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Titelthema

Mehr aus weniger machen

Titelthema - Mehr aus weniger machen
Erschüttert durch eigene Schwächen: Haben die Kirchen noch die Kraft, die Schönheit ihres Glaubens zeitgemäß zu vermitteln? © Cathrin Bach

Warum und wie sich die Kirchen in Deutschland von innen heraus neu erfinden müssen. Zukunftszenarien von Thomas Söding

Thomas Söding 01.06.2019

Die Kirche wächst – weltweit gesehen, evangelisch wie katholisch. Anders in Deutschland und in weiten Teilen Europas: Hier schrumpfen die Kirchen, die evangelische wie die katholische, und zwar erheblich. 2060, so die aktuelle Prognose des Freiburger Finanz- und Politikwissenschaftlers Bernd Rüffelhüschen, wird nicht mehr, wie jetzt, die gute Hälfte, sondern nur noch ein knappes Drittel der Deutschen der katholischen oder der evangelischen Kirche angehören. Die Mitgliedszahlen werden sich hier wie dort in etwa halbieren. Die Orthodoxie und die Freikirchen sind statistisch nicht erfasst; aber es wäre eine große Überraschung, wenn sie nicht mehr oder weniger demselben Trend folgten.
Elektrisierend ist an dieser Prognose, dass sie nicht nur einen demographischen Wandel abbildet, der in einer älter werdenden Gesellschaft unvermeidlich scheint, sondern die schwindende Bindekraft der Kirchen namhaft macht, die an klaren Parametern gemessen werden könne: weniger Taufen, mehr Austritte. Wenn man die heutigen Zahlen hochrechnet, sind diese religiösen und kulturellen Faktoren ebenso stark wie die demographischen.
Insider sind nicht wirklich überrascht: Die Trends zeichnen sich lange ab, und die Soziologie erklärt schlüssig, dass sich in den spätmodernen Gesellschaften Großorganisationen schwertun, Mitglieder zu gewinnen und nachhaltig an sich zu binden. Während die Kirchen kleiner werden, wird keine andere gesellschaftliche oder religiöse Organisation größer, auch der Islam nicht. Im Moment sind die Christinnen und Christen die wichtigste Gruppe, die ethische und personelle Ressourcen für den demokratischen Rechtsstaat liefert; wenn diese Gruppe signifikant kleiner wird, ist ein Alarmsignal gesetzt, auf das nicht nur die Kirchen reagieren müssen, sondern die gesamte Gesellschaft eine Antwort finden sollte.

Widersprüchliche Optionen
So hart die Freiburger Prognose ist, so hart sind auch die Kontroversen, die sie auslösen. Auf der einen Seite wird versucht, die Zahlen zu relativieren. Wird es in vierzig Jahren Parteien wie die CDU/CSU und die SPD oder Organisationen wie den DGB und Firmen wie Mercedes Benz überhaupt noch geben? Sind die Kirchen auch 2060, selbst wenn die Zahlen stimmen, nicht immer noch die größten gesellschaftlichen Organisationen? Ist es nicht eine schicke Idee, die Kirchenmitgliedschaft zu verflüssigen und Sympathisanten, Spender und Koalitionspartner einfach in einem erweiterten Kirchenkreis mitzurechnen?
Auf der anderen Seite werden die Zahlen ernstgenommen – manchmal zu ernst, als seien sie schicksalshaft, unveränderlich und heute schon akut. Dass sie Krisenindikatoren sind, lässt sich schwer leugnen. Allerdings werden sie vollkommen unterschiedlich bewertet. Einige rufen gleich das Ende des christlichen Abendlandes aus oder rechnen mit besorgter Miene zusammen, wie viel Geld die Kirchen verlieren werden, wie viel Macht und Einfluss. Andere freuen sich über die Entwicklung – und zwar nicht nur diejenigen, die meinen, die Kirchen hätten viel zu viele Privilegien, sondern auch diejenigen, die sagen, eine kleine, schlagkräftige Truppe von hundertprozentig Überzeugten, die keine Kompromisse eingehen, sei besser als die Massenkirchen von heute, die sich dem Leitwort „Allen Wohl und niemand Weh“ verschreiben würden.
Den unterschiedlichen Analysen entsprechen widersprüchliche Therapievorschläge. Wo die Zahlen relativiert werden, heißt die Parole: Weiter so, wenn es auch immer schwerer fallen mag, all die kirchlichen Einrichtungen am Leben zu halten, von den Kitas bis zu den Fakultäten, die Gremien und Verwaltungen gar nicht eingerechnet. Wo die Zahlen dramatisiert werden, brechen Panikattacken aus und werden Rückzugsgefechte geplant. Bei einer nüchternen Betrachtung entstehen Überlegungen, was eigentlich das Kerngeschäft und die Zukunftsaufgaben der Kirche sind, wo man Energie einsparen muss und wo eine Konzentration der Kräfte ansteht.

Selbstkritische Kontroversen
Eine Lehre, die viele aus der Studie ziehen zu müssen meinen, lautet, dass die Kirchen zum großen Teil selbst Schuld seien an ihrem Schwund. Man müsse nur klarer das Evangelium verkünden, besser die Sakramente spenden und entschiedener das ethische Profil schärfen, um die Leute wieder mehr an die Kirche zu binden; die kommende Misere sei die Quittung für ein laues Christentum, das niemanden begeistere und sich selbst überflüssig mache.
Tatsächlich gibt es hausgemachte Probleme, die enorm sind. Wäre man Zyniker, könnte man sagen, die katholische Kirche sei immer noch für jeden Skandal gut. Aber die Geschichte des Missbrauchs durch Geistliche ist einfach nur bitter. Nicht nur die Übergriffe, die unter Ausnutzung religiösen Vertrauens begangen worden sind, sondern auch die Vertuschung, die in der Sorge um das Renommee der Kirche und im blinden Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte der klerikalen „Brüder“ organisiert worden ist, haben eine Glaubwürdigkeitskrise ausgelöst, die ihresgleichen sucht. Die zahlreichen Beteuerungen von Bischöfen, erschüttert und beschämt zu sein, sind wohlfeil, wenn sie nicht den Opfern eine Stimme geben und Reue wie Schuldbekenntnis mit der Übernahme von Verantwortung, mit guten Vorsätzen und echter Wiedergutmachung verbinden.
Freilich gehört zur nüchternen Analyse auch, dass Trends durch Skandale nicht ausgelöst, sondern nur verstärkt werden. Es wäre also eine Illusion, zu hoffen, dass durch eine gute Aufarbeitung des Missbrauchsskandals wieder ein Wachstum gegen den Trend entstehen könnte; es ist nur so, dass eine schlechte Aufarbeitung die Abwärtsspirale beschleunigt.

Radikale Reflexionen
Aus dem Klein-Klein der Debatten um Notfallmaßnahmen und aus den apokalyptischen Untergangsphantasien, denen sich sogar Bischöfe hingeben, kommt man nicht heraus, wenn man nicht über den Tellerrand blickt. Das Christentum hat klein angefangen, ist aber groß herausgekommen. Sicher ist es leichter, klein zu sein und größer zu werden, als groß zu sein und kleiner zu werden. Sicher kann auch keine gute Therapie nach dem Muster copy and paste entwickelt werden. Aber das Neue Testament zu studieren hilft, die Augen für das zu öffnen, was mehr und was weniger ist, was groß und was klein, was stark und was schwach – und wie eins mit dem anderen verbunden ist.
„Small is beautifull“ ist keine christliche Parole – jedenfalls nicht, wenn sie nach Vorgartenidylle klingt. Wenn sie Größenwahn bekämpft, hat sie schon mehr Gewicht. Aber sie kommt bei weitem nicht an die Dialektik des Apostels Paulus heran, der den Korinthern bekennt: „Wenn ich schwach bin, bin ich stark“ (2 Kor 12,10). Nicht, dass er selbst sich immer daran gehalten hätte. Aber er hat Jesus vor Augen: ganz schwach, ganz ohnmächtig am Kreuz – und darin ganz stark, weil voller Liebe und Hingabe. Und er will in diesem Licht sich selbst darstellen: nicht als Showmaster des Evangeliums, nicht als Triumphator des göttlichen Weltgeistes, sondern als Zeuge Jesu Christi, als „Captain“ eines Teams von engagierten Gläubigen, als Architekt eines Kirchenbaus, der auf keinem anderen Fundament als Jesus Christus selbst errichtet wird (1 Kor 3,10-17).
Im Spiegel des paulinischen Schlüsselwortes von starken Schwächen und schwachen Stärken kann eine Gewissenserforschung der Kirchen gelingen, die in die Tiefe geht. Worin sehen sie ihre Stärke, worin ihre Schwäche? Wo ist ihre Stärke schwach, und wo ist ihre Schwäche stark? Es wäre viel zu einfach, all die kirchlichen Einrichtungen, die seit langem aufgebaut und im Zeichen sprudelnder Einnahmen stark ausgebaut worden sind, als vermeintliche Stärken zu sehen, die in Wahrheit Schwächen sind und nun getrost als Ballast über Bord geworfen werden können. Denn die kirchlichen Krankenhäuser und Schulen, die Jugendzentren und Sozialdienste, die internationalen Solidaritätsprojekte, die alle von der Kirchensteuer, aber auch von erheblichen staatlichen Zuschüssen leben, wären ja gar nicht entwickelt worden und würden gar nicht nachgefragt werden, wenn sie nicht auf gesellschaftliche Bedürfnisse reagierten und einem genuin christlichen Antrieb folgten, werde er nun mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder mit der Bergpredigt vor Augen geführt.

Praktische Konsequenzen
Nach Paulus ist es stark, eigene Schwächen nicht zu verstecken. Es ist schwach, eine Stärke zu markieren, die es nicht gibt. Stark ist das eine und schwach ist das andere nicht nur, weil es gut ist, demütig zu sein, wenn man Macht hat und um die Gefahr der frommen Heuchelei weiß. Stark ist das eine und schwach ist das andere, weil die Geschichte, die das Christentum erzählt, eine Geschichte auf Leben und Tod ist.
Deshalb ist es in der gegenwärtigen Krise zuerst stark, die eigene Schwäche nicht zu kaschieren, auch wenn sie sich hinter glänzenden Fassaden verbirgt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in den evangelischen und den katholischen Kirchen schwerfällt, in einfachen und klaren Worten, in überzeugenden und überzeugten Beispielen die große Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen, die in der Bibel erzählt wird, als eine Geschichte zu erzählen, die sich heute ereignet und die heute fortgeschrieben werden kann: von und mit den Menschen von heute. Hier liegt ein Schlüssel: nicht in einem Evangelium zu herabgesetzten Preisen, aber in der Chance, jenseits falscher Selbstverständlichkeiten die Sprache, die Gesten, die Zeichen des Glaubens neu zu buchstabieren.
Das Ergebnis wird Wachstum sein – wenn Gott es will. Aber Wachstum so, wie Paulus es gesehen hat: als inneres Wachstum, das sich nicht zu verstecken braucht und deshalb auch von anderen gesehen werden kann, die dann entscheiden können, ob sie mitwachsen wollen oder nicht. Auch in volkskirchlichen Zeiten waren es immer qualifizierte Minderheiten, die der Kirche Leben eingehaucht haben, ob man an die Orden denkt oder an die Mütter, die sich um die Erziehung ihrer Kinder gekümmert haben.
Bei schrumpfenden Zahlen und geringer werdenden Einflüssen wird dies die Schlüsselfrage sein: Wer macht aus weniger mehr – mehr Glaube, mehr Liebe, mehr Hoffnung? Gerne stellvertretend für andere, ungern gegen die Mehrheit. Mit allen Menschen guten Willens zu koalisieren, ohne sie zu vereinnahmen, und mit ihnen zu sprechen, um mit ihnen zu lernen: das wäre eine Einstellung, die auch heute, da die Kirchen noch für einige Zeit in der Mehrheit sein werden, an der Zeit wäre, und die dann helfen kann, die nötigen Umbrüche nicht nur zu erleiden, sondern auch zu gestalten.

Thomas  Söding

Thomas Söding ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum. Er war von 2004 bis 2014 Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission im Vatikan und ist u. a. Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

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