https://rotary.de/kultur/traenen-der-freude-a-25839.html
Titelthema

Tränen der Freude

Titelthema - Tränen der Freude
Die Soccer- und Kunstkirche im St. Josefshaus in Wettringen mit 9 x 18 Meter großem Indoor-Fußballplatz © Kirche in Wettringen

Mit der Musik von Bach lassen sich 275 Jahre nach seinem Tod weltweit die Kirchen füllen – auch in Malaysia. Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte voller Gänsehautmomente

01.09.2025

"Ohne Johann Sebastian Bach wäre der Protestantismus ein Irrtum." Arno Lückers Bonmot mag überspitzt klingen. Aber was es auf jeden Fall ist: hochaktuell! Denn Hand aufs Herz: Wie sähen die Besucherstatistiken der lutherischen Kirchen, ja überhaupt der Kirchen hierzulande aus, würden Bachs Passionen, das Weihnachtsoratorium oder seine Kantaten nicht Jahr für Jahr zuverlässig die Kirchenschiffe füllen? Wohlgemerkt: Musik, die zehnmal älter ist als die der Beatles, aus einer uns heute wirklich fremden Welt. Und überhaupt: Wie hielten wir’s mit der Religion, gäbe es die Kirchenmusik nicht, die zahllosen Laienchöre, die die Schäfchen samt Angehörigen am Ende eben doch noch halbwegs regelmäßig im Gotteshaus an- und auftreten lassen – und sicher nicht nur mich von der Überlegung immer wieder Abstand nehmen lassen, meine Kirchensteuer gewisser Ursachen halber künftig anderswo heilsbringend zu investieren.

Ein Vertrauter Papst Benedikts verriet mir einmal, was Seine Heiligkeit auf die Frage geantwortet habe, worum er die Protestanten am meisten beneide: "Drei Dinge: die Kirchenmusik, die Choräle, Johann Sebastian Bach." Und weil sich letztlich alle drei in dem einen Bach aufs Beste vereinen, möchte man fast ergänzen: die originärste Dreieinigkeit, die die Lutheraner für sich beanspruchen können. Und: ihr fraglos erfolgreichstes Exportprodukt.

2025, bach, sting, Leipzig, bach-grab, michael maul, dominic miller
Michael Maul (Mitte) mit dem britischen Sänger und Komponisten Sting (rechts) sowie Gitarrist Dominic Miller am Bach-Grab © Christian Kern/Bach-Archiv Leipzig

Denn aus der globalen Perspektive ist die Erfolgsgeschichte Bach noch erstaunlicher. Auf den großen Streaming-Plattformen ist er der mit Abstand am meisten abgerufene Komponist. Und der Spruch von Mauricio Kagel: "Nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle an Johann Sebastian Bach", bewahrheitet sich regelmäßig – und tatsächlich genreübergreifend. Als im letzten Jahr unter den Gästen unseres jährlichen Leipziger Bachfestes als einer unter fast 80.000 aus über 50 Ländern mal eben die Rock-Ikone Sting auftauchte und andächtig in der Thomaskirche Bach lauschte, bekannte er mir hinterher am Bach-Grab: Sein idealer Tag beginne damit, dass er auf der Gitarre ein paar Sätze aus einer Cellosuite von Bach spielt. Und sein festes Ritual an den Weihnachtstagen: das Versinken in eine Bach-Passion (sic!). Sprach'’s und tätschelte dabei sanft die Grabplatte seines Komponisten-Gottes.

Tatsächlich: Ich kenne keinen Musiker, der in so vielen unterschiedlichen Gattungen so viele Achttausender hinterlassen hat. Manche Passagen bei Bach sind reine Jam-Sessions – kein Wunder, dass auch die größten Jazzer sich auf Bach als ihren Big Daddy berufen. Es gibt zu seiner Musik Adaptionen in alle Richtungen, und sie funktionieren verlässlich. Weil die Substanz so stark ist! Bachs einzigartige Vielstimmigkeit und schier grenzenlose harmonische Wanderschaft bieten zugleich endlose Optionen, sie zu hören, sie zu verstehen. Und so führen viele Wege zu Bach – und ist man einmal bei ihm angekommen, will man nicht mehr weg.

Aber warum hat auch Bachs Kirchenmusik das geschafft, was wir heute auf so vielen Feldern als eine Utopie ansehen: das Überwinden von riesigen zeitlichen, geografischen und weltanschaulichen Grenzen? Gerade diese Musik, die sich damals – als Gebrauchsmusik – an eine kleine lokale lutherische Gemeinde richtete und mit deren Texten selbst wir Muttersprachler uns heute ausgesprochen schwertun?

Eine Antwort finde ich in Kuala Lumpur, wo ich diesen Artikel gerade schreibe. David Chin, ein Mittdreißiger, feiert hier derzeit unter dem Motto "Bridging Bach" das zehnjährige Bestehen seines "Bachfests Malaysia" – einer Institution, die wohlgemerkt ohne jegliche öffentliche Förderung auskommen muss, denn Malaysia ist muslimisch regiert. Aktivitäten, die auf christliche Kirchenmusik abzielen, werden bestenfalls geduldet.

In einer Podiumsdiskussion zu Beginn des Festivals spreche ich mit David. Er berichtet von seiner ersten Begegnung mit der Matthäuspassion vor gut 15 Jahren. Zunächst hätten ihn nur die Klänge fasziniert. Dann aber habe er begriffen – und nun wird er hochemotional: "This music is not only about what happened back in Golgatha. It’s about me, meine Sehnsüchte und mein Scheitern. Und dabei nimmt mich Bach tröstend in den Arm, wischt mir meine Tränen ab und stärkt das Gute in mir!"

Die Aufführung der Matthäuspassion zwei Tage später löst das vollmundige Versprechen ein: 1000 Zuhörer und die Aufführenden bieten ein repräsentatives Bild des Melting Pots Malaysia: Christen, Hindus, Buddhisten, Muslime. Alle folgen gebannt der Musik und dem Text, der in Echtzeit in Deutsch, Englisch und Mandarin an die Wand gebeamt wird. Die meisten hören das Stück zum ersten Mal. Ich sehe Emotionen, Tränen der Trauer und der Freude. Und: Alle gemeinsam erheben sich zu den Chorälen, singen sie lauthals mit, ein jeglicher in seiner Sprache.

Ich habe Gänsehaut, es fühlt sich an wie das Pfingstwunder, weil wir uns in diesem Moment alle verstehen, eins sind in Bach und uns augenscheinlich alle bei "Ich bin’s, ich sollte büßen", bei "Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnle finden" und bei "Wenn ich einmal soll scheiden" darauf besinnen, was uns vereint: Wir sind Menschen mit Stärken und Schwächen, die gut daran tun, sich immer mal ins Gewissen reden zu lassen, zumal in einem so zauberhaften Gewand, wie es Bachs Noten weben.

Jedenfalls bin ich mir heute mehr denn je sicher: die Erfolgsgeschichte Bach ist kein rezeptionsgeschichtlicher Zufall oder bedingt durch geschickte Influencer. Sie ist real und Bachs Musik, komponiert "soli Deo gloria", tatsächlich auch ein Geschenk an die ganze Menschheit. Denn sie scheint zu dem, was die biblische Botschaft sein will – eine göttliche, die Menschen vereinen und nicht spalten will –, den äquivalenten und zugleich wunderschön klingenden Soundtrack zu liefern. Einen, dessen Wirkung Worte allein wohl nie erreichen würden.

Mir fallen die klugen Worte ein, die uns der emeritierte Papst Benedikt XVI. 2021 zum damaligen Bachfest – es stand unter dem Motto "Erlösung" – ins Geleitwort geschrieben hat: Bachs Musik "hat keine missionarische Absicht, der ‚Wohlgeruch‘ wird absichtslos um seiner selbst willen gegenwärtig und verbreitet gerade so die 'Ehre Gottes'. Und so dürfen wir uns alle, Christen wie Nichtchristen, Gläubige wie Nichtgläubige, dankbar von der Schönheit berühren lassen, wissend, dass sie uns den rechten Weg weist."


Prof. Dr. Michael Maul ist Intendant des Bachfestes Leipzig und Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit vielen Jahren ist er auf der Suche nach unentdeckten Bach-Schätzen in mitteldeutschen Archiven und machte dabei spektakuläre Entdeckungen.