember 2024, zu Mariä Empfängnis, soll die Kathedrale feierlich wiedereröffnet werden. Ein Streit über den kleinkarierten Vorschlag des Kultusministeriums, künftig ein Eintrittsgeld zu erheben, darf die Aufmerksamkeit nicht von der Größe des Vorgangs ablenken. Eine Renovierung, die Respekt vor dem Alten mit dem Einsatz neuester Technik verbindet, wird abgeschlossen sein. Der rekonstruierte Bau wird ein Bekenntnis zur Tradition sein, die auflebt. Die Kathedrale wird wieder ein Gotteshaus werden, das Pilger wie Touristen anzieht. Von Fassadenkletterern bis zu Heizungselektronikern, von Zimmerleuten und Dachdeckern bis zu Architekten und Kunstgeschichtlern, von Theologen bis zu Ingenieuren: Es wird ein Gesamtkunstwerk neu erstehen, mit Hammer und Bohrer ebenso wie mit Laptop und digitalen Vermessungsgeräten, mit dem Studium alter Pläne ebenso wie mit simulierten Projektskizzen, mit harter körperlicher Arbeit ebenso wie mit künstlicher Intelligenz.
Noch größer als die Renovierungsleistungen der Gegenwart sind die Konstruktionen der Vergangenheit. Die Dimensionen des Baus sind überwältigend. Genauer: Sie zeigen, wie groß ein kleines Menschenkind sein kann, wenn es sich von Gott die Welt zeigen lässt. Sie verbinden Himmel und Erde. Sie zeigen, was Harmonie ist, die nicht eintönig klingt, sondern symphonisch, und was ein Rhythmus gelingenden Lebens ist, der in Stein gehauen und mit Geist erfüllt wird. Vom angeblich dunklen Mittelalter findet sich keine Spur. Im Gegenteil: Die Kathedrale war immer ein liturgischer Ort, immer ein spiritueller Raum, immer ein Haus des Himmels auf der Erde und gleichzeitig ein Meisterwerk der Technik, ein Tempel der Handwerkskunst, ein Denkmal der menschlichen Schöpferkraft, die auf den Schöpfer aller Welten verweist: auf Gott.
Das Urbild aller mittelalterlichen Kathedralen ist das himmlische Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes, auch in Paris. Am Ende aller Tage, so der Seher von Patmos, wird die Stadt des Himmels auf die Erde niederkommen und die ganze Welt erfüllen. Sie wird ein neues Paradies in ihren Mauern bergen – eines, aus dem niemand mehr vertrieben wird, eines vielmehr, das aus aller Welt die Völker anzieht, sodass sie ihre Schätze vor Gott tragen können. Solange die Zeit währt, braucht es Orte, die den Horizont dieser Hoffnung öffnen und den Glauben begründen, es gäbe schon hier und jetzt die Glücksmomente, in denen das Leben gelingen kann: im Einklang mit der Schöpfung, in der Vorfreude auf die Erlösung, im Rhythmus der Zeit, den die Liturgie vermisst, mit Alltag und Sonntag, Morgen, Mittag, Abend und Nacht – und immer einem neuen Morgen, bis zu jenem, der keinen Abend mehr kennt. Notre-Dame ist ein solcher Ort: mitten in Paris, mitten in einer Metropole, mitten in einem Strom. Die Kathedrale ist nicht nur ein Tourismus-Magnet; sie ist auch Ruhepol und Bildungsoase, Heiligtum und Sozialstation.
Für die mittelterliche Theologie, die sich im Kathedralbau ausdrückt, und für die mittelalterliche Architektur, die theologisch durchdrungen ist, gibt es einen starken Schöpfungsglauben, der von der jüdisch-christlichen Weisheit erfüllt ist: „Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“, so heißt es im biblischen Buch der Weisheit, das die Tradition Salomo zuschreibt (Weish 11, 20). Das Bekenntnis gilt Gott. Die Überzeugung, dass die Welt nicht Chaos, sondern Kosmos ist, verbindet die Theologie seit alters mit der Philosophie und allen anderen Wissenschaften. Ohne diese Überzeugung gäbe es keine reflektierte Erfahrung, keine gute Orientierung, keine vernünftige Planung. Der Gottesglaube, der ein Gotteshaus aus Steinen errichtet, weiß, dass dieser Tempel aus und mit lebendigen Menschen errichtet wird, sonst wäre die schönste Kathedrale nur ein Denkmal und schnell eine Ruine.
Ein Segen für die Menschen
Der Wiederaufbau der zerstörten Kirche Notre-Dame de Paris entspricht nicht nur dem kulturpolitischen Interesse Frankreichs, ein Symbol nicht zerstört, sondern neu erstrahlen zu lassen; es entspricht auch dem theologischen Grundverständnis, dass die Kirche, wie der Apostel Paulus erklärt hat, stets im Bau ist, nie fertig, aber immer lebendig, solange es Glauben gibt. Diese Koinzidenz von Kultur und Religion ist ein Segen für die Stadt Paris, ein Segen für Frankreich und Europa, ein Segen vor allem für die Menschen, die wieder die Schönheit der Kathedrale bewundern dürfen: menschliche Schönheit im Zeichen göttlicher Schöpfung.
Das war nicht immer so. Auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution wurde Notre Dame gestürmt und geplündert. Die Marienkirche sollte zum „Tempel des höchsten Wesens“ erklärt werden, zum Sanktuarium antireligiöser Vernunft. Das Gebäude wurde zum Weindepot – ohne die bittere Pointe eines dialektischen Bezuges zur Eucharistie, die dort täglich gefeiert wurde und nach dem Ende der zerstörerischen Wirren auch wieder gefeiert werden sollte.
In der brachialen Kirchenkritik damals drückte sich nicht nur die gelenkte Wut des Volkes auf die korrupten Kirchenvertreter aus, die das Ancien Régime stützten. Es spitzte sich auch ein materialistisches Weltbild zu, das scheinbar im Einklang mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Neuzeit stand. Dachte Isaac Newton (1643–1727) noch, mit seiner Suche nach physikalischen Gesetzen dem Bauplan des Schöpfergottes auf die Spur zu kommen, behauptete Baron d’Holbach (1723–1789), den Glauben an Gott wissenschaftlich widerlegt zu haben. Dass der Physiker Pierre-Simon Laplace (1749–1827) dem verdutzten Napoleon erklärte, in seinem Weltmodell auf die „Hypothese Gott“ verzichten zu können, mutet demgegenüber schon wie der säkularisierte Umschlag der scholastischen Wissenschaftstheorie an, dass irdische Zweitursachen nicht direkt aus göttlichen Erstursachen abgeleitet werden können.
Wunder der Schöpfung
Das mechanistische Weltbild, das lange Zeit herrschte, ist für die Theologie schwierig, die mit der Menschwerdung Gottes und der Auferweckung des Gekreuzigten rechnet, mit Gebeten und Segen, mit Gnade und Erlösung. Leider Gottes sind einerseits fundamentalistische Stellungskriege an der Tagesordnung gewesen und andererseits verzagte Rückzugsgefechte, den Bereich dessen, was die Gotteswissenschaft bedenkt, ins Innerliche zu verlegen – wo freilich längst die Psychologie die Abgründe des Menschen erforscht hatte. Nur wirklich große Theologie hat sich dieser Logik entzogen: wie die Musik, wie die Kunst, wie die Literatur und Malerei.
Im Vergleich dazu schafft die digitale Revolution den Freiraum, Dimensionen der Wirklichkeit zu erkennen, die jenseits der analogen Kausalketten liegen. Digitalität ist kein Gottesbeweis. Aber wenn es nicht nur eine analoge, sondern auch eine virtuelle Realität gibt – warum dann nicht auch eine transzendente? Wenn Menschen selbststeuernde Systeme ersinnen können, ohne die Verantwortung für sie abgeben zu können, warum dann nicht Gott?
Notre-Dame ist mithilfe künstlicher Intelligenz als analoges Bauwerk renoviert worden, das der Transzendenz Raum gibt. Sie bietet Menschen, die Legenden im QR-Code lesen und den Leib des Herrn empfangen können, eine Heimat auf Zeit. Die Kathedrale im Herzen von Frankreich zeigt den Kosmos so, wie der Glaube ihn sieht. Sie ist ein Wunder der Schöpfung.
Buchtipp
Thomas Söding
Gottesreich und Menschenmacht
Herder 2024,
640 Seiten, 54 Euro
Thomas Söding ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum. Er war von 2004 bis 2014 Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission im Vatikan und ist u. a. Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
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