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Die Chancen der Krise und die Krise der Chancen

Forum - Die Chancen der Krise und die Krise der Chancen
Missbrauchsskandal, Mitgliederschwund, Vertrauensverlust: Es steht nicht gut um die katholische Kirche in Deutschland © Lars Fröhlich/Funke Foto Services

Der Apostel Paulus hat der Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass der Glaube in Freiheit gelebt wird. Über die Verfassung der katholischen Kirche.

Thomas Söding 01.04.2023

Im Journalismus gilt: „Bad news are good news.“ Wenn es nach dieser Devise ginge, müsste die katholische Kirche zufrieden sein. Aber das wäre blanker Zynismus. Schlagzeilen machen der Missbrauchsskandal, der Mitgliederschwund, der Vertrauensverlust. Die katholische Kirche ist in einer schlechten Verfassung. Den Schaden haben die Menschen, die unter Korruption und Führungsschwäche leiden. Sie haben einen Anspruch darauf, dass die Chancen genutzt werden, die in der Krise stecken.

Die Gesellschaft hat von schwachen Kirchen gar nichts. Der katholische Glaube, der nicht weniger als der evangelische die Kultur des Landes beeinflusst, schwächelt, muss sich aber wieder öffnen, wenn das Christentum mit allen Menschen guten Willens Koalitionen eingehen will, um seine zivilisatorische Kraft zu entfalten. Ein „Weiter so“ führt auf den Holzweg. Zu einer echten Beichte gehören die Gewissenserforschung, die Reue, das Sündenbekenntnis, die Buße und die Besserung. All das ist hoch an der Zeit – auch für die Institution Kirche, nicht zuletzt für das Amt.

Der Realität ins Auge sehen

Die aktuelle Formkrise der katholischen Kirche ist eine Strukturkrise. Megatrends wie Individualisierung und Säkularisierung lassen sich nicht stoppen – zumal sie vielfach verleugnete Kinder des Christentums sind, das dem „Ich“ im Namen Gottes Raum gibt und die „Welt“ als Schöpfung sieht, die „gut“ ist, wie es sieben Mal auf der ersten Seite der Bibel heißt. Lösen lassen sich aber die hausgemachten Probleme. Derzeit werden noch die schlechtesten Prognosen übertroffen, was Kirchenbindung und Glaubenswissen angeht.

Der katholischen Kirche in Deutschland ist nicht vorzuwerfen, dass sie die Augen vor dem Machtmissbrauch durch Geistliche und „Bystander“ verschließt. Immer neue Studien belegen immer wieder den gleichen Sachverhalt: Wahrscheinlich gibt es in der katholischen Kirche nicht mehr Missbrauch als in der Gesellschaft insgesamt; aber es gibt ihn in spezifischer Form – durch die Überhöhung „heiliger Männer“, die ein „göttliches Amt“ ausüben. Der Versuchung, eine Fassade der Heuchelei zu errichten, hinter der sich übelste Gier austoben konnte, sind zu viele erlegen. Die Kirchenverantwortlichen haben den Schutz der „Mutter Kirche“ vor den Schutz der Opfer gestellt.

Inzwischen hat sich viel getan: Präventionsordnungen sind erlassen, Betroffenenbeiräte sind gebildet, Ausbildungsreformen sind angestoßen worden. Dass sich genug getan habe, lässt sich aber schwerlich behaupten. Der Missbrauch ist systemisch; also braucht es auch einen systemischen Ansatz, der den Klerikalismus, die Konzentration der Macht auf Priester, strukturell überwindet. Diese Reform fällt der katholischen Kirche schwer. Gerade in der Neuzeit hat sie auf den Papst, auf Bischöfe und Priester gesetzt, die ihre Identität garantieren sollen, auch ihre Unabhängigkeit vom Staat.

Spannungen in Energie verwandeln

Die Frage, die sich bei einer Reform der katholischen Kirche stellt, lautet, ob sie sich immer noch an die Monarchie als Leitbild klammern oder die Inkulturation in die Demokratie auf ihre Fahnen schreiben will. Um diese Alternative dreht sich der Streit – weltweit und auch in Deutschland.

Wie stark die Kontroversen sind und wie viele Energien sie freisetzen können, zeigt sich beim Synodalen Weg – einem Reformprojekt der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Ausgehend von einer grundlegenden Missbrauchsstudie, die an den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen erarbeitet worden ist, wurden 2019 vier Arbeitsfelder markiert: Macht und Gewaltenteilung, Priesterrollen, Frauenrechte und Sexuallehre. Eine erste Phase ist im März 2023 beendet worden, die Fortsetzung ist beschlossene Sache. Es wird gemeinsam beraten und entschieden.

Der Synodale Weg in Deutschland ist das institutionalisierte Eingeständnis der Bischöfe, nicht aus eigener Kraft die Kirchenkrise meistern zu können – ein dramatischer Vorgang. Andererseits ist der Synodale Weg der organisierte Ansatz, die Ressourcen des Katholizismus besser zu nutzen – ein hoffnungsvoller Aufbruch. Volkes Stimme zu hören und die Zeichen der Zeit zu deuten, die Tradition lebendig fortzuschreiben und die prophetische Stimme der Heiligen Schrift wirken zu lassen – theoretisch geht das in der katholischen Kirche ausgezeichnet, praktisch aber passiert es viel zu selten.

Auf dem Synodalen Weg in Deutschland hat sich gezeigt, wie groß der Reformstau der katholischen Kirche ist – und dass Teamarbeit sowohl in der Anamnese und Diagnose als auch in der Therapie weiter führt als einsame Entscheidungen. Nicht alles ist eine weltkirchliche Frage. Vieles kann in Deutschland selbst erledigt werden. Durch kirchliches Eigenrecht lassen sich Entscheidungsprozesse optimieren, Beteiligungsrechte stärken und Diskriminierungen überwinden. Die Bischöfe müssen liefern – zusammen mit den kirchlichen Gremien. Von denen gibt es in Deutschland eher zu viel als zu wenig, aber bislang haben sie eher zu wenig als zu viel zu sagen. Einiges hat sich bereits getan, das meiste steht noch aus.

Die Verbindungen nutzen

Inzwischen hat Papst Franziskus die ganze katholische Kirche zu einer Weltsynode in Rom eingeladen. Im Oktober 2023 und im Oktober 2024 soll geklärt werden, was eine synodale Kirche ist. Auch Frauen sollen Stimmrecht haben. Katholisch werden Synoden immer mit einem starken Papst, mit starken Bischöfen und starken Pfarrern verbunden sein. Fraglich ist, wie stark sich auch das Kirchenvolk einbringen darf.

Bereits in der ersten Phase, auf Kontinentalsynoden, hat sich gezeigt: Überall wird der Klerikalismus gebrandmarkt; überall werden Frauenrechte eingeklagt; überall wird kritisiert, dass die katholische Kirche Menschen, die nach ihrem Gewissen anders leben, als es offizielle Lehre ist, ausgrenzt, obgleich sie doch beansprucht, eine inklusive Kirche zu sein, eine Kirche für alle.

Dass es nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene Initiativen gibt, Synodalität in der katholischen Kirche nicht nur als bischöfliche Kollegialität zu denken, zeigt eine Verfassungskrise an, die gelöst werden muss. Die katholische Kirche ist dringend darauf angewiesen, die Beratungs- und Entscheidungsprozesse zu verbessern, damit mehr Transparenz und Kompetenz herrschen. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965), das einem Neustart der katholischen Kirche diente, liegt 60 Jahre zurück. Das kirchliche Gesetzbuch ist 1983 erlassen worden, als es noch den Ostblock gab und China nur eine Nebenrolle auf der Weltbühne zu spielen schien. Konzil und Codex wurden von Rom über Jahrzehnte zugunsten der Hierarchie ausgelegt. Das rächt sich. Die Bischöfe verlieren an Legitimität, weil sie für die Vertuschungen verantwortlich sind, die den Machtmissbrauch unter der Decke halten sollten. Die Autorität des Lehramtes schwindet rasant, besonders wenn es sich auf überkommene Sexualvorschriften versteift. Der Zentralismus blüht im Zeitalter der Digitalisierung stark wie nie, kann aber nicht verdecken, wie vergeblich es ist, Einheit als Uniformität bestimmen zu wollen.

Die Reformen angehen

Auf synodalen Wegen werden keine Revolutionen ausgerufen, sondern Reformen beschlossen. Die sind in der katholischen Kirche nicht nur nötig, sondern auch möglich. Es muss allerdings das Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen, das Volk Gottes. Den Primat hat Jesus Christus, der es sammelt und leitet – durch foto: rub/marquard den Glauben. Das kirchliche Amt dient diesem Glauben. Wer die Verhältnisse umdreht, um eine lehrende Bischofs- von einer lernenden Volks- und eine herrschende Amts- von einer gehorsamen Basiskirche abzuheben, verkennt genau das, was nottut.

Die Krise generiert Chancen. Das autoritäre Denken hat abgewirtschaftet. Die Selbstverständlichkeit, mit der man Loyalität eingefordert und erwiesen hat, wird vom Selbstbewusstsein abgelöst, die eigenen Charismen, die Talente des Glaubens, einzubringen. Von den Verantwortlichen wird erwartet, dass die Persönlichkeitsrechte geachtet und die Eigeninitiativen anerkannt werden. Wo diese Erwartung enttäuscht wird, nimmt man sich die Freiheit, zu gehen. Das katholische Kirchenrecht lässt Raum für diese neuen Formen engagierten Glaubens – muss aber nachgeschärft werden, damit sie nicht vom Wohlwollen eines Pfarrers oder Bischofs abhängen, sondern einer klaren Ordnung entsprechen. Hier ist viel zu tun.

Die Chancen der Krise offenbaren allerdings auch eine Krise der Chancen. Sie entsteht weltweit dort, wo die Sorge um die katholische Identität gegen die kritische Zeitgenossenschaft ausgespielt wird. So groß aber die Widerstandskraft der Kirche in einem diktatorischen Land wie China sein muss, so wenig ist dort schon eine „Diktatur des Relativismus“ (Joseph Ratzinger) zu sehen, wo Pluralismus herrscht. In Deutschland gibt es nach wie vor eine starke Minderheit unter den Bischöfen, die meinen, von Amts wegen an der Sakralmacht festhalten zu müssen. Sie haben es geschafft, mit römischer Unterstützung das Reformtempo auf dem Synodalen Weg in Deutschland zu drosseln – die Richtung werden sie kaum verändern. Die meisten Bischöfe haben verstanden, dass sie sich an synodale Ordnungen binden müssen.

Die Verfassungskrise, in der die katholische Kirche steckt, schadet der Ökumene, sie tut auch der Gesellschaft nicht gut. Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, deren internationale Beziehungen für Frieden, Entwicklung und Gerechtigkeit wichtig sind. Zu große Staatsnähe wird ihr so schnell nicht vorzuwerfen sein. Der Apostel Paulus hat der Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass der Glaube in Freiheit gelebt wird (Galater 5, 1). Jesus hat ihr mit auf den Weg gegeben, dass die Liebe zu Gott mit dem Samariterdienst der Nächstenliebe vereint sein muss (Lukas 10, 25–37). Beides muss die Kirche verkünden – und mit der Umsetzung bei sich selbst anfangen.

Thomas  Söding

Thomas Söding ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum. Er war von 2004 bis 2014 Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission im Vatikan und ist u. a. Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

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