Titelthema
Dieser Weg auf den Höh’n

Wie der Rennsteiglauf Jahr für Jahr Tausende Läufer und Wanderer in den Thüringer Wald lockt.
Schnee mitten im Mai! Am Großen Beerberg, den die Supermarathonläufer und „Halbmarathonis“ passieren, liegen tatsächlich ein paar weiße Flecken. Punktgenau und schon Tage vorher vorausgesagt von Christopher Gellert. Allerdings sind sie nicht vom Himmel gefallen. Der Chef des Rennsteiglaufes hat eine kleine Ladung aus der Oberhofer Skihalle herauftransportieren lassen. Ein Frau-Holle-Spaß auf knapp 1000 Metern über Normalnull als Reverenz an die Skiregion Thüringer Wald. Und zugleich so viel mehr.
Denn der Schnee knipst die Erinnerung an. Lenkt für ein paar glückliche Momente ab von zwickenden Muskeln und rebellierenden Beinen nach dem endlosen Anstieg. Weil die Läuferseele Bilder aus dem Gedächtnis holt. Weißt-du-noch-Geschichten von Wetterkapriolen, von Starts hart an der Grenze zum Gefrierpunkt. Und von Hitzeschlachten mitten im Thüringer Gebirge. Nahezu jeder kennt eine solche Erzählung. Rennsteigläufer sind Wiederholungstäter.
Mit der Lochkarte durch den Wald
16.000 sind in diesem Jahr auf den verschiedenen Strecken dabei. Rund 1500 von ihnen haben als registrierte Traditionsläufer mindestens 25 Starts in den Beinen. Rennsteig-Treue über ein Vierteljahrhundert. Fragt man sie nach dem Warum, sagt Supermarathon-Siegerin Daniela Oemus: „Es ist ein Stück Heimat.“ Mathias Schulze verweist auf den Zieleinlauf: „Der ist unbeschreiblich. Das lässt sich nicht weitergeben.“ Es klingt fast entschuldigend. 40 Jahre lang ist Schulze den Supermarathon gelaufen. 40 Jahre ohne Pause. Ein Maximalist des Rennsteigs. Und ein Minimalist des Trainings. Mehr als 30 Kilometer umfasst sein wöchentliches Pensum nicht.
Inzwischen ist er umgestiegen auf die Marathonstrecke. Auch hier, mit 68, bleibt er ein Autopilot des Dabeiseins. Und damit wie Tausende andere einer, der die Seele des Laufes verkörpert. Die sportliche Interpretation von Oscar Wildes Erkenntnis, wonach das Außergewöhnliche der Welt ihren Wert gibt, das Durchschnittliche aber ihren Bestand. Schulze, der den Mitgliedsausweis des Rennsteiglaufvereins in der Tasche trägt, ist ein solcher Bestandsläufer. Einer der Lauf-Garanten, ohne die es das Phänomen Rennsteig nicht gäbe.
Rennsteiglauf, das war ein bisschen Abenteuer in der DDR. Ein Strich gegen die Konvention. Startbahn für Ausdauernde ebenso wie für Draufgänger. In den Anfangsjahren, organisiert von Jenaer Studenten um Hans-Georg Kremer, den legendären Urvater des Laufes, lief die Organisation ohne das Zutun des Sportbundes DTSB. Bis Manfred Ewald auf eine Beschränkung der Starterzahlen drängte. Dem obersten DDR-Sportchef war der Massenauflauf im Thüringer Wald suspekt. Schon Ende der 1970er Jahre standen mehr als 7000 Läufer am Start.
Ein reines Ost-Phänomen ist der Rennsteiglauf nicht. Dafür ein grandioses Freilufterlebnis, größter Cross-Lauf Europas, mehrmals gewählt zum Marathon des Jahres. Der grüne Gegenentwurf zu den bisweilen austauschbaren Stadtläufen auf grauem Asphalt. „Ich habe den Lauf einfach nur genossen“, sagt die diesjährige Ma rathon sie ge rin Yvonne van Vlerken im Ziel. Die einstige Weltklasse-Triathletin aus den Niederlanden feiert ihre Premiere auf dem Rennsteig: „Es ist so schön, hier durch den Wald zu laufen und einmal nicht immer nur mit der Uhr beschäftigt zu sein.“
Der Lauf hat auf bemerkenswerte Weise die Hürde zwischen Vergangenheit und Zukunft gemeistert. Hat es geschafft, sich treu zu bleiben und dennoch modern zu sein. Schon 1978 werden die Starter elektronisch erfasst – per Lochkarte und mit einem im Kombinat Robotron Zella-Mehlis entwickelten Mikrorechnersystem. An fünf Kontrollpunkten mussten die Läufer ihre Karte per Lochzange selbst abknipsen. Inzwischen erledigt die Zeitmessung wie bei allen großen Läufen ein Chip.
Haferschleim und Wurstbrot
Mit seinen unzähligen Helfern aus den Vereinen entlang der Strecke, die sich zwischen den Startorten Eisenach und Neuhaus auf rund 120 Kilometer summiert, strahlt der Rennsteiglauf noch immer einen ganz eigenen Duft aus. Den von Tannennadeln und Moos und den von Wurstbrot und dem berühmten Haferschleim an den Verpflegungsstellen. Den Charme der Provinz, ohne provinziell zu sein. „Unglaublich, ich finde niemanden, der etwas zu kritisieren hat“, sagt Barbara Thériault. Die Soziologie-Professorin aus Montreal fängt beim diesjährigen Lauf die Stimmung unter den mehr als 25.000 Aktiven und Besuchern ein. Jürgen Lange, seit zwei Jahrzehnten als Präsident der Mann an der Spitze des Rennsteiglaufvereins und diesmal als Halbmarathonläufer selbst am Start, gesteht lächelnd: „Ich staune immer wieder selbst, wie wir das jedes Mal hinkriegen.“
Der nach der Wende gegründete Rennsteiglaufverein, der über 1000 Mitglieder zählt, ist mehr als ein Verein. Er ist eine Interessengemeinschaft Gleichgesinnter zwischen Ostsee und Alpen. Bis heute verpflichten sie keine Stars, zahlen keine Antrittsgelder. Umgekehrt zieht es das ein oder andere Lauf-Ass – in diesem Jahr etwa Marathon-Olympiastarterin Laura Hottenrott – auf den Rennsteig. Ein Start, erst recht ein Sieg, gilt als Ritterschlag in der sportlichen Vita. Im Schmiedefelder Ziel, dem sprichwörtlich schönsten der Welt, treffen sie alle zusammen: die Super- und Halbmarathonläufer, aus Eisenach beziehungsweise Oberhof im Westen kommend, und die Marathonläufer aus Neuhaus im Osten, wo 3000 am Start sich unterhaken, erst das Rennsteiglied singen und dann gemeinsam den Schneewalzer schunkeln.
Der Sieger empfängt den Letzten
Dieser Weg auf den Höh’n lässt sie einfach nicht los. Und auch nicht diese besondere Stimmung im Schmiedefelder Ziel. Die sich noch einmal potenziert im Festzelt, inzwischen zur massiven Halle ausgebaut. Abends um sechs geht’s los. Doch schon nachmittags um vier sind sämtliche Plätze, es sind 2000 bis 3000, belegt. Dann sind alle mittendrin – vom Vereinspräsidenten bis zum Letzten der 74-Kilometer-Läufer, der traditionell im Ziel vom Sieger empfangen wird. Wenn die Partyband Hess aufspielt, stehen sie trotz zwickender Waden wie eine Wand auf den Bänken und spüren, dass dieser Rennsteiglauf mehr ist als Europas beliebtester Landschaftsmarathon. Er ist ein einmaliges Gefühl.

Axel Eger war Sportredakteur, Lokalchef und Chef vom Dienst der „Thüringer Allgemeinen“ in Erfurt. Als Freizeitläufer hat er – von Halbmarathon bis Marathon, von Staffel- bis Etappenlauf – 35 Starts auf dem Rennsteig absolviert.
© Frank Arnold